Sonntag, 31. Dezember 2017

Ist die Kirche eine Moralagentur und soll sie es sein?: Eindrücke eine Veranstaltung im Essener Medienforum

Im Gespräch: Der Religionssoziologe Hans Joas, der Leiter des Seelsorgeamtes
Dr. Michael Dörnemann und die Leiterin des Medienforums Vera Steinkamp
Ist die Kirche eine Moralagentur? Soll sie es sein? Diese Frage, die ihn zu einem seiner aktuellen Bücher inspirierte, diskutierte der Münchener Soziologe und Sozialphilosoph, Hans Joas, (69) jetzt im Medienform mit dem Leiter des bischöflichen Seelsorgeamtes Dr. Michael Dörnemann (48).

"Moral ist nicht der Kern vom Religion", stellte Joas fest. Vielmehr müsse es den christlichen Kirchen um Sinnstiftung, Orientierung und praktizierte Nächstenliebe gehen. Den Grund dafür, dass Kirche in der Öffentlichkeit immer wieder als moralinsaure Institution wahrgenommen werde, "die den Menschen alles verbietet, was Spaß macht", besteht aus Dörnemanns Sicht vor allem darin, dass bestimmte Medien oft ins Groteske verzerrten Kirchenbild zeichneten.

Joas und einige Zuhörer sahen das etwas anders und wiesen unter anderem auf die 1968 von Papst Paul VI. veröffentlichte Enzyklika Humanae Vitae hin. "Sie formuliert ein wunderbares Ethos der Liebe, aber am Ende bleibt das Verbot der künstlichen Verhütung hängen", sagte eine Dame aus dem Publikum. Joas sieht Humanae Vitae als Paradebeispiel dafür, "wie die Kirche ihre eigene moralische Autorität zersetzt, in dem sie Verbote formuliert, die an der Lebenswirklichkeit der Menschen vorbeigehen und deshalb auch von überzeugten katholischen Christen im Alltag ignoriert werden." Die Kirche, so betonte Joas, solle zwar für eheliche Treue und personale Liebe eintreten. Sie müsse aber realistischer weise auch bereit sein, jungen Menschen, auf dem Weg zur großen Liebe des Lebens, sexuelle Experimente zu erlauben.

Zu oft besteht aus der Perspektive des Religionssoziologen eine krasse Kluft zwischen dem Anspruch des christlichen Liebesethos und der rigorosen kirchlichen Praxis im Umgang mit Andersdenkenden. Obwohl Joas betonte: "Ein Rassist kann kein Christ sein", warnte er die Vertreter der christlichen Kirchen davor, sich moralisch über Menschen zu erheben, die den Flüchtlingszustrom in unser Land mit großer Sorge betrachteten. "Die christlichen Kirchen, die für eine liberale Flüchtlingspolitik werben, müssen sich in der öffentlichen Debatte immer auch in die Position der Andersdenkenden hineinversetzen und dürfen deshalb nicht ausschließen, dass auch die Anderen Recht haben könnten."

Pastoraldezernent Dörnemann sieht die christlichen Kirchen von der Gesellschaft als "Moralagenturen gefordert, wenn es um den sozialen Kitt und die Grundwerte unserer Gesellschaft geht." Mit Blick auf die aktuelle Diskussion über verkaufsoffene Samstage im Advent sagte Dörnemann: "Für uns geht es als Kirche dabei nicht um ein Einkaufsverbot, sondern um die Frage nach dem grundsätzlichen Sinn verkaufsoffener Sonntage, die das Familienleben der Mitarbeiter im Einzelhandel massiv beeinträchtigen, obwohl faktisch niemand dazu gezwungen ist nach sechs Werktagen in der Woche ausgerechnet am Sonntag einkaufen zu müssen."

Dieser Text erschien am 9. Dezember 2017 im Neuen Ruhrwort

Samstag, 30. Dezember 2017

Zwei Amerika-Kenner schauten in der Katholischen Akademie auf ein Jahr Donald Trump zurück

Auf dem Podium der Wolfsburg: Ruprecht Polenz (links), Klaus Prömpers (Mitte) und Tobias Hennrix.
Ein Jahr, nachdem Donald Trump zum Präsidenten der USA gewählt worden ist, diskutierten Ruprecht Polenz und Klaus Prömpers mit dem Publikum in der Katholischen Akademie über die Anatomie dieser unerwarteten Präsidentschaft. Beide, vom Akademiedozenten Tobias Hennrix moderierten Gesprächspartner sind bekennende Transatlantiker. Als ehemaliger Vorsitzender des Außenpolitischen Bundestagsausschusses und als ehemaliger USA-Korrespondent des Zweiten Deutschen Fernsehens sind der CDU-Politiker und der Journalist mit der Gesellschaft der Vereinigten Staaten von Amerika bestens vertraut.

Beide Podiumsteilnehmer waren sich in ihrer scharfen Kritik an dem 45. Präsidenten der USA einig. Deshalb wurden sie aus dem Publikum auch kritisch hinterfragt, ob sie als Teil der politischen und medialen Elite nicht ein Zerrbild von Trump zeichneten, und ihn wie eine Karnevalsfigur karikierten. „Wir nehmen Herrn Trump sehr ernst und finden ihn gar nicht witzig“, betonte Polenz. Und Prömpers stellte fest: „Ich glaube, dass die Situation in den USA zurzeit sogar noch gefährlicher ist, als sie derzeit in Deutschland und Europa wahrgenommen wird.“
Polenz räumte ein, dass einige seiner amerikanischen Freunde Trump trotz seiner chaotischen Amtsführung und seiner rassistischen und frauenfeindlichen Aussagen „als einen ehrenwerter Mann“ ansehen. „Allerdings darf man auch nicht vergessen, dass Trump mit 33 Prozent derzeit die niedrigste Zustimmungsquote hat, die ein US-Präsident nach seinem ersten Amtsjahr je hatte“, gab Prömpers zu bedenken. „Auch der ehemalige Schauspieler Ronald Reagan wurde aufgrund seiner extrem konservativen Positionen in Deutschland und Europa sehr kritisch gesehen“, blickte der Journalist, der heute unter anderem aus Ungarn und Österreich berichtet, in die amerikanische Präsidentschaftsgeschichte zurück.

Doch der Unterschied zwischen Trump und Reagan ist aus seiner Sicht, dass der Republikaner Reagan 1981 immerhin mit der politischen Erfahrung eines kalifornischen Gouverneurs ins Weiße Haus eingezogen sei, während mit Trump „ein Immobilien- und Showman ohne politische Erfahrungen“ ins Oval Office eingezogen sei. Mit Blick auf Tumps langjährige und beliebte TV-Lehrlings-Show „The Apprentice“ meinte Klaus Prömpers: „Das wäre so, als wenn die CDU Thomas Gottschalk als ihren Kanzlerkandidaten nominiert hätte. Der deutsche Journalist gab den amerikanischen Medien eine gewisse Mitschuld am Wahlerfolg Trumps, weil sie ihn während des gesamten Wahlkampfes mit seinen extrem polarisierenden Aussagen exponiert in Szene gesetzt hätten. Obwohl es auch in der Bundesrepublik massive Politikerschelte und den Vorwurf der „Lügenpresse“ gebe, sieht Prömpers Deutschland mit seinem öffentlich-rechtlichen Rundfunk und seinen grundsätzlich kooperationsbereiten demokratischen Parteien in einer vergleichsweise stabilen Situation, obwohl er auch hierzulande, ähnliche Populismus-Tendenzen (siehe AFD) wie in den USA sieht.

Für Prömpers spiegelt sich in der Mediennutzung auch die Polarisierung der amerikanischen Gesellschaft wider. Liberale Qualitätsmedien wie CNN, CBS, Washington Post, New York Times. Los Angles Times oder USA Today zeichneten ein kritisches und differenziertes Bild Trumps, während der konservative Fernseh-Sender Fox News oder extrem konservative Radio-Sender und Online-Portale, wie etwa das vom Ex-Trump-Berater Stephen  Bannon geleitete Online-Portal Breit Bart News Network ohne Wenn und Aber die Politik Trumps unterstützten.

Sorge bereitet Ruprecht Polenz vor allem die Krise der Republikanischen Partei, die in den letzten 15 bis 20 Jahren von der rechts-konservativen und radikal-libertären Tea-Party-Bewegung gekapert worden sei. Aber auch die Demokraten sind nach Ansicht von Prömpers, ähnlich wie die SPD, in Deutschland, derzeit ohne konkrete politische Zielvorstellungen unterwegs. „Der Sohn eines amerikanischen Freundes unterstützte im Vorwahlkampf den bekennenden demokratischen Sozialisten Bernie Sanders und stimmte dann nach der Nominierung von Hilary Clinton in der Hauptwahl für Trump“, schilderte Prömpers eine nur auf den ersten Blick absurde Wahlentscheidung. Dass der politisch unerfahrene Trump gegen die als Senatorin und Außenministerin erfahrene Clinton gewinnen konnte, hat aus seiner Perspektive vor allem damit zu tun, „dass Hilary Clinton zu sehe mit der Wall Street verbandelt ist und deshalb eine Symbolfigur des verhassten Polit-Establishments ist, während sich der Milliardär Trump als Anti-Establishment-Kandidat profilieren konnte.“
Aus europäischer Sicht kommt es für Ruprecht Polenz jetzt vor allem darauf an, dass der deutsch-französische Motor Merkel/Marcon die Europäische Union stärken und dynamisieren kann, ohne die weiterhin wichtige Partnerschaft mit den USA aus dem Blick zu verlieren. „Die Vereinigten Staaten von Amerika sind mir als globale Führungsmacht allemal lieber als das kommunistische China“, betonte Polenz.

Und Prömpers wies in diesem Zusammenhang darauf hin, dass Trump bisher von den Gegengewichten des Kongresses und des Obersten Gerichtshofes gebremst worden sei. Ob Trump eine ganze Amtszeit durchhält oder vielleicht sogar 2020 wieder gewählt wird, hängt in Prömpers Augen vor allem davon ab, „ob er die neuen Jobs schaffen kann, die er den Amerikanern versprochen hat.“ Denn die überaschende Wahlniederlage Clintons führt Prömpers vor allem darauf zurück, „dass die Demokraten den Kontakt zu ihren Stammwählern aus der Arbeitnehmerschaft und der weißen Mittel- und Unterschicht verloren haben.“ Doch Trumps aktuelle Steuerreformpläne sieht der ehemalige USA-Korrespondent als kontraproduktiv an, „weil sie nur die Reichen und die großen Unternehmen entlasten und die ohnehin schon hohen Staatsschulden der USA weiter steigern werden.“

Zur Person: Klaus Prömpers wurde 1949 in Düsseldorf geboren. Nach seinem Volkswirtschaftsstudium arbeitete er als Journalist bei der Rheinischen Post, beim WDR, beim Deutschlandfunk und zuletzt beim ZDF. Für das ZDF berichtete er unter anderem aus Bonn, Brüssel, Wien und New York. 2014 wurde er pensioniert. Der zweifache Familienvater ist Mitglied des Zentralkomitees der Deutschen Katholiken.

Ruprecht Polenz lebt in Münster/Westfalen. Der 1946 geborene Jurist war von 1994 bis 2013 Mitglied des Deutschen Bundestages. Dort saß der Christdemokrat von 2005 bis 2013 dem Auswärtigen Ausschuss vor. Im Jahr 2000 berief ihn die Parteivorsitzende Angela Merkel für einige Monate zum Generalsekretär der CDU. Zwischen 1996 und 2006 führte Polenz als Präsident die Atlantische Gesellschaft und gehörte von 2000 bis 2016 dem ZDF-Fernsehrat an. Polenz, der vor seinem Einzug in den Deutschen Bundestag unter anderem als Geschäftsführer der Industrie- und Handelskammer Münster tätig war, engagiert sich nicht nur für die transatlantischen Beziehungen, sondern auch als Präsident der Gesellschaft für Osteuropakunde und als Regierungsbeauftragter im Dialog mit Namibia rund um den deutschen Völkermord an den Herero. Außerdem setzt sich der sehr aktive Facebook-Nutzer für den christlich-islamischen Dialog, für humanitäre Hilfe und für das Technische Hilfswerk ein.

Dieser Beitrag erschien am 9. Dezember 2017 im Neuen Ruhrwort

Freitag, 29. Dezember 2017

Familienstart sucht Ehrenamtliche: Caritas bietet Eltern und Kindern kostenfreie Unterstützung, die nicht umsonst ist: Ein Beispiel

Von links: Marie Brandel, Birgitt Horstmann, Anne Genau
und Katja Arens
Familienstart. Der Name des von Anne Genau koordinierten Caritas-Dienstes ist Programm. Zwölf ehrenamtliche Patinnen haben im 2017 rund 20 Familien begleitet, damit sie durchstarten und Hürden überspringen können.

„Wir könnten mehr Männer und Frauen gebrauchen, die Freude daran haben, mit Kindern umzugehen und Familien zu begleiten“, sagt Genau. Denn zum ersten Mal seit der Gründung des Familienstarts (2006), können die hauptamtliche Caritas-Mitarbeiterin und ihre ehrenamtlichen Kolleginnen nicht alle Anfragen junger Familien befriedigen, die Unterstützung brauchen.
Die 37-jährige Heilerziehungspflegerin Marie Brandel hatte Glück, als sie vor einem Jahr bei Anne Genau nach einer Unterstützung fragte. Denn die alleinerziehende und in einer Offenen Ganztagsschule berufstätige Mutter einer zweijährigen Tochter brauchte eine gute und kinderfreundliche Betreuerin.

„Ich fühlte mich total zerrissen. Denn ich muss schon des Geldes wegen ganztags arbeiten, hatte aber keinen Kindertagesstättenplatz für mein Kind. Und ich wollte meine Eltern, die mir immer wieder aushalfen, auch nicht dauernd einspannen müssen“, erinnert sich Brandel. Doch ihre Verzweiflung verwandelte sich bald in Erleichterung. Denn Anne Genau fand nach einem persönlichen Gespräch die richtige Frau für die alleinerziehende Mutter und ihre kleine Tochter. „Es war Liebe auf den ersten Blick“, erinnert sich Brandel, als Familienpatin Birgitt Horstmann zum ersten Mal mit ihrer Tochter spielte.

„Wir sondieren sehr genau, welche ehrenamtliche Patin zu welcher Familie passt. Ohne gegenseitiges Vertrauen und eine in etwa gleiche Wellenlänge geht es nicht“, unterstreicht Genau.
Zwischen Dezember 2016 und September 2017 überbrückte Horstmann  für Brandel zweimal pro Woche die Zeitlücke, in der ihre Tochter um 14.30 Uhr aus einem Kinderpflegenest abgeholt werden musste und 16.15 Uhr, wenn die Mutter nach ihrem Feierabend in der Offenen Ganztagsschule zu Hause eintraf. „Wir entdeckten zusammen die Welt. Ich habe der Tochter  von Frau Brandel gespielt, Spaziergänge unternommen, Baustellen und Springbrunnen betrachtet. Denn das fand die Kleine besonders spannend“, berichtet Horstmann.

„Frau Horstmann war für mich eine große Hilfe, weil ich meine Tochter bei ihr in besten Händen wusste und deshalb auch in Ruhe arbeiten konnte“, denkt die Heilerziehungspflegerin an die Zeit zurück, bevor sie im September 2017 endlich einen Kindertagesstättenplatz bekam. Vor dem Hintergrund ihrer Erfahrung wünscht sich die alleinerziehende Mutter, dass der Familienstart der Caritas weiterhin genügen ehrenamtliche Paten und Patinnen finden kann. Darüber hinaus hofft sie aber auch eine bessere politische Lobby für alleinerziehende Eltern und den Aus- und Aufbau einer flächendeckenden und möglichst für die Eltern kostenfreie Betreuungsstruktur, um. wie beim Schulbesuch, keine soziale Benachteiligung zu befördern.

Die 72-jährige Mutter und Großmutter  Birgitt Horstmann, die auch beruflich als Sonderpädagogin mit und für Kinder und Jugendliche gearbeitet hat, möchte ihr zeitlich begrenztes Ehrenamt beim Familienstart der Caritas nicht missen. „Der Umgang mit Familien und Kindern ist für mich ein Lebenselixier. Es tut mir gut, eine sinnvolle Aufgabe zu haben, bei der ich mein Wissen und meine Lebenserfahrung einbringen kann“, beschreibt die Familienpatin ihre Motivation, auch weiterhin Familien zu begleiten, die ihre Hilfe brauchen. 

INFO: Die Begleitung durch den Familienstart der Caritas ist für die unterstützten Familien kostenfrei. Das Angebot wird von der Stadt finanziert.

Die Begleitung einer Familie erstreckt sich auf maximal ein Jahr. Die ehrenamtlichen Familienpaten bestimmen den zeitlichen Umfang ihres Einsatzes selbst.

Sie werden durch die hauptamtliche Caritas-Mitarbeiterin Anne Genau (Telefon: 0208-3000 897/anne.genau@caritas-muelheim.de) begleitet und regelmäßig geschult.

Dieser Beitrag erschien am 29. Dezember 2017 in der NRZ und in der WAZ 

Donnerstag, 28. Dezember 2017

Weißer Winter und schwarzer Humor

Das haben die vielen Schlagerschnulzensänger und großmäuligen Fernsehmoderatoren jetzt davon. Ihre penetrant vorgetragenen und vorgesungenen Wünsche nach einer Weißen Winterlandschaft sind (jetzt auch in unserer Stadt) Wirklichkeit geworden.

Doch während sich die Schlagersänger und Fernsehmoderatoren in ihren Studios aufwärmen und sich die Wirklichkeit schön singen und schön reden, müssen wir über Eis und durch Schneematsch unserer Weg gehen, oder besser schleichen, rutschen und stolpern.
Ein guter alter Leser unserer Zeitung rief mich gestern an, um mir erbost von seiner Rutschpartie durch die Innenstadt zu berichten. Er empörte sich dabei vor allem über die Hauseigentümer und Geschäftsleute sowie über die unsichtbaren Mitarbeiter der Mülheimer Entsorgungsgesellschaft (MEG), die es nicht für nötig hielten in der Innenstadt rutschfreie Gehwege frei zu schaufeln und zu streuen. Ich habe ja den Verdacht, dass die so Gescholtenen sich selbst nicht aus dem Haus trauen oder aufgrund der Witterung nicht vom Fleck kommen und stattdessen sich und ihren Mitmenschen mit Gottvertrauen Hals und Beinbruch wünschen.

Dieser Text erschien am 13. Dezember in der Neuen Ruhr Zeitung

Mittwoch, 27. Dezember 2017

Keine falsche Sparsamkeit

Geschenke, Braten, Adventskränze, Christsterne, Kerzen ohne Ende, Stollen, Plätzchen, Weihnachtsdeko. Was haben wir uns nicht wieder in Zeug gelegt. Und schon sind die Weihnachtstage wieder vorbei. Wofür der Aufwand? Wofür die Aufregung? Das fragt sich mancher und überlegt sich: Mit wem soll ich eigentlich Silvester feiern? Und wenn ja, wen lade ich ein? Habe ich genug Sekt im Haus, um auf das neue Jahr anzustoßen? Ist ein Feuerwerk zum Jahreswechsel angesagt oder nur dekadent? Brot oder Böller? Machen wir uns nichts vor. Auch die Beschäftigten der Feuerwerksindustrie sind Menschen, die mit ihrer Arbeit ihr tägliches Brot verdienen. Apropos Brot. Wenn ich zur Silvesterparty einlade, komme ich auch an Brot, Berliner Ballen und diversen Salaten nicht vorbei. Schließlich wollen die Damen und Herrn aus den Bäckereien, Metzgereien und Lebensmittelabteilungen auch ihr Gehalt verdienen.

Und über das Einlösen meines CD- oder Buchgutscheins werden sich die Kollegen aus den Musikabteilungen und Buchhandlungen sicher freuen. Natürlich könnte man nach den Weihnachtstagen auch alleine in asketischer Abgeschiedenheit die Stille genießen. Das wäre auf den ersten Blick das Billigste. Es könnte uns auf den zweiten Blick aber auch teuer zu stehen kommen, wenn wir uns vom Spaß an der Freude verabschieden und uns so nicht nur selbst, sondern auch unserer Wirtschaft eine Depression einhandeln. Also feiern wir lieber. Lassen wir die Korken knallen und die Kassen klingeln. Denn das letzte Hemd hat keine Taschen.

Dieser Text erschien am 27. Dezember 2017 in der Neuen Ruhr Zeitung

Dienstag, 26. Dezember 2017

Jeden Tag eine gute Tat

Ich muss zugeben. Ich bin neugierig. Sonst wäre ich wohl auch nicht Journalist geworden.

Gerade im Advent bin ich gespannt. Von wem bekomme ich zum Beispiel einen adventlichen Gruß? Wer denkt an mich. Jetzt lag sogar ein Paket-Abhol-Schein in meinem Briefkasten. Ich spürte einen Anflug kindlicher Vorfreude in mir aufsteigen.

Das hatte ich schon länger nicht mehr erlebt. Ein Päckchen in der Vorweihnachtszeit. Na, das ist doch mal eine schöne Überraschung. Jemand denkt an mich und schickt mir ein kleines Geschenk. Was es wohl ist? Ein gutes Buch? Selbstgebackenes zur Weihnachtszeit oder etwas anderes Süßes?

Freudestrahlend reichte ich der Dame am Postschalter meine Karte und sie hatte auch gleich das Päckchen für mich zur Hand. Doch der Blick auf den Absender zerstörte alle meine Erwartungen und zerstörte meine Illusionen. Das Päckchen kam von meiner Steuerberaterin und enthielt Unterlagen für das Finanzamt.

Von wegen beschenkt werden. Vater Staat will etwas von mir. Aber als gewissenhafter Steuerzahler und Staatsbürger gibt man ja gern, wenn es denn bloß für einen guten Zweck investiert wird.

Dieser Text erschien am 11. Dezember 2017 in der Neuen Ruhr Zeitung

Montag, 25. Dezember 2017

Lautstarke Folklore

Früher musste man in die Anden reisen, um indianische Panflötenspieler im vollen Federschmuck zu sehen und zu hören. Zu Risiken und Nebenwirkungen fragte man seinen Hausarzt oder seinen Lungenfacharzt.

Heute reicht ein Besuch des Weihnachtstreffs auf der Schloßstraße. Zu Risiken und Nebenwirkungen fragt man heute am besten seinen Hals-Nasen-Ohrenarzt.  Denn die indigen geschmückten Panflötisten, die gestern an der Schloßstraße zwischen Bratwurstwagen, Lebkuchen- und Glühwein aufspielten, begnügten sich nicht mit ihren Panflöten, sondern brachten gleich einen riesigen Verstärker mit, der mit seinem Bass jedem Rockkonzert in einem Fußballstadion zur Ehre gereicht hätte.

Nicht dass der Grund-Rhythmus  schlecht gewesen wäre und deshalb auch so manchen Passanten zum Zuhörer machte. Aber weil die Panflötenspieler nun einem nicht in einem Fußballstadion, sondern auf der recht dicht bebauten und zugestellten Einkaufsstraße gastierten, weckte die überdimensionale Panflötenbeschallung, je länger sie andauerte, eher Panik als Partystimmung. Immerhin zog das Panflötenorchester weiter, ehe die Händler vom Weihnachtstreff auf dem letzten Loch pfiffen.

Dieser Text erschien am 21. Dezember 2017 in der Neuen Ruhr Zeitung

Sonntag, 24. Dezember 2017

Ansichten eines Christkindes



Die meisten Menschen, die an mir vorbei laufen, lassen mich links liegen. Denn ich liege in einer Krippe im Stall auf dem Synagogenplatz. Die Adresse gefällt mir. Auch wenn man mich heute gerne als Christkind verkauft, bin ich ja seinerzeit als jüdisches Kind in einem Stall in Betlehem geboren worden. Auch wenn mir meine irdischen Eltern Maria und Josef im Stall am Synagogenplatz Gesellschaftleisten, finde ich es schade, dass sich nur wenige Menschen die Zeit nehmen, um bei mir vorbeizuschauen und einen Moment innezuhalten. Die Meisten hetzten in die Geschäfte, um etwas zu kaufen, von dem sie glauben, dass sie ohne es meinen Geburtstag nicht feiern könnten. Auch ich habe zum Geburtstag Weihrauch, Gold und Myrrhe geschenkt bekommen, aber deshalb muss man sich heute doch keinen Konsummarathon antun und darüber vergessen, worum es an meinem Geburtstag wirklich geht, nämlich um Unbezahlbares: Um Liebe, Hoffnung, Glaube, Zeit und Zuwendung. 

Dieser Text erschien am 23. Dezember 2017 in der Neuen Ruhr Zeitung

Samstag, 23. Dezember 2017

Weihnachten 1917: Auch die Mülheimer schwankten vor 100 Jahren zwischen Hunger, Durchhaltewillen und Friedenshoffnung

Soldaten feiern Weihnachten im "Deutschen Haus" an der Eppinghofer Straße
Foto: Stadtarchiv Mülheim an der Ruhr
www.stadtarchiv-mh.de
Vor 100 Jahren wird das Weihnachtsfest vom Ersten Weltkrieg überschattet. Ein Blick in die Mülheimer Zeitung vom 24. Dezember 1917 zeigt es. Das Blatt macht damals mit einem Artikel über die deutsch-russischen Friedensverhandlungen in Brest-Litowsk auf. Neben dem Aufmacher heißt es in einem patriotischen Gedicht: „Nicht Pracht und Glanz ist uns beschieden in dieser harten Zeit Nicht reiche Gaben, wie im Frieden. Noch tobt der harte Völkerstreit. Zum vierten Mal in heiliger Nacht, umtost vom wilden Kriegsgedröhne, stehen fern ab der Heimat im Felde die Heldensöhne.“

Im Lokalteil finden sich mehrere Berichte über Lebensmitteldiebstähle. Sie werfen ein Licht auf die strikte Lebensmittelrationierung. Der vierte Kriegswinter geht als Steckrüben-Winter in die Geschichte ein. Auch in Mülheim wird gehungert. Selbst die Futtermittel werden knapp. Deshalb richtet die Stadt in Broich eine Pferde-Brot-Bäckerei ein.

Neben den Personal-Nachrichten, in denen vor allem darüber berichtet wird, welche Soldaten aus dem seit 1899 in Mülheim stationierten Infanterieregiment 159 befördert oder mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet worden sind, findet man auch in der Heilig-Abend-Ausgabe 1917 die Traueranzeige der Lederfabrik Coupienne, die ihrem Arbeiter Hermann ter Jung gewidmet ist, der, wie es dort im Propaganda-Deutsch heißt: „auf dem Felde der Ehre den Heldentod gefunden hat  und dem wir deshalb ein ehernes Andenken bewahren.“

Gleich neben den Traueranzeigen stehen, und das reichlich, Verlobungsanzeigen. Wahrscheinlich stehen diese Verlobsanzeigen im Zusammenhang, mit dem Aufruf an alle Wehrpflichtigen der Jahrgänge 1896, 1897 und 1898, sich bis zum 15 Januar im Rathaus-Zimmer 8 zur Rekrutierung zu melden.

Neben einer öffentlichen Bekanntmachung, dass jetzt alle Zelt- und Segelstoffe für die Truppen an der Front beschlagnahmt werden, finden sich im Anzeigenteil der Lokalzeitung auch die Hinweise auf das Weihnachtsprogramm der Mülheimer Kinos und auf das „Große Militärische Weihnachtskonzert der Garnisonskapelle.“ Wer dem Kriegsalltag an der Heimatfront entfliehen will, der kann an den Weihnachtstagen 1917 im Apollo-Lichtspiel die Stummfilm-Lustspiele „Die Nichte aus Amerika“ und: „Die Wacht am Stammtisch“ sehen.

Wer die Kriegswirklichkeit daheim und an den Fronten nicht sehen will, der klammert sich an den in der Mülheimer Zeitung veröffentlichten Weihnachtsgruß des Generalfeldmarschalls Paul von Hindenburg. Der wird seit seinem Sieg über  die 1914 in Ostpreußen eingefallene russische Truppen als „Held von Tannenberg“ verehrt. Hindenburg, nach dem seit 1916 der frühere Notweg und  die heutige Friedrich-Ebert-Straße benannt ist, schreibt in seinem Weihnachtsgruß an die Leser der Mülheimer Zeitung: „Der Segen Gottes ruhte 1917 auf unseren Waffen. Er wird unsere Sache 1918 zu einem guten Ende führen.“ Es wird anders kommen. Am 13. Dezember 1918, einen Monat nach dem Waffenstillstand, der für Deutschland einer bedingungslosen Kapitulation gleich kommt, kehren die überlebenden Soldaten des Infanterieregiments 159 nach Mülheim zurück. 3500 ihrer Kameraden haben dieses Glück nicht. Sie sind an der Westfront gefallen und sehen ihre Heimat nie wieder.

Dieser Text erschien am 21. Dezember 2017 in der Neuen Ruhr Zeitung

Freitag, 22. Dezember 2017

Heinrich Böll: Ein Poet in der Nähe Jesu

Heinrich Böll würde am 21. Dezember 100 Jahre alt, wäre der Literaturnobelpreisträger des Jahres 1972 nicht schon 1985 gestorben. „Nicht nur zur Weihnachtszeit“ lohnt sich die Lektüre seiner gleichnamigen Satire aus dem Jahr 1952, in der er der bürgerlichen Scheinheiligkeit im Nachkriegsdeutschland den Spiegel vorhält. Der rheinische Katholik aus Köln, der zwei Weltkriege und eine Diktatur überlebte, sagte 1952 über seine Erzählung, in der eine Frau ihre Familie in den Wahnsinn treibt, weil sie jeden Tag Weihnachten feiern möchte: „Sie ist das Sinnbild einer Zeit, von der ich angenommen hatte, dass sie längst vergangen sei.“
Böll, der sich zeitlebens mit der katholischen Amtskirche schwer tat, kehrte ihr am Lebensende den Rücken. Dennoch blieb er auch nach seinem Kirchenaustritt seinen christlichen Wurzeln und Überzeugungen treu. Er betete, besuchte Gottesdienste und ging weiter zur Kommunion, auch deshalb, weil er, wie er einmal schrieb, daran glaubte, „dass Christen das Anlitz der Erde verändern können“. 1974 sagte Böll in einem Gespräch mit Renate Matthei und Peter Hamm: „Mein Verhältnis zur katholischen Kirche als Institution ist vergleichbar meinem Verhältnis zum Deutschsein. Ständige Spannung, ständige Ablehnung und doch das Wissen, unvermeidlich dazuzugehören.“
Er war ein kritischer Mahner und Zeitgenosse. In den 1950er Jahren erinnerte er sich an seine katholische Jugend in den 1930er Jahren und wunderte rückblickend darüber, dass er bei einem Einkehrtag kein einziges Wort der Kritik an Hitler und seiner Judenverfolgung oder über die moralische Frage von Befehl und Gehorsam gehört habe. Wie viele Nachkriegsschriftsteller hatte Böll keine Angst davor, sich politisch zu exponieren, sei es gegen den restaurativen und die NS-Vergangenheit verdrängenden Wirtschaftswunder-Zeitgeist im Deutschland der 1950er Jahre, sei es im Kampf gegen die Notstandsgesetze der Großen Koalition in den 1960er Jahren, sei es für die Entspannungspolitik Willy Brandts in den 1970er Jahren, sei es gegen die Nato-Nachrüstung und für die Friedensbewegung oder für die Unterstützung der Bootsflüchtlinge aus dem kommunistisch gewordenen Vietnam in den spätern 1970er und in den frühen 1980er Jahren.
In seinem 1953 erschienen Roman „Und sagte kein einziges Wort“ beschreibt Böll eine Kirche, die von seiner unter akuter Wohnungsnot leidenden Protagonistin als hochmütig und scheinheilig verachtet wird, während sie zugleich von einem Priester Hilfe und Beistand erfährt und die Kirche auch als Alltagsoase des Friedens erlebt.
Der in der Autorengruppe 47 groß gewordene Schriftsteller sympathisierte in den Nachkriegsjahren mit einer in Frankreich entstandenen Reformbewegung, die, ganz im Sinne des späteren Konzils-Papstes Johannes XXIII. und des heutigen Papstes Franziskus katholische Arbeiter- und Armenpriester hervorbrachte. In der Herder-Korrespondenz schreibt die Publizistin und Theologin Elisabeth Hurth über Bölls Blick auf die Religion: „Böll lehnt eine Ästhetisierung der Religion ab, die einer unverbindlichen Folgenlosigkeit Vorschub leistet. Diese Folgenlosigkeit zeigt sich für Böll vor allem darin, dass religiöse Formen als Dekor genutzt werden und Religion so letztlich nur noch Mittel zum Zweck ist. Bölls Verurteilung solcher entleerter, folgenloser, Instrumentalisierung von Religion, wirft zugleich einen kritischen Blick voraus auf das, was man heute als Eventisierung und Medialisierung des Religiösen beschreibt.“
Im Bundestagswahljahr 1957, in dem der Kölner Katholik Konrad Adenauer als Bundeskanzler die absolute Mehrheit gewann, kritisierte der Kölner Katholik Heinrich Böll die amtskirchliche Wahlhilfe für CDU und CSU. Außerdem geißelte er in seinem „Brief an einen jungen Katholiken“ die zwiespältige Moraltheologie seiner Kirche, die eine strenge Sexualmoral predige, aber sich gegenüber politischer Unmoral oft blind stelle. Im gleichen Jahr schrieb Böll unter dem Titel: „Eine Welt ohne Christus“ aber auch: „Selbst die allerschlechteste christliche Welt, würde ich der besten heidnischen Welt vorziehen, weil es in einer christlichen Welt Raum für die Menschen gibt, für die keine heidnische Welt Raum hatte, für Krüppel und Kranke. Die christliche Welt hat noch mehr als Raum für Alte und Schwache. Hier gibt es für diese Menschen Liebe, die die heidnische Welt als nutzlos ansieht.“
18 Jahre später kam Böll in einem Interview mit Günter Nenning zu dem Ergebnis: „Die Kirche in der Bundesrepublik Deutschland ist ein Unternehmen, auch im kapitalistischen Sinne. Doch Unternehmer riskieren etwas. Der hat eine Idee. Der baut eine Fabrik. Der investiert Geld. Das kann schief gehen. Die Kirche, hier in der Bundesrepublik riskiert nichts. Sie ist einfach, gesetzlich verankert, an unserer Arbeit, an unseren Einkommen beteiligt. Ich habe das öffentlich als ‚Zuhälterei‘ bezeichnet. Das hindert unsere Amtskirche aber nicht daran, auch weiterhin bei der Kirchensteuer zu pfänden.“


Sicher hätte der kritische Katholik Heinrich Böll, den ein evangelischer Pfarrer einmal als „einen Poeten in der Nähe Jesu“ beschrieben hat, seine Freude daran, dass die Evangelische Lukas-Gemeinde in Mülheim an seinem 100. Geburtstag in ihrem Styrumer Gemeindehaus an der Albertstraße 89 (um 19.30 Uhr) die Verfilmung seiner Satire: „Nicht nur zur Weihnachtszeit“ zeigt. Prädikat; Unbedingt sehenswert!

Dieser Text erschien am 16. Dezember 2017 im Neuen Ruhrwort

Donnerstag, 21. Dezember 2017

Drei Fragen an die Saarner Buchhändlerin Brigitta Lange: Heinrich Bölls Weihnachtssatire

Frau Lange, Sie betreiben eine Buchhandlung an der Düsseldorfer Straße und Sie gehören zu der Generation, die mit den Büchern von Heinrich Böll aufgewachsen ist. Woran denken Sie, wenn Sie an den Schriftsteller und Literatur-Nobelpreisträger Heinrich Böll denken, der heute vor 100 Jahren in Köln geboren wurde und 1985 auch dort starb?

Ich denke an einen Autoren, der Bücher, wie „Nicht nur zur Weihnachtszeit“ oder: „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ geschrieben hat. Er war ein Schriftsteller, dessen rheinisches Naturell und dessen politisches Engagement mir gut gefallen haben. Es war für unsere Generation ein innerer Vorbeimarsch, dass er sich zum Beispiel mit der Bild-Zeitung angelegt hat, die damals entsetzliche Dinge getan hat.

Warum tun sich heute so viele Schriftsteller, anders, als Heinrich Böll zu seiner Zeit, so schwer, sich auch gesellschaftspolitisch zu engagieren?

Die Welt ist heute unübersichtlicher, als zu Bölls Zeiten. Viele Schriftsteller tun sich schwer, sich festzulegen und eine klare Kante zu zeigen. Vielen geht es nur darum, ihre Bücher zu verkaufen und ihre Kultur zu machen. Böll wurde für sein politisches Engagement von der einen Hälfte der Gesellschaft geliebt und von der anderen gehasst. Heute besteht unsere Gesellschaft nicht mehr aus zwei Hälften, sondern nur noch aus Splittergruppen. Das macht politisches Engagement schwierig.

Warum sollte man auch heute noch Texte von Heinrich Böll lesen?

Viele Bücher Bölls entstanden aus einer Tagesaktualität, die jüngere Leser kaum noch nachvollziehen können. Aber seine Satire: „Nicht nur zur Weihnachtszeit“ kann und muss man auch heute lesen, weil er mit der Tante, die das ganze Jahr über Weihnachten feiern möchte, ein bürgerliches Weihnachts-Bimbamborium ad absurdum führt, dass wir auch heute noch kennen und das uns mit seiner Scheinheiligkeit immer noch nervt. 

Dieser Text erschien am 21. Dezember 2017 in der Neuen Ruhr Zeitung

Mittwoch, 20. Dezember 2017

Wenn Man(n) sich besinnt

Meine Geschlechtsgenossen durchforsten ihr Umfeld auf der Suche nach einem Weihnachtsbaum. Ich durchforstete gestern meinen Kleiderschrank. Es war meine pragmatische Mutter, die mich jetzt dazu aufforderte, mich doch mal genau darauf zu besinnen.
Frauen mögen es eben nicht, Advent hin oder her, wenn sich Männer tatenlos besinnen, einfach so. Wenn Mann einfach so rumsitzt, um etwa die Zeitung zu lesen oder Kaffee und Kuchen zu sich zu nehmen, irritiert das die auf häuslichen Fleiß und Ordnung fixierte weibliche Seele. An diesem tief verankerten weiblichen Unterbewusstsein konnten auch Alice Schwarzer, Simone de Beauvoir  und ihre Gesinnungsgenossinnen nichts ändern.

So hatte die mütterliche Seele bald ihre Ruhe. Doch mit meinem Seelenfrieden war es angesichts der Tatsache, dass mein Kleidungsfundus im Laufe des An- und Ausprobierens schrumpfte, bald vorbei.  Ich hatte den Kaffee auf und der Christstollen drehte mir in meinem offensichtlich expandierten Bauch um. Mir wurde klar: Am besten wünsche ich mir zu Weihnachten eine Waage oder vielleicht doch lieber einen Gutschein meines Herrenausstatters.

Dieser Text erschien am 18. Dezember 2017 in der Neuen Ruhr Zeitung

Dienstag, 19. Dezember 2017

Es gibt noch Lichtblicke

Es gibt Mülheimer, die sich darüber beklagen, dass es in unserer Innenstadt keinen Lichtblick gäbe. Gut. Wer die Schloßstraße oder die Leineweberstraße in den 70er Jahren kennen gelernt hat, dem fällt es nicht schwer, in der heutigen City schwarz zu sehen.
Doch apropos schwarz. Gerade jetzt im Advent, wenn es schon früh dunkel wird, kann man in der Innenstadt Lichtblicke sehen, wenn man denn genau hinschaut. Die Weihnachtsbeleuchtung der Mülheimer Stadtmarketinggesellschaft und der Kaufleute aus der Innenstadt macht es möglich.

Jetzt kann man auch durch die Innenstadt bummeln, wenn das letzte Geschäft und die letzte Hütte des Weihnachtstreffs dicht gemacht hat. Mich überrascht es selbst, wie eine Kerze daheim oder LED-Leuchten über der Straßenflucht und im öffentlichen Grün die Stimmung unwillkürlich heben können. Das lässt doch für uns alle nicht nur zur Weihnachtszeit hoffen. Man muss nicht unbedingt die größte Leuchte sein, um es in unserer kleinen und großen Welt etwas heller werden zu lassen. Und sei es durch das Leuchten der eigenen Augen im Angesicht des oder der Liebsten.

Dieser Text erschien am 19. Dezember 2017 in der Neuen Ruhr Zeitung

Montag, 18. Dezember 2017

Ein Zeitsprung am Schloß Broich

So Fotografierte Zeitzeuge Walter Neuhoff die 1903
errichtete Broicher Eisenbahnbrücke im Jahr 1982.
Als Walter Neuhoff 1982 die Eisenbahnbrücke am Schloß Broich fotografierte, wurde schon über  deren Abriss diskutiert. Stadt und Land waren unterschiedlicher Meinung über die Frage, wie schützenswert die 1903 errichtete Brücke sei, deren Gleistrasse die Bahnhöfe Saarn und Broich miteinander verband, zuletzt aber immer seltener von Güterzügen passiert wurde. Das Land wies darauf hin, dass die Eisenbrücke mit ihren reich verzierten Säulen in der Denkmalliste stehe, Die Stadt und ihr Oberstadtdirektor Heinz Hager, wiesen darauf hin, dass die Brücke ihre ursprüngliche Funktion verloren habe und einer stadtplanerischen Weiterentwicklung des öffentlichen Raumes im Wege stehe. Die Grünen, die 1984 in den Rat der Stadt eingezogen waren, wollten den Abriss der Brücke verhindern und sie zu einem Geh- und Radweg umfunktionieren. Nach dem das Verwaltungsgericht Düsseldorf entschieden hatte, dass ein Abriss der alten Eisenbahnbrücke rechtens sei, wurde die 35 Meter lange und 3,70 Meter breite Brücke im Oktober 1984 demontiert.
Auch die Bürgergemeinschaft Unterbroich, die die Unterführung am Schloss Broich „als dunkles Loch“ sah, „in dem Radler und Kinder sich nicht sicher fühlen können“, begrüßte den Brückenabbruch. Doch im Rahmen der Landesgartenschauplanungen beschloss man 1988 an gleicher Stelle den Bau einer neuen Fußgänger-Brücke, die im Juli 1991 gebaut wurde. Kostenpunkt: Eine Million D-Mark. Das wären heute rund 500 000 Euro. Auch wenn das orange- und türkisfarbene Outfit der Stahlbrücke nicht jedermanns Sache war, wurde die Brücke ab 1992 durch die Müga zum akzeptierten Allgemeingut.

 Dieser Text erschien am 18. Dezember 2017 in der Neuen Ruhr Zeitung

Sonntag, 17. Dezember 2017

Die Folgen der Bestelleritis

Man muss nicht samstags einkaufen gehen, um als Fußgänger im Stau zu stehen, in der Schlange an der Supermarktkasse. Es reicht auch schon ein Stadtbummel durch die sogenannte Fußgängerzone an der Leineweberstraße. Drei Rollatoren, drei Paketdienste, ein Umzugsservice, ein Liefer- und ein Pflegedienst, natürlich alle motorisiert, und schon ist der Stau  perfekt.

Dabei haben vor allem die Fußgänger, die am Stock oder am Rollator gehen, in diesem Stau jenseits der Autobahn die schlechtesten Karten, weil sie die geringste Knautschzone haben. So müssen jene, die die geringste Mobilität mitbringen im mobilen Overkill auf der Fußgängerzone, Haken, wie die Hasen schlagen. Das müssen sie vor allem dann, wenn sie auf LKW- und Lieferwagenfahrer treffen, die nur stur geradeaus gucken. Freie Fahrt. Freie Fahrt für die Lieferservice, koste es was es wolle. Da denkt der Fußgänger beim Shoppen und Bummeln im Abgasnebel: „Danke. Ich brauche keinen Service mehr. Ich bin schon bedient.“ Und all jenen, die online auf der Coach bestellen, wünscht er einen Einkaufsbummel in der Innenstadt. Das fördert den Einzelhandel und reduziert den automobilen Stau in der Fußgängerzone.

Dieser Text erschien im Dezember 2017 in der Neuen Ruhr Zeitung

Samstag, 16. Dezember 2017

Der ehemalige Ratsherr und Redakteur Franz Matuszczyk ist jetzt im Alter von 91 Jahren gestorben

Franz Matuszczyk (2.v.l.) bei einer Jubilarehrung der CDU im Jahr 2011
Er war der älteste noch lebende ehemalige Stadtrat und Ehrenringträger. Jetzt ist Franz Matuszczyk im Alter von 91 Jahren gestorben. Der  langjährige Lokalpolitiker und Lokaljournalist saß unter anderem auch dem Kulturausschuss des Rates vor.

Ähnlich, wie der erste Redaktionsleiter der Neuen Ruhr Zeitung, Otto Striebeck, war Matuszczyk publizistisch und politisch aktiv. Während sich Striebeck als Ratsherr und Bundestagsabgeordneter für die SPD engagierte, leitete der Christdemokrat Matuszcyk zwischen 1950 und 1974 die Lokalredaktion der Ruhrnachrichten und gehörte von 1952 bis 1974 dem Rat der Stadt an.
1926 im westfälischen Hamm geboren, wollte Matuszczyk eigentlich nach dem Abitur (1946) Geschichte und Germanistik studieren. Doch weil im Elternhaus das Geld fehlte und er schnell seinen eigenen Lebensunterhalt verdienen wollte, entschloss er sich ein Redaktionsvolontariat bei der Westfalenpost zu absolvieren. 1949 wechselte er als Lokalredakteur zu den damals neu gegründeten Ruhrnachrichten nach Dortmund. Dort wurde er 1950 mit dem Aufbau und der Leitung der Mülheimer Lokalredaktion betraut.

Weil ihn der damalige Bürgermeister und CDU-Kreisvorsitzende Wilhelm Diederichs 1951 für die CDU gewann, wurde der in Speldorf lebende und im Speldorfer Bürgerverein aktive Matuszczyk nicht nur zum Chronisten, sondern auch zum Akteur der Mülheimer Nachkriegsgeschichte. Politisch und publizistisch begleitete Matuszcyk, der dem Kultur- und dem Schulausschuss angehörte, unter anderem den Wiederaufbau der Stadthalle, den Aufbau des Speldorfer Hafens, die Einrichtung eines neuen städtischen Kunstmuseums und die ersten Planungen für die 1979 eröffnete Volkshochschule an der Bergstraße.

Weil sich die Ruhrnachrichten 1975 aus Mülheim zurückzogen, musste sich Franz Matuszczyk beruflich und räumlich verändern und wechselte deshalb als städtischer Pressesprecher nach Münster.

Dieser Text erschien am 16. Dezember 2017 in der NRZ und in der WAZ

Freitag, 15. Dezember 2017

Ansichten einer Feldlerche

Als Feldlerche habe ich es nie verstanden,  dass Menschen, ihren Artgenossen, die ihnen als schräge Vögel erscheinen, vorhalten, einen Vogel zu haben. Doch inzwischen habe ich eine Ahnung davon, was sie damit meinen. Denn die Spatzen pfeifen es ja schon länger von den Dächern, dass der britische Sänger und Liedermacher Ed Sharan, ausgerechnet zu unserer besten Brutzeit  in unserem Brutrevier am Flugplatz Essen/Mülheim 80 000 Vögel mit seinem Gesang anlocken will, die für dieses Vergnügen auch noch bis zu 85 Euro und auf dem Schwarzmarkt sogar bis zu 425 Euro bezahlen. Freiwillig. Das müssen ja wirklich schräge Vögel sein. Da wird doch die Feldlerche, die als Singvogel täglich Gratiskonzerte gibt, in ihrem Nest verrückt.

Liebe Menschenkinder, ich kann euch nur eines flöten. Seid froh, wenn ihr noch einen Vogel habt, der euch kostenlos etwas vorzwitschert und unsere Natur und mit ihr die Menschheit noch nicht auf dem allerletzten Loch pfeift. Denn diesen Abgesang unseres gemeinsamen Öko-Systems wünscht man auch dem schrägsten Vogel unter unseren und euren Artgenossen nicht. Vielleicht kann Ed Sharan ja außerhalb unserer Brutzeit am Flughafen seine Lieder zwitschern. 

Dieser Text erschien am 14. Dezember 2017 in der Neuen Ruhr Zeitung

Donnerstag, 14. Dezember 2017

Helfen macht Freude: Jennifer Asamoah macht uns mit ihrem Einsatz Mut

Jennifer Asamoah
Im Rahmen der Reihe "Menschen im Ehrenamt" in Kooperation mit dem CBE, stellen wir heute die Schülerin Jennifer Asamoah vor.

Die Jugend von heute denkt doch nur an sich selbst. So denken viele und verkennen damit, dass die Wirklichkeit vielseitiger ist. Es sind junge Menschen, wie Jennifer Asamoah aus Eppinghofen, die uns Mut machen und an eine gute Zukunft glauben lassen.
Die 16-jährige Schülerin engagiert sich neben ihrer Ausbildung an der Gesamtschule Saarn ehrenamtlich in den Bereichen Umwelt und Soziales. "Das macht einfach Freude und man lernt viele interessante Menschen kennen, die ähnlich denken und fühlen wie man selbst. Außerdem kann man so mit seinen Möglichkeiten dazu beitragen, die Welt ein kleines bisschen besser zu machen", erklärt die junge Frau ihre Motivation zum Ehrenamt. Und sie betont: "Das Ehrenamt ist mein Hobby."

"Das Ehrenamt ist mein Hobby"

Im Biogarten der Volkshochschule arbeitet sie ebenso mit wie in dem von Julia Weber geleiteten und beim Centrum für bürgerschaftliches Engagement angesiedelten Team Aladin und beim Christlichen Verein Junger Menschen (CVJM). Das Team Aladin und der CVJM baut durch alltägliche Begegnungen, etwa bei der gemeinsamen Gartenpflege am Medienhaus, bei einem Fußballspiel, einer Modenschau oder beim gemeinsamen und multikulturellen Kochen, Brücken zwischen Mülheimern unterschiedlichster Herkunft. Auch in ihrem ganz normalen Alltag, steht die Schülerin Altersgenossen bei, die Hilfe brauchen, weil sie vielleicht gemobbt werden oder als Flüchtlinge Unterstützung brauchen, um im deutschen Alltag anzukommen. "Die Hilfsbereitschaft habe ich von meiner Mutter", sagt die junge Frau, deren Familie aus Ghana stammt. Sie selbst beschreibt sich als "ehrgeizig", mag aber auch die familiäre Zusammenarbeit mit anderen Menschen. Nicht nur ihren Altersgenossen, sondern auch Lehrern und Eltern rät die 16-Jährige: "Man sollte mehr aufeinander achten. Fragen hilft immer."

Von der Bürgerstiftung ausgezeichnet

Ihr ehrenamtliches Engagement, in das Asamoah wöchentlich 10 bis 15 Stunden investiert, wurde in diesem Jahr mit einem Preis der Bürgerstiftung ausgezeichnet. Inzwischen hat sich Jennifer Asamoah verstärkt mit dem Thema Klimaschutz beschäftigt und auch schon selbst Müll-Beseitigungs-Aktionen gestartet. "Ich versuche auch in meinem Umfeld Menschen davon zu überzeugen, Plastik-Müll und überflüssige Autofahrten zu vermeiden", unterstreicht die umweltbewusste Schülerin, die unter anderem auch aus Gründen des Klimaschutzes zur Vegetarierin geworden ist. Gerne würde sich der Teenager auch bei Greenpeace engagieren. Doch Jennifer Asamoah weiß auch, dass ihre außerschulische Freizeit begrenzt und deshalb nicht alles sofort realisierbar ist. Nach dem Abitur würde sie gerne bei der Stadt Mülheim als als Erzieherin oder als Sozialversicherungsfachangestellte arbeiten.

Dieser Text erschien am 22. November 2017 in der Mülheimer Woche und im Lokalkompass

Mittwoch, 13. Dezember 2017

Zwischen Wiederaufbau und Wirtschaftswunder: Ein Zeitsprung am Rathausmarkt

Fptp Stadtarchiv Mülheim an der Ruhr
www.stadtarchiv-mh.de
1953 wie 2017. Der Rathausmarkt ist auch Parkplatz. Vor 64 Jahren ist  er aber auch, nomen est omen, ein florierender und viel besuchter Wochenmarktplatz. Fünf Jahre nach der Einführung der D-Mark nimmt das Wirtschaftswunder auch in Mülheim Fahrt auf. Die Autos, die wir auf dem historischen Foto aus dem Stadtarchiv sehen, hätten im Mai 2017 auch bei der Landpartie der Oldtimer mitmachen und erneut auf dem Rathausmarkt parken können. 1953. Man erkennt es, ist die Stadt immer noch von den Folgen des acht Jahre zuvor zu Ende gegangenen Zweiten Weltkrieg gezeichnet. Im Frühjahr werden Mülheims Straßen offiziell als „trümmerfrei“ erklärt. Nach Kriegsende hatten 880 000 Kubikmeter Trümmerschutt auf Mülheims Straßen gelegen.

Auch 1953 kann der 1943 vom großen Luftangriff auf die Stadt  zerstörte Ratsaal nicht genutzt werden. Erst drei Jahre später wird hier wieder Kommunalpolitik gemacht. Die Stadtverordneten weichen bis 1956 bevorzugt in den Altenhof an der Kaiserstraße aus. 

Der wird auch für Kulturveranstaltungen genutzt, weil die ebenfalls 1943 von Bomben getroffene Stadthalle erst 1957 (vom damaligen Bundespräsidenten Theodor Heuss) wieder eröffnet werden. „Am 16. November 1953 kam der damalige NRW-Ministerpräsident Karl Arnold in die Stadt, um an der Friedrich-Ebert-Straße den neuen Kaufhof zu eröffnen, der damals der erste Kaufhof-Neubau in Westdeutschland war. Deshalb hatten alle Mülheimer Schüler an diesem Tag schulfrei“, erinnert sich der 1936 geborene Mülheimer Walter Neuhoff. Er besuchte 1953 die 10. Klasse des staatlichen Gymnasiums, das seit 1974 den Namen seines ehemaligen Schülers Otto Pankok trägt. 

Dieser Text erschien am 11. Dezember 2017 in der Neuen Ruhr Zeitung

Montag, 11. Dezember 2017

EU-Korrespondentin auf der Petri-Kanzel: Journalistin Anne Gellinek in ihrer alten Heimat

Anne Gellinek bei ihrer Kanzelrede in der Petrikirche
„Richtet euch auf. Erhebt eure Häupter. Denn eure Erlösung naht.“ Ausgehend vom Bibelvers des 2. Adventssonntags ging die Leiterin des ZDF-Studios Brüssel, Anne Gellinek, in ihrer Kanzlerrede vor den voll besetzten Bänken in der Petrikiche auf die aktuelle Lage der Europäischen Union ein.

Die „welterfahrene und weitgereiste“ Journalistin, so hatte sie Ulrich Schreyer begrüßt, machte deutlich, „dass die Europäische Union im Vergleich zu anderen Regionen der Erde immer noch ein 
Hort des gesunden Menschenverstandes ist.“

Die 1962 als Tochter des späteren Bau- und Planungsdezernenten Philipp Otto Gellinek in Mülheim geborene Journalistin, sieht den Brexit „als einen heilsamen Schock und Wendepunkt für die EU.“
In den mit einer Stimme geführten Brexit-Verhandlungen der 27 EU-Mitglieder, in den gemeinsamen Sanktionen gegen Russland und dessen Vereinnahmung der ukrainischen Krim und in dem gestern von den EU-Außenministern vereinbarten Aufbau einer gemeinsamen Verteidigungspolitik, sieht sie die innerhalb der Europäischen Union gereifte Erkenntnis, „dass wir in Europa nur dann etwas erreichen können, wenn wir mit erhobenen Häuptern auf die Einhaltung der vereinbarten EU-Regeln bestehen und international mit einer Stimme sprechen.“ Aus Sicht der ZDF-Korrespondentin, muss die EU stärker als bisher, „deutlich machen, dass es besser ist, in der EU zu sein, als außerhalb der EU.“

In seinen Dank für Gellineks gelungene Kannzelrede, verband Ulrich Schreyer die Bitte: „Versorgen Sie uns weiter mit freien und gut recherchierten Nachrichten, die unsere Demokratie stärken.“

Dieser Text erschien am 12. Dezember 2017 in NRZ und WAZ

Die Musical-Macher: 100 Gemeindemitglieder aus St. Barbara erzählen die Geschichte der Mutter Gottes von Guadalupe

Bei der Generalprobe in St. Barbara: Elke Timmer, Jürgen Wrobbel,
Michelle Pascual und Edgar Kirchhoff
In der Zeit vor Weihnachten denkt man vielleicht an ein Krippenspiel oder an die Aufführung eines Oratoriums, aber nicht unbedingt an ein Musical.

Doch in der Pfarrgemeinde St. Barbara stecken derzeit rund 100 Gemeindemitglieder jede freie Minute in die Proben für das Musical „Virgin.“ Erzählt wird die Geschichte der Mutter Gottes von Guadalupe. Sie erschien 1531 dem Indio Juan Diego und wurde so zur Schutzheiligen Mexikos, die jährlich 21 Millionen Pilger nach Mexiko City zieht. Mit Hilfe eines Musicals den christlichen Glauben und seine Frohe Botschaft im besten Sinne populär und verständlich zu machen, ist für die 
.
Ab 1998 setzten Gemeindemitglieder die Lebensgeschichte des katholischen Widerstandskämpfers Nikolaus Groß, der 2001 von Papst Johannes Paul II. selig gesprochen wurde, mit einem Musical ins Szene. Das Musical wurde nicht nur in der Barbarakirche am Schildberg, sondern landesweit bei unterschiedlichen Veranstaltungen aufgeführt. Die Ausdauer und Intensität, mit der Gemeindemitglieder über Jahre und über Generationsgrenzen hinweg die Geschichte und Botschaft von Nikolaus Groß in die Herzen ihrer Zuschauer trugen, brachte den ehrenamtlichen Schauspielern, Technikern, Kostümschneidern, Sängern und Musikern Anerkennung und Respekt ein.

Auch wenn sich in der Pfarrgemeinde des Mülheimer Nordens angeblich eine „Gewerkschaft der Nikolaus-Groß-Geschädigten“ gebildet haben soll, ließen sich die Musical-Enthusiasten aus St. Barbara vom ehemaligen Adveniat-Vorsitzenden Franz Grave vor einem Jahr erneut zu einem Musical anstiften, das jetzt ein Kapitel aus der Christialisierung Mexikos und Amerikas erzählt.
Dass die dortigen Indios im Namen der christlichen Maijestät des spanischen Kaisers Karl V. nicht nur missioniert, sondern auch massakriert wurden, spart die anspruchsvolle Musicalaufführung, die am 12. Dezember in der Barbarakirche am Schildberg ihre Premiere erleben wird, nicht aus. Wie bei 

Nikolaus Groß haben auch diesmal Pfarrer Manfred von Schwartzenberg (als Autor) und Kirchenmusiker Burkhard Maria Kölsch (als Komponist) den ersten Schritt zum zweiten Musical aus St. Barbara gemacht. „Obwohl alle Mitwirkenden auf und hinter der Bühne beruflich und familiär in der Zeit gefangen sind, stecken sie viel Zeit, Energie und Herzblut in dieses Projekt. Das ist eine außergewöhnliche Leistung, die unsere Gemeinde belebt“, sagt Manfred von Schwartzenberg.

Auch wenn Licht und Ton, Gesang und Musik, Darstellung, Sprache und Gestik noch nicht perfekt über die Bühne kommen, zeigt sich Regisseur Edgar Kirchhoff bei den Proben in der Barbarakirche zuversichtlich. „Auch wenn da noch Luft nach oben ist, ist da doch auch schon jetzt viel schönes dran“, unterstreicht er.

Die beiden Hauptdarsteller sind sich einig, dass ihre Rollen nicht mit den Charakteren aus dem Nikolaus-Groß-Musical zu vergleichen sind. „Nikolaus Groß war mir näher, auch wenn ich jetzt als Juan Diego wieder so etwas wie ein Gänsehautgefühl habe“, sagt der 59-jährige Diplom-Kaufmann Jürgen Wrobbel. Seine Frau Ellen hat ihm die Tilma, das Gewand mit dem Marienbild genäht. „Als gläubige Christin weiß ich, dass es Wunder gibt. Für mich ist die Rolle der Mutter Gottes eine Ehre und eine Verpflichtung, aber auch eine schwierige Herausforderung. Denn wir haben es hier mit einer Persönlichkeit zu tun, die eine überirdische Dimension hat“, erklärt die 18-jährige Dolmetscher-Studentin Michelle Pascual. Obwohl Pascual, die Maria mit großer Anmut spielt, aus der Gemeinde kommt, reist sie jetzt eigens aus ihrem Studienort Germersheim zu den Proben am Schildberg an.

100 Leute zu den Proben oder zumindest zu Teilproben mit Teilen des Ensembles zusammen zu bekommen, erfordert eine aufwendige Termin-Koordination und Organisationsarbeit, die im Hintergrund von Elke Timmer geleistet wird. „Wir können uns nicht mit einem professionellen Ensemble vergleichen, aber wir wollen die Menschen mit unserem Musical berühren und ihnen zeigen, dass es zwischen Himmel und Erde mehr gibt, als wir Menschen begreifen können“, sagt Regisseur Edgar Kirchhoff, der gleichzeitig den spanischen Gouverneur verkörpert, der den Indios das Leben schwer macht.

Wer das zweistündige Musical über die Geschichte des Indios Juan Diego und der Mutter Gottes verfolgt, staunt vor allem darüber, dass die mexikanischen Indios die christliche Botschaft erkannten und annahmen, obwohl sie mit den Vertretern der christlichen Kolonial- und Weltmacht Spanien die denkbar schlechtesten Erfahrungen gemacht hatten. Zur Botschaft des Musicals „Virgin“ passt es denn auch, dass der Erlös aus den 25 Euro kostenden Eintrittskarten in ein Hilfsprojekt für Straßenkinder in Mexiko City fließen wird.

Mehr zum Musical unter www.barbarakirche.de 

Dieser Text erschien am 11. Dezember in NRZ und WAZ

Sonntag, 10. Dezember 2017

Mitgefühl für die Opfer und ihre Angehörigen: Der Schiffsbau-Ingenieur Wolf Hausmann hat eine sehr persönliche Beziehung zu dem im Südatlantik verschollenen U-Boot


Wolf Dietrich Hausmann als junger Ingenieur auf der
Werft-Baustelle in Argentinien. (Foto privat)
Die argentinische Marine hat Mitte November im Südatlantik, irgendwo zwischen den Falklandinseln und Buenos Aires eines ihrer U-Boote und damit 44 Soldaten verloren. „Diese Nachricht hat mich geschockt und mein ganzes Mitgefühl gehört den vermutlich elendig erstickten Soldaten und ihren Angehörigen“, sagt der Mülheimer Schiffsbauingenieur Wolf Dietrich Hausmann, den die meisten Mülheimer ab 1989 als FDP-Kommunalpolitiker kennen gelernt haben. „Ich habe nach meinem Studium zwischen 1974 und 1985 für die Thyssen-Nordseewerke in Emden gearbeitet, die damals auch das jetzt vermisste U-Boot TR 1700 (San Juan) gebaut haben. In diesem Zusammenhang habe ich damals auch U-Boot-Fahrer aus Argentinien kennen gelernt. Sie kamen zu Testfahrten nach Emden und wurden im April 1982 vom zweiwöchigen Falkland-Krieg überrascht, den ihre damalige Regierung unter Führung des Militärdiktators General Galtieri gegen Großbritannien vom Zaum gebrochen hatte.“

Die Thyssen-Nordseewerke hatten damals von der argentischen Regierung den Auftrag für sechs U-Boote (Stückpreis 400 Millionen D-Mark/200 Millionen Euro) und den Bau einer U-Boot-Werft in Buenos Aires. „Obwohl ich mir eines der U-Boote  vor ihrer Testfahrt auch von innen angeschaut habe, war ich nicht am Bau der U-Boote beteiligt, sondern ging zusammen mit sechs Kollegen und meiner frisch angetrauten Ehefrau Juliane 1978 für dreieinhalb Jahre nach Argentinien, um dort den Bau der von uns entworfenen U-Boot-Werft  als Berater zu begleiten und zu überwachen.

„Unvergessen bleibt mir der Spanisch-Crash-Kurs, den ich in Buenos Aires absolvieren musste, um mich mit den argentinischen Kollegen verständigen zu können, obwohl wir vorher Deutsch als Beratungssprache vereinbart hatten. Denn meine Sprachlehrerin sprach so schnell, wie ein Maschinengewehr!“ Gleichzeitig machte der 1944 im ober-österreichischen Gmunden am Traunsee geborene Schiffsbau-Ingenieur, der „immer was von der Welt sehen wollte“ und deshalb später unter anderem auch als Wirtschaftsreferent für die deutsche Botschaft in Camberra (Australien) arbeiten sollte, in Argentinien die Erfahrung, „das man die schwierigsten Bauprobleme dort am besten bei einem ausgiebigen Mittagessen klären konnte.“

Dabei beendeten die leitenden argentinischen Ingenieure diese kulinarisch untermalten Arbeitsbesprechungen mit ihren deutschen Beratern immer mit dem Hinweis: „Wir schicken euch morgen unsere Mitarbeiter. Und denen könnt ihr das dann noch mal ganz genau erklären.“

Bei der Frage, warum das argentinische U-Boot, das 1983 als TR 1700 in Emden vom Stapel lief und in Argentinien zuletzt 2014 generalüberholt wurde, nicht mehr auftauchen kann und so zum eisernen Grab für seine Besatzung wird, wird Hausmann nachdenklich. „Man kann letztlich nur spekulieren, warum dieses mit jeder Menge High Tech ausgestattete U-Boot verunglückt ist. 

Die möglichen Ursachen können von einer Explosion im Torpedoschacht bis hin zum Ausfall der riesigen, von Dieselmotoren aufgeladenen, Akku-Batterien reichen, die das 66 Meter lange U-Boot etwa 270 Meter unter Wasser antreiben“, sagt er. 

Dieser Text erschien am 8. Dezember 2017 in NRZ und WAZ

Das Mitte November 2017 im Südpazifik verschollene
U-Boot der Argentinier, das Wolf Hausmann 1983 als
junger Ingenieur der Thyssen-Norseewerke bei einer
Testfahrt in Emden fotografiert hat.

Freitag, 8. Dezember 2017

Der Landtagsabgeordnete Christian Mangen packte als Praktikant in Frankys Küchenkabinett mit an

Gastronom Tobias Volkmann (links)
und MdL Christian Mangen
(Foto Torsten Hellwig)
Normalerweise beschäftigt sich der im Mai neu gewählte FDP-Landtagsabgeordnete Christian Mangen mit Rechts,- Innen- und Haushaltspolitik. Doch jetzt schnitt er bei Frankys im Wasserbahnhof als Tagespraktikant Gemüse, setzte 30 Liter Soße an und zerlegte Kalbsbrüste.
Zusammen mit 24 Parlamentskollegen folgte Mangen damit der Einladung des Deutschen Hotelerie- und Gastronomieverbandes (Dehoga), der den Landespolitikern mit dieser Aktion zeigen wollte, wo die Gastronomen der Schuh drückt.

Die Dehoga-Vertreter Jörg Thon, Thomas Kolaric und Thorsten Hellwig liefen mit ihrer Forderung: "Mehr Zeit für den Gast und sein leibliches Wohl und weniger Zeit für bürokratische Dokumentationspflichten, etwa bei der Arbeitszeitregistrierung, der Allergenkennzeichnung oder bei der Hygieneampel", bei dem Liberalen offene Türen ein. Sein Hinweis, dass die neue, von CDU und FDP getragene Landesregierung die von ihrer rot-grünen Vorgängerin gerade erst eingeführte Hygieneampel zum Jahreswechsel wieder abschafft, war ganz nach ihrem Geschmack.

Die rechte Hand vom Küchenchef

Franky-Gastronom Tobias Volkmann setzte seinen Tagespraktikanten aus der Politik als Assistenten des Küchenchefs Jens Richter ein. Der konnte jede helfende Hand gut gebrauchen, hatten sich doch gerade 216 Gäste für eine betriebliche Weihnachtsfeier angesagt. Da musste der Abgeordnete, der sonst nur privat in seiner eigenen Küche für Frau und Freunde kocht, nicht nur in der Küche, sondern auch bei der Getränkebestellung und bei der Dienstplanung mit ran. Zwischendurch gab es vom Chef auch noch einen schrägen Motivationsspruch: "Tempo ist nicht nur ein Taschentuch!" - "Das habe ich natürlich ganz locker an mir abperlen lassen", gibt Mangen zu Protokoll. "Ich hätte nie gedacht, dass die Arbeit in einem Küchenteam so kreativ und temporeich sein könnte. Und am Ende hat man etwas in der Hand, was alle haben wollen", bilanzierte der Landtagsabgeordnete sein Schnupper-Praktikum im Küchenkabinett. Und weil Mangen im Rahmen seiner Parlamentsarbeit auch den Vorsitz der Landtagskommission für den Strafvollzug inne hat, darf er sich auch schon auf das nächste Tagespraktikum freuen, dann aber bei der Gefängnisseelsorge. Der Freidemokrat ist schon gespannt auf neue Eindrücke und Erfahrungen.

Dieser Text erschien am 4. Dezember 2017 in der Mülheimer Woche und im Lokalkompass

Donnerstag, 7. Dezember 2017

Ritterlicher Frohsinn

Ritter kennt man nur aus der Literatur und der Geschichte oder von der Britischen Insel. Im Vereinigten Königreich werden verdiente Untertanen ihrer Majestät für ihre gesellschaftlichen Verdienste zum Ritter geschlagen. So ähnlich ist es in Mülheim. Wir haben hier zwar keinen Queen. Das gäbe der Stadthaushalt nicht her, dafür aber einen ehrenamtlichen Stadtprinzen, der in diesem  Fall den verdienten Karnevalisten  Heino Passmann zum Ritter vom (ehemals windschiefen) Turm (der Petrikirche) schlug und dabei mit seinem Ornat der teuren und nur sehr selten witzigen Queen um Längen voraus war. 

„Das ist ja wohl ein Witz!“, mag mancher Karnevalsmuffel einwenden, für den ein aktiver Jünger des organisierten Frohsinns nichts ritterliches, sondern eher etwas lächerliches an sich hat. Ich sehe das nicht so. Ist es nicht so, dass wir heute (nicht nur zwischen den Buchdeckeln des Romans von Miguel Cervantes) schon genug Ritter von der traurigen Gestalt haben. Da hat doch wirklich jeder, der ritterlich im Dienste des Frohsinns gegen den miesepetrigen Zeitgeist zu Felde zieht, einen Ritterschlag verdient. Denn ganz ohne Spaß an der Freude geht die Schose unseres Lebens eben nicht.

Dieser Text erschien am 24. November 2017 in der Neuen Ruhr Zeitung 

Heino Passmann bekam närrischen Ritterschlag 100 Jecken feierten den Vollblutkarnevalisten aus Broich am Mittwochabend im Restaurant der Stadthalle

Heino Passmann beim Ritterschlag durch Prinz Jürgen II.
Foto: Sven Saueressig
Das der Hauptausschuss Groß-Mülheimer Karneval und seine 13 Gesellschaften ihn am Mittwochabend ausgerechnet zum 33. Ritter vom Schiefen Turm kürten, war für den Vollblutkarnevalisten Heino Passmann das Tüpfelchen auf dem i. Mit seinen 45 Lebensjahren ist der fünffache Vater der jüngste Ritter vom Schiefen Turm.
Der Gildemeister der närrischen Ritter-Riege, Lothar Schwarze, Oberbürgermeister Ulrich Scholten und Chef-Karnevalist Markus Uferkamp ließen Passmanns karnevalistische Vita Revue passieren. Seine Laudatoren bescheinigten dem neuen Ritter nicht nur „Geselligkeit, Entschlossenheit und Liebe zum traditionellen karnevalistischen Brauchtum“, sondern auch einen „ungebremsten Arbeitseifer“, wenn es darum gehe: „den Karneval weiterzuentwickeln und ihn den Menschen nahezubringen.“

Der in der Behindertenarbeit tätige Sozialpädagoge ist seit 1989 im Mülheimer Karneval aktiv. Der ehemalige SPD-Stadtverordnete aus Broich war unter anderem als Vizepräsident der Karnevalsgesellschaft Blau-Weiß aktiv.  Seit 2003 führt Passmann als Präsident die Prinzengarde Rote Funken. Zusammen mit seiner Frau regierte er in der Session 2006/2007 das mölmsche Narrenvolk. Einem breiten Publikum ist der Vizepräsident und stellvertretende Vorsitzende des Hauptausschusses Groß-Mülheimer Karnevals als wortgewandter Sitzungspräsident der Seniorensitzung Lachende Herzen und des Prinzenballs bekannt.

In seinen gut gereimten Dankesworten, dankte Passmann auch dem NRZ-Karikaturisten Thomas Plaßmann. Der Träger der Spitzen Feder hatte das Motiv seines Ritterordens entworfen. Es zeigt den närrischen Rittersmann vor dem einst windschiefen Turm der Petrikirche unter einer Narrenkappe und bewaffnet mit einer krummen Lanze.

Im Gespräch mit dieser Zeitung sagte Passmann nach seinem sanften Ritterschlag durch Stadtprinz Jürgen II.: „Der Karneval fasziniert mich nach wie vor, weil man mit ihm Menschen Freude bereiten und ein Lachen ins Gesicht zaubern kann und weil er Jugendlichen eine sinnvolle und vergleichsweise preiswerte Freizeitgestaltung bietet.“

Mittwoch, 6. Dezember 2017

Praktikum im Küchenkabinett

Wenn man in der Politik was werden will, kommt man an Thekengesprächen nicht vorbei. Doch dass ich den FDP-Landtagsabgeordneten Christian Mangen in der Küche traf, überraschte mich. Ich dachte immer, wenn man politisch aufsteigt, kommt man vielleicht als Minister in ein Kabinett. Doch an ein Küchenkabinett, in dem der Abgeordnete bei Frankys im Wasserbahnhof Gemüse schnibbelte und putzte und außerdem 30 Liter Soße ansetzen musste, hatte ich weniger gedacht. Man lernt ja nie aus. Und so erfuhr ich, dass der neu gewählte Landtagsabgeordnete auf Einladung des Deutschen Gastronomie- und Hotelerieverbandes (Dehoga) ein gastronomisches Tagespraktikum absolvierte, um nicht nur Gemüse, Soße, Lachsplatten und Kalbsrücken zuzubereiten, sondern zwischen Küchenmesser und Soßenbinder zu erfahren, wo die Gastronomen der Schuh drückt. „Ich hätte nie gedacht, dass die Arbeit in der Küche so kreativ und befriedigend ist, weil man sieht, was man macht und am Ende etwas in der Hand hat, was alle haben wollen.“ Das kann man von so mancher politischen Entscheidung, die zuweilen schwer im Magen liegt, nicht sagen. 

Dieser Text erschien am 5. Dezember 2017 in der Neuen Ruhr Zeitung

Dienstag, 5. Dezember 2017

Die Opfer dem Vergessen entrissen: Gerhard Bennertz, der heute 80 Jahre alt wird, hat in den letzten 40 Jahren die Schicksale der 270 Mülheimer Holocaust-Opfer recherchiert und aufgeschrieben

Gerhard Bennertz
„Vielleicht hätte ein alt eingeborener Mülheimer das, was ich gemacht habe, gar nicht so unbefangen tun können“, sagt Gerhard Bennertz. Der Religionspädagoge, der heute seinen 80. Geburtstag feiert, kam in den 70er Jahren aus Siegburg nach Mülheim, um als Religionslehrer am Berufskolleg Stadtmitte zu unterrichten.

Im Rahmen seines Unterrichtes sprach Bennertz damals auch über die Judenverfolgung durch die Nationalsozialisten. Und plötzlich wollte ein Schüler von ihm wissen: „Wie war das eigentlich mit der Judenverfolgung in Mülheim?“ Da musste der Lehrer passen. Er versprach dem Schüler, sich schlau zu machen. Das war der Beginn einer Recherche, die ihn in den nächsten Jahrzehnten nicht mehr los lassen und zu zahlreichen Publikationen über das Schicksal der jüdischen Mülheimer in der Zeit des sogenannten Dritten Reiches veranlassen sollte. „Mein Glück war, dass ich mit meiner Frau Ingrid im Mülheimer Singkreis aktiv war und so Mülheimer kannte, die als ehemalige Mitglieder der regimekritischen Bekennenden Kirche Kontakte zu ehemalige jüdische Mitbürgern hatten, die vor den Nazis ins damalige Palästina geflohen waren“, erinnert sich Bennertz an den Beginn seiner Nachforschungen, die mit einem zwölfstündigen Zeitzeugengespräch in Tel Aviv begannen. 

„Das wurde plötzlich ein riesiger Schneeball, der auf mich zu kam“, erinnert sich Bennertz. In den kommenden drei Jahrzehnten sollte er 38 Mal Israel besuchen und dabei mit rund 40 ehemaligen jüdischen Mülheimern sprechen, von denen einige später auch ihre alte Heimatstadt wiedersehen und neue Eindrücke vom demokratischen Nachkriegsdeutschland in ihre neue israelische Heimat mitnehmen konnten. Einen besonders engen Kontakt knüpfte Bennertz in Tel Aviv zu Siegfried, Karl und Miriam Brender. Sie waren als Kinder der jüdischen Geschäftsleute Betty und Immanuel Brender im Dichterviertel aufgewachsen, hatten die Luisenschule, das heutige Otto-Pankok- und das heutige Karl-Ziegler-Gymnasium besucht, ehe sie Mitte der 30er Jahre von ihren Eltern nach Palästina geschickt wurden.

„Die Eltern selbst glaubten: Uns kann nichts passieren, weil wir gestandene und unbescholtene Geschäftsleute sind“, berichtet Bennertz aus seinen Gesprächen mit den Brender-Geschwistern. Das Schicksal ihrer Eltern, die 1941 erfolgte Deportation  aus Mülheim ins jüdische Ghetto von Litzmannstadt und letztlich der Tod dort und im Konzentrationslager Auschwitz war nur eines von insgesamt 270 Mülheimer Holocaust-Opfer-Schicksalen, die Bennertz in seinen Gesprächen rekonstruieren und später in Zusammenarbeit mit der Historikerin Barbara Kaufhold publizistisch dokumentieren konnte.

„Auch wenn die Mülheimer, die die Verfolgung durch die Nationalsozialisten am eigenen Leib erlebt haben, bis auf eine Ausnahme, gestorben sind, ist es wichtig, dass Jugendliche heute nachlesen können, was diese Menschen erlitten haben. Das liegt jetzt fest. Dahinter kann niemand mehr zurück.“

Ein Leben für den christlich-jüdischen Dialog

1983 und 1999 veröffentlichte Gerhard Bennertz in der Zeitschrift des Mülheimer Geschichtsvereins einen umfassenden Beitrag zum Schicksal der Jüdischen Mülheimer in der Zeit des sogenannten Dritten Reiches.


Ab 1986 war er für zwei Jahrzehnte Vize-Vorsitzender der Gesellschaft für den christlich-jüdischen Dialog. 1993 gehörte er zu den Mitinitiatoren der Städtepartnerschaft mit dem israelischen Kfar Saba.

Dieser Text erschien am 5. Dezember 2017 in der Neuen Ruhr Zeitung  


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