Eine Stadt nimmt Formen an
Würde Christian Weuste, nach dem heute eine Straße in Holthausen benannt ist und dessen Grabstein auf dem alten Teil des Altstadtfriedhofes steht, heute durch Mülheim gehen, würde er die Stadt nicht wiedererkennen. Als der damals 33-jährige Verwaltungsbeamte, aus Krefeld kommend, 1822 sein Amt als Bürgermeister Mülheims antrat, war die Stadt noch ein Dorf, in dem rund 15.000 Menschen lebten.
Der von der Bezirksregierung ernannte Bürgermeister hatte kein eigenes Rathaus. Seine Wohnung an der Delle war auch sein Amtssitz. In der Stadt an der Ruhr fehlte es an fast allem. Schulen hatten ebenso Seltenheitswert wie befestigte Straßen. Weuste packte an. Er ließ die heutige Eppinghofer Straße anlegen und den durch die Stadt fließenden und als Abwasserkanal missbrauchten Rumbach überbauen.
Mit Hilfe einer Aktiengesellschaft konnte 1839 die heutige Aktienstraße gebaut werden. Sie war für den Kohlentransport ebenso wichtig wie die 1838 eingerichtete Sellerbecker Pferdebahn und der 1839 an der Ruhr angelegte Hafen. Unter Weustes Regie bekam Mülheim 1842 eine Stadtsparkasse und ihr erstes Rathaus. Auch der spätere Rathausmarkt hat in Weustes Amtszeit seinen Ursprung. Und mit der 1844 eröffneten Kettenbrücke konnten die Mölmschen erstmals die Ruhrseiten wechseln, ohne auf die Schollsche Fähre warten zu müssen.
Auch das Schulwesen nahm unter seiner Führung einen regen Aufschwung. In den 1830er Jahren ließ er eine Höhere Bürgerschule und eine Höhere Töchterschule errichten. Allein in der Innenstadt gab es damals fünf Elementarschulen und insgesamt 16 Schulen. Die letzten fünf Jahre seiner Amtszeit stand er bis 1852 an der Spitze der gegen seinen Willen von der Stadt abgespaltenen Landbürgermeisterei. Weuste starb 1862 und erlebte noch die erste Eisenbahnfahrt in Mülheim.
Kurz, aber erhellend
Obwohl Wilhelm Oechelhäuser nur fünf Jahre, von 1851 bis 1856, als Bürgermeister an der Spitze der Stadt Mülheim stand, hat er in seiner Amtszeit wichtige Impulse für die Entwicklung der Stadt gegeben.
Unter seiner Führung wurde das örtliche Schulwesen weiter ausgebaut. 1852 ließ er die Höhere Bürgerschule zu einer Realschule ausbauen und gliederte ihr eine Höhere Töchterschule an. Das waren die Keimzellen der heutigen Karl-Ziegler und der Luisenschule.
Außerdem sorgte der aus Siegen stammende Kaufmann und Volkswirt als Bürgermeister dafür, dass die Stadt mit den ersten Gaslaternen erleuchtet wurde. Eine öffentliche Beleuchtungsform, die bis 1961 auf Mülheims Straßen für Licht in dunklen Stunden sorgen sollte. Offensichtlich nutzte Oechelhäuser die entsprechenden Verhandlungen, die der Einführung der ersten Mülheimer Straßenbeleuchtung vorausgingen dafür, um seinen Wechsel in die freie Wirtschaft vorzubereiten. Den vollzog er, wohl auch des besseren Verdienstes wegen, 1856 mit dem Eintritt in das Direktorium der in Dessau ansässigen Continental-Gasversorgungsgesellschaft.
Obwohl Mülheim in den 1850er Jahren noch von der Ruhrschifffahrt geprägt war und viele Mülheimer als Kohlenschiffer oder Werftarbeiter an der Ruhr ihr Geld verdienten, stellte Oechelhäuser die Weichen in Richtung Eisenbahn. Indem er für entsprechende Investitionen in den Ausbau der Infrastruktur sorgte, sicherte er Mülheim den 1862 vollzogenen Anschluss an das Eisenbahnnetz. Schon damals mussten die Mülheimer erleben und erleiden, was das Wort Strukturwandel bedeutet.
Denn mit dem Siegeszug der Eisenbahn ging ein Niedergang der Ruhrschifffahrt einher. Oechelhäuser zog später auch noch in den Reichstag ein. Er starb 1902 im Alter von 82 Jahren.
Mölmsches Eigengewächs an der Stadtspitze
Karl Obertüschen war ein Mülheimer Eigengewächs im Rathaus. Er wurde am 23. Februar 1828 als Sohn eines Färbers geboren. Nach seiner Schulzeit ließ er sich zum Gerichtsassessor ausbilden.
Als die Bezirksregierung am 24. April 1857 seine Wahl zum Bürgermeister bestätigte, war er gerade mal 29 Jahre alt. Gleich drei Mülheimer Vereine wetteiferten darum, dem neuen Bürgermeister am Vorabend seines Amtsantrittes ein Festmahl auszurichten. Und da man sich nicht auf eine gemeinsame Veranstaltung einigen konnte, fanden am 19. Mai 1857 gleich drei Festessen zu Ehren des neuen Bürgermeisters statt.
Um keinen seiner Mitbürger vor den Kopf zu stoßen, zeigte Obertüschen kulinarische Kondition und nahm an allen drei Festessen teil. Schon mit dieser Geste bewies er, dass er ein Mann des Ausgleichs war. Seine Zeitgenossen bescheinigten Obertüschen, dass die Stadt unter seiner Führung eine ruhige und stetige Entwicklung genommen habe. Er setzte vor allem die Bemühungen seines Vorgängers Oechelhäuser fort, dass Schulwesen auszubauen und unter Aufsicht der Stadt zu reformieren. Damit stieß er bei den Kirchen allerdings auf Widerstand. Sie wollten sich nicht in ihre konfessionellen Volksschulen hineinregieren lassen. Erst als die preußische Regierung im politisch motivierten Kulturkampf gegen die katholische Kirche und die katholische Zentrumspartei 1872 ein neues Schulaufsichtsgesetz in Kraft setzte, wurde auch die Position der Stadt und ihres Bürgermeisters gestärkt.
Denn bis dahin wollten die Pfarrer den Vorsitz in der städtischen Schulkommission nicht abgeben. Als es 1870/71 zum Krieg zwischen Frankreich und den deutschen Staaten kam, machte sich Obertüschen als Vorsitzender zahlreicher Hilfsorganisationen einen Namen. Doch schon zwei Jahre nach dem Krieg starb er am 5. Mai 1873.
Der erste Oberbürgermeister
Wer heute mit der U-Bahn-Linie 18 fährt, kommt an der Von-Bock-Straße nicht vorbei. Sie erinnert seit 1914 an den ersten Oberbürgermeister Mülheims.
Der 1840 in Mainz geborene Karl von Bock und Polach machte eine für seine Zeit nicht ungewöhnliche Karriere. Nach seinem Abschied aus dem Militärdienst, trat er 1868 in die Verwaltung ein.
Als Amtmann aus Herne kommend, wurde von Bock 1879 von den Stadtverordneten einstimmig ins Amt gewählt. Dass die Ratsherrn ihre Entscheidung auch später nicht bedauert haben, beweist seine Wiederwahl im Jahr 1891.
Gleich im ersten Amtsjahr initiierte das Stadtoberhaupt die Gründung eines Verschönerungsvereins, der eine für Mülheim bis heute bedeutende Entscheidung auf den Weg brachte. Denn auf dem Areal des 1877 zugeschütteten Ruhrhafens, begann man 1880 mit dem Bau der Ruhranlagen. Außerdem bekam Mülheim in seiner Amtszeit (1887) eine Volksbücherei, die aus der Zusammenlegung der Lehrer- und der Rathausbibliothek entstand. Auch die erste elektrische Straßenbahn, die 1897 durch Mülheim fuhr und die im gleichen Jahr am Viktoriaplatz errichtete Hauptpost, waren Zeichen des Fortschritts.
Der Aufschwung der Industrie gab dem Bürgermeister starken Rückenwind. 1895 wurde er von der preußischen Regierung aufgrund seiner Verdienste zum Oberbürgermeister ernannt.
Doch die größte Leistung seiner Amtszeit, die mit seinem frühen Tod 1902 abrupt enden sollte, sahen seine Mitbürger wohl in der Tatsache, dass der ehemalige Offizier 1899 das Infanterieregiment 159 in die Stadt an der Ruhr holte und Mülheim so zur Garnisonsstadt werden ließ. Denn das bedeutete im Kaiserreich nicht nur Prestige, sondern brachte auch wirtschaftlichen Wohlstand für den Standort mit sich.
Der Vater der Großstadt
Die Lembkestraße führt heute auf dem Kahlenberg zum Max-Planck-Institut für Kohleforschung. Sie erinnert an den Oberbürgermeister, unter dessen Führung Mülheim zur Großstadt wurde. Nicht nur die 1912/14 gelungene Ansiedlung und Eröffnung des Institutes, das ab 1943 vom späteren Chemie-Nobelpreisträger Karl Ziegler geleitet werden sollte, war ein Coup des Oberbürgermeisters Paul Lembke.
Der aus Mecklenburg stammende Jurist, der zunächst als Landrat in Mülheim wirkte und im Alter von 44 Jahren 1904 zum Oberbürgermeister gewählt wurde, hat vielleicht die deutlichsten Spuren im Stadtbild hinterlassen. In seiner 24-jährigen Amtszeit, die Krieg, Revolution und Inflation überstand. Der Bau des heutigen Rathauses und der Stadthalle fallen ebenso in seine Amtszeit, wie die Eröffnung des Solbades und der Rennbahn am Raffelberg. Mit der Anlage des Speldorfer Hafens und der Einrichtung eines Wasserbahnhofes mit einer Weißen Flotte, knüpfte der politisch wie wirtschaftlich bestens vernetzte Lembke an die alte Schifffahrtstradition Mülheims an. Durch seine geschickte Eingemeindungspolitik bekam Mülheim seine heutige Größe und zählte ab 1908 mehr als 100.000 Einwohner. Für Mobilität in neuen, europäischen Dimensionen sorgten Lembke und seine Mitstreiter ab 1925 mit der Eröffnung des Flughafens. In den 30er Jahren avancierte der Flugplatz mit europäischen Verbindungen zum damals größten Flughafen Westdeutschlands. Dass die Stadt wusste, was sie an ihrem umtriebigen Oberbürgermeister hatte, zeigt die Tatsache, dass er nach seinem Amtsverzicht 1928 zum Ehrenbürger ernannt wurde. Lembke, der nur kurz nach Beginn des 2.?Weltkrieges, am 19. September 1939, starb, musste nicht mehr miterleben, wie Mülheim in der Nacht vom 22. auf den 23. Juni 1943 durch Bomben fast völlig zerstört wurde.
Er organisierte das Überleben der Stadt
Zunächst von der britischen Militärregierung ernannt, war der Schuhhändler Wilhelm Diederichs von 1946 bis 1948 der erste gewählte Oberbürgermeister der Stadt. Bei den ersten Kommunalwahlen der Nachkriegszeit errangen die Christdemokraten unter seiner Führung am 13. Oktober 1946 zum ersten und bisher einzigen Mal die absolute Mehrheit der Ratsmandate. Entsprechend der neuen Kommunalverfassung nach britischem Vorbild war Diederichs kein Verwaltungschef. Doch auch als Ratsvorsitzender und erster Repräsentant der damals hungernden und in Trümmern liegenden Stadt konnte er mit seinem sachlichen und ausgleichenden Führungsstil wichtige Impulse setzen.
Zusammen mit der britischen Militärregierung und engagierten Bürgern, aber auch mit Hilfe des Schwedischen Roten Kreuzes, organisierte Diederichs das Überleben der Stadt. So ging es in seiner Amtszeit nicht nur um prestigeträchtige Projekte. Wie sichern wir die Versorgung mit Wohnraum und Lebensmitteln? Welche Transportmittel stehen uns zur Verfügung? Welche Hilfen brauchen Betriebe, um ihre Arbeit wieder aufnehmen zu können? – Das waren die Fragen, die Diederichs und seine Mitstreiter an der Spitze der Stadt beantworten mussten.
Welche Aufgaben damals bewältigt werden mussten, wird deutlich, wenn man sich vor Augen führt, dass bei Kriegsende etwa ein Drittel aller Wohnungen zerstört waren und 800?000 Kubikmeter Trümmerschutt auf den Straßen lagen. Zudem musste die Versorgung der Flüchtlinge, die damals aus den deutschen Ostgebieten kamen, gewährleistet werden. Hinzu kamen noch die Kriegsheimkehrer, die die Einwohnerzahl der Stadt im ersten Nachkriegsjahr von 88.000 auf 132.000 Menschen ansteigen ließ.Auch nach seiner Amtszeit blieb Diederichs bis 1960 im Rat der Stadt aktiv. Er starb 1964.
Vom Arbeiter zum Oberbürgermeister
Vom Metallarbeiter bei der Friedrich-Wilhelms-Hütte bis zum Oberbürgermeister – dieser Aufstieg beschreibt das Leben des Sozialdemokraten Heinrich Thöne. Die Hürden, die der 1890 in Bocholt geborene und 1971 in Mülheim gestorbene Macher und Malocher überwinden musste, machten ihn stark für schwierige Aufgaben.
Sein Engagement als Gewerkschafter und Sozialdemokrat wurde ihm während des Kaiserreiches ebenso zum Nachteil, wie seine Weigerung, zu Beginn des NS-Regimes dem neuen Reichskanzler Adolf Hitler 1933 die Mülheimer Ehrenbürgerschaft zu verleihen. Der durch die Fronterfahrungen des Ersten Weltkrieges zum Pazifisten gewordene Thöne wurde als Oberbürgermeister der Jahre 1948 bis 1969 zu einer Vaterfigur der Stadt. Thöne, dessen Büro für Rat und Hilfe suchende Bürger immer offen stand, wurde zur Vertrauen einflößenden Galionsfigur für den Wiederaufbau. Sein politisches Credo lautete: „Politische Gegner dürfen niemals zu Feinden werden.“ Ein für den Wiederaufbau symbolträchtiges Bild zeigt ihn im Oktober bei der Wiedereröffnung der Stadthalle mit dem damaligen Bundespräsidenten Theodor Heuss. Unter seiner Führung errangen die Sozialdemokraten Wahlergebnisse, weit jenseits der 50 Prozent, von denen sie heute nur noch träumen können.
Thöne hatte immer alle Bevölkerungsgruppen im Blick. Er förderte die Einrichtung von Jugendheimen und Altentagesstätten gleichermaßen. Ebenso war er unter dem Eindruck der akuten Wohnungsnot der Nachkriegszeit 1951 Motor der Gründung des Sozialen Wohnungsbaus (SWB). Am Ende seiner Amtszeit war Mülheim die erste zechenfreie Stadt des Ruhrgebietes und ging die Aufgabe des Strukturwandels an. So konnte man 1969 etwa die Siemens-Kraftwerk Union nach Mülheim holen.
Die erste Frau an der Stadtspitze
Bevor sie im Juni 1982 zur ersten Oberbürgermeisterin gewählt wurde, war die Sozialdemokratin Eleonore Güllenstern bereits 18 Jahre in der Mülheimer Kommunalpolitik aktiv. 1964 zog die damals 35-Jährige für die SPD in den Rat der Stadt ein.
Als Kulturausschussvorsitzende und später als Bürgermeisterin begleitete sie wichtige kultur-, sozial- und bildungspolitische Weichenstellungen. Mülheim bekam drei Gesamtschulen, seine eigenen Theatertage und wurde Heimat für das heute über die Landesgrenzen hinaus bekannte Theater an der Ruhr.
1984 konnte Güllenstern als OB die britische Queen Elisabeth II. begrüßen, die in Mülheim landete, um ihre in der Region stationierten Truppen zu besuchen. Und 1987 schüttelte ihr der damalige Papst Johannes Paul II. bei seinem Zwischenstopp am Flughafen Essen-Mülheim die Hand. Zu einem Glanzlicht ihrer Amtszeit gehörte auch die auf einer ehemaligen Gewerbe-, Industrie und Brachfläche angelegte Landesgartenschau Müga. Hier entstanden buchstäblich blühende Landschaften, die sie als Gartenschaugelände am 11. April 1992 mit dem damaligen NRW-Ministerpräsidenten Johannes Rau eröffnen konnte.
Außerdem sorgte Güllenstern in ihrer zwölfjährigen Amtszeit dafür, dass Mülheim eine Gleichstellungsbeauftragte und ein Frauenhaus bekam. Hier finden Frauen und Kinder Zuflucht vor häuslicher Gewalt.
Im Sinne der Völkerverständigung und Versöhnung setzte sie in ihrer OB-Zeit neu begründeten Städtepartnerschaften mit dem ehemals deutschen Oppeln, das heute Opole heißt und zu Polen gehört, sowie die Partnerschaft mit dem israelischen Kfar Saba. Nach dem von einer Kredit-Affäre überschatteten Ende ihrer Amtszeit und dem Verlust der absoluten SPD-Mehrheit (1994) engagierte sie sich als Vorsitzende des Kunstvereins und der Deutsch-Israelischen Gesellschaft.
Dieser Text erschien am 8. September 2015 in der NRZ und in der WAZ
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