Mittwoch, 31. Juli 2019

Aufklärung im Wartezimmer

Als ein Grundschulkind der 1970er Jahre kam ich schon erheblich früher In den Genuss von Aufklärungsunterricht als meine älteren Schwestern und deren Freundinnen. Umso spannender fanden sie, welche zumindest theoretischen Detailkenntnisse über das Liebesleben ihr kleiner Bruder für Details aus seinem anschaulich vermittelten Aufklärungsunterricht in der aufgeklärten Schule der 1970er Jahre mit nach Hause brachte. Später, im Gymnasium , lernte ich den Begriff der Aufklärung dann noch einmal von seiner philosophischen Seite kennen. Die Frage: „Was ist Aufklärung?“, so las und hörte ich, hatte der Königsberger Philosoph Immanuel Kant 1784 mit der Aufforderung beantwortet: „Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.“ Gestern , im Wartezimmer meines Zahnarztes wurde mir wieder einmal klar, wie Recht der alte Kant hatte. Die Arzthelferinnen hatten es gut gemeint mit den Patienten und das Fenster zur Straße weit geöffnet. Doch gut gemeint, ist nicht immer gut gemacht. Denn plötzlich wehte eine so steife Brise durch das Wartezimmer, dass die Patienten im Durchzug saßen und neben ihren Zahnschmerzen auch noch einen steifen Hals zu bekommen drohten. Doch wir alle ertrugen unser Leid still und duldsam. Bis ich auf die Idee kam, dass ich ja auch selbständig in der Lage sei, das weit geöffnete Fenster zu schließen und auf Kippe zu stellen, so dass der Durchzug abgeschaltet wurde. „Das ist wirklich eine gute Idee“, waren sich meine Mit-Insassen im Wartezimmer einig. Da fiel mir der alte Kant wieder ein, der seinen Zeitgenossen schon so manchen Zahn gezogen hatte. Und mir wurde klar, was er damit gemeint hatte: „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.“ Ich weiß zwar nicht, welchen Zahnarzt Immanuel Kant hatte, aber er seine Erkenntnis kann auch heute für uns heilsam sein. Die beste Idee nutzt nichts, solange sie niemand in die Tat umsetzt.

Dieser Text erschien am 31. Juli 2019 in der Neuen Ruhrzeitung

Dienstag, 30. Juli 2019

Man lernt nie aus

Da staunt der Leser Bauklötze. Jetzt wissen wir, warum unsere Schüler immer öfter und immer länger auf einer Baustelle lernen müssen, um ihren Schulabschluss zu bauen. Von den Rahmenbedingungen in so manchem Klassenraum, in dem Mülheim Schule macht, träumen die Damen und Herrn in den klimatisierten und durchdigitalisierten Chefetagen noch nicht mal in ihren Albträumen.
Die Stadt würde gerne manchen abschreckenden Arbeitsplatz, an dem Lehrer und Schüler fürs Leben lehren und lernen müssen, schneller in einen menschenwürdigen und wertschätzenden Lernort verwandeln, an dem Lehrende und Lernende gerne das Fundament unserer Zukunft bauen. Aber mitten in den Sommerferien, die vor allem die baustellengeplagten Lehrer und Schüler der Stadt als Auszeit von ihrer Schulbaustelle genießen, führte uns der gestrige Bericht über die Ursachen der verzögerten Schulsanierungen ein Schulbeispiel für die Baumängel unseres gemeinsamen Hauses Mülheim vor Augen.
Ausgerechnet der Fachkräftemangel, dem unter anderem in unseren Schulen entgegengesteuert werden muss, verhindert, dass die von der Stadt beauftragten und mit unseren Steuergeldern bezahlten Bau- und Handwerksunternehmen die überfälligen Schulbaustellen schnell und preiswert abarbeiten. Man braucht keinen Mathematik- oder Wirtschafts-Leistungskurs belegt zu haben, um zu wissen, dass diese Rechnung für alle Beteiligten nicht aufgehen und der Markt offensichtlich nicht alles regeln kann.
Denn je länger Schulen Baustellen bleiben, desto länger müssen wir auf Fachkräfte und Steuerzahler warten. Und je länger die kurzsichtige Gewinnmaximierung auf Kosten der Steuerzahler unsere Stadt weiter in die Schuldenfalle treibt, desto weniger Steuergeld bleibt für uns alle übrig, um unsere Stadt zum Schulbeispiel für eine lebenswerte und sympathische Stadt zu machen. Das kann aber nur gelingen, wenn in der Stadt am Fluss alles im Fluss bleibt, aber nicht alles den Bach hinuntergeht. Da wünscht man sich noch während der Schulferien spontane Nachhilfestunden für alle, die in der Verantwortung für die Baustellen unserer Gemeinde stehen und diese Lektion noch lernen müssen. 

Dieser Text erschien am 30. Juli 2019 in der Neuen Ruhrzeitung

Montag, 29. Juli 2019

Mülheim mediteran

Ich kann mich noch daran erinnern, dass wir unsere Nachbarn im Süden Europas immer etwas mitleidig und herablassend belächelt haben. Siesta war das Schlüsselwort. Für uns Wirtschaftswunder-Deutsche Arbeitstiere war es immer etwas seltsam, dass es Menschen gab, die Lebensfroh und ohne schlechtes Gewissen existieren konnten, obwohl sie sich eine mehrstündige Mittagspause gönnten und stattdessen abends länger arbeiteten. „Abends werden die Faulen fleißig“, sagt ein Sprichwort. Doch ein anderes weiß es besser. Es mahnt den Spötter: „Beurteile einen Menschen erst, wenn du einige Kilometer in seinen Schuhen gelaufen bist.“ Apropos laufen. An den heißen Tagen, die wir jetzt erlebten, war selbst die natürlichste Form der Fortbewegung zuweilen eine Zumutung. Da blieb man lieber im Schatten sitzen, wenn man ihn denn fand und tat am liebsten nichts. Und plötzlich entdeckt man in seiner arbeitswütigen deutschen Seele so etwas wie Reue und Verständnis, ob das eigenen Hochmutes vergangener Tage , als man 40 Grad im Schatten nur vom Hörensagen her kannte. Jetzt müssen wir auf unserem heimischen Teutonengrill unseren südlichen Nachbarn Abbitte tun und es ihnen gleichttun, um über den heißen Tag zu kommen. Das fiel mir auch am Samstag auf, als ich eine Familie sah, die ein Eis vom Italiener schleckte und ihre heißen Füße im feuchten Nass des Rasche-Brunnens auf der Schlossstraße abkühlten. Sage noch einer, Kunst im öffentlichen Raum sei Geldverschwendung und habe keinen Mehrwert für den Alltag. Dem seligen Mülheimer Bildhauer Ernst Rasche, der sich auch von seinen italienischen Kollegen inspirieren ließ,  sei Dank. Vergelte es ihm Gott. Möge seine edle Seele an einem wohltemperierten Ort jenseits von Zeit und Raum die ewige Glückseligkeit genießen und zuweilen auf seinen seinen Brunnen an der Schloßstraße schauen und sich über dessen handfesten Mehrwert freuen.

Dieser Text erschien am 29. Juli 2019 in der Neuen Ruhrzeitung

Sonntag, 28. Juli 2019

Geld für Gutes


Simone Silberberg strahlt Freundlichkeit und Selbstbewusstsein aus. Mit ihren 51 Jahren steht die Mutter einer 18-jährigen Tochter mit beiden Beinen im Leben. Seit Januar 2019 steht sie für die Betreuung und Gewinnung von Fördermitgliedern für den Kreisverband des Deutschen Roten Kreuzes.

Bevor Silberberg zum DRK kam, verdiente sie ihr Geld mit Messepräsentationen und als Mitarbeiterin einer Versicherung. Marketing und kaufmännisches Denken sind der Frau aus dem Ruhrgebiet also nicht fremd. Auch die Herausforderungen des  Spendensammelns hat sie als ehrenamtliche Unterstützerin eines Tierheims bereits kennen gelernt.

„Ich will dauerhaft etwas machen, was Sinn macht und Menschen hilft“, erklärt Silberberg, warum sie sich auf eine Stellenausschreibung für Betreuung der aktuell 5800 Fördermitglieder des Mülheimer DRKs beworben hat. Schon als sie das Rote Kreuz nur von außen kannte, war sie „tief beeindruckt von dem, was die Rettungskräfte des DRKs leisten.“

Inzwischen hat sie auch die Rettungshundestaffel des Kreisverbandes kennen gelernt. „Ich habe höchsten Respekt vor der Arbeit, die dort geleistet wird. Denn von meinen eigenen vier Hunden, weiß ich wie schwer es ist, ihnen etwas so beizubringen, dass sie es auch verinnerlichen. Das macht man nicht mal so eben. Da steckt viel Arbeit drin“, sagt Silberberg.

Was muss man eigentlich mitbringen, um im Dienst der guten Sache an das Geld anderer Leute heranzukommen? „Ich habe keine Berührungsängste und gehe gerne auf Menschen zu. Wenn man für andere Menschen offen ist, spüren sie das und öffnen sich im Gespräch auch selbst“, weiß Silberberg. „Natürlich sind nicht alle Menschen begeistert und freundlich, wenn ich sie auf eine Spende oder eine Fördermitgliedschaft für das Rote Kreuz anspreche. Ich kann das auch verstehen. Denn ich hole die Leute ja in der Regel unvermittelt aus ihrem Alltag heraus, in dem sie mit ihren ganz eigenen Herausforderungen, Problemen und Sorgen beschäftigt sind“, berichtet die einnehmende DRK-Mitarbeiterin. Sie lässt sich nicht nur zu Messen und Vorträgen oder in die Erste-Hilfe-Kurse einladen, um über den Sinn von Spenden und Fördermitgliedschaften für den DRK-Kreisverband zu sprechen. Sie geht dafür auch Klinken putzen, spricht auf der Straße Menschen wie dich und mich an oder sucht Gewerbetreibende in ihren Unternehmen auf.

„Ich dränge meinen Gesprächspartnern nichts auf und ich akzeptiere auch ein Nein. Aber wenn die Menschen sich erst mal auf ein Gespräch über die vielen Hilfsdienste des Roten Kreuzes einlassen und wenn sie begreifen, dass das DRK mehr ist als sein Blutspendedienst, dann sind sie auch bereit über einen einmaligen oder dauerhaften Förderbeitrag in einer für sie leistbaren Höhe nachzudenken“, beschreibt Silberberg ihre tägliche Überzeugungsarbeit. Die macht sich für den Kreisverband und seine Dienste von Rettungsdienst über die Wasserwacht, das DRK-Bürgerzentrum oder die Kindertagesstätte Rettungszwerge  und das Jugendrotkreuz bis hin zum Menüservice oder dem Hausnotrufdienst bezahlt.

„Ich sage den Leuten immer“, so Silberberg: „Jeder braucht in seinem Leben mal Hilfe. Aber diese Hilfe kommt nur dann, wenn es Menschen gibt, die durch ihren haupt- und ehrenamtlichen Arbeitseinsatz oder durch ihre finanzielle Unterstützung diese Arbeit heute, morgen und übermorgen möglich machen.“

Aber Hand aufs Herz. Spenden und Fördermitgliedschaften. Ist das nicht nur etwas für Besserverdienende? Silberberg lächelt. „Das ist relativ“, sagt sie: „Natürlich gibt es viele Menschen, die selbst kein dickes Konto haben und mit jedem Euro rechnen müssen. Aber wenn ich ihnen sage, dass uns auch schon drei Euro pro Monat als Förderbeitrag oder eine einmalige Spende weiterhelfen, werden viele doch nachdenklich. Denn sie sehen ein: Drei oder fünf Euro pro Monat. Das kann jeder leisten. Das sind vielleicht eine Packung Zigaretten oder eine Portion Pommes mit Currywurst!“

Wie steht es denn um die Spendenbereitschaft für das Rote Kreuz in Mülheim? „Vor allem junge und ältere Menschen lassen sich auf eine Spende oder eine Fördermitgliedschaft ansprechen. Die mittleren Jahrgänge tun sich schwerer damit. Denn viele von ihnen haben selbst viele Verpflichtungen oder leiden unter sozialen Abstiegsängsten, die ihre Spendenfreudigkeit heben“, berichtet Silberberg.

Den Skeptikern aus dem gebeutelten Mittelbau der Gesellschaft versucht sie Ängste vor einer unkontrollierbaren finanziellen Zusatzverpflichtung durch dem Hinweis nehmen, „dass man eine Fördermitgliedschaft für das DRK sofort und ohne Kündigungsfrist beenden kann und das Spenden an das Rote Kreuz auch steuerlich über eine Spendenquittung geltend gemacht werden können. Hinzu kommt, dass Fördermitglieder des DRK-Kreisverbandes einen 30-prozentigen Rabatt auf ihre KFZ-Versicherung, einen Rückholservice bei Unfällen im Ausland sowie eine Medical-Hotline, die bei Arzt- oder Apotheken-Kontakten im Ausland hilft, in Anspruch nehmen können. Und auch das lässt die Spendensammlerin des Kreisverbandes nicht unerwähnt: „Jeder gespendete Euro bleibt bei uns in Mülheim und kommt damit der örtlichen Arbeit des Roten Kreuzes zugute.“ 

Dieser Text erschien im Mai 2019 im Mülheimer DRK-Magazin

Samstag, 27. Juli 2019

Im Fegefeuer des Klimawandels

Es gibt noch Abenteuer, etwa bei 40 Grad Im Schatten in die Nachbarstadt fahren. Eigentlich ist das nicht der Rede wert. Es sei denn, die Deutsche Bahn hat mal wieder eine Großbaustelle und lässt ihre Fahrgäste auf den Schienenersatzverkehr umsteigen. Die Hinweise, wo welcher Bus abfährt, sind Glückssache. Außerdem fährt auch nicht jeder Schienenersatzverkehr dort lang, wo die S Bahn entlangfährt, die der ersatzweise eingesetzte Bus eigentlich ersetzen sollte. Da heißt es umsteigen und die Anschlusshaltestelle suchen. Eine Schnitzeljagd ist nichts dagegen. Lautsprecherdurchsagen und plakative Hinweise auf den Schienenersatzverkehr sind nur sparsam zu sehen und zu hören. Und der Fahrkartenautomat will meinen ungebügelten Geldschein für die Fahrkarte partout nicht annehmen. Auch die meisten Passanten verstehen beim Thema Schienenersatzverkehr nur Bahnhof. Gehen Sie nicht über Los, sondern über das nächste Reiseinformationszentrum der Deutschen Bahn und schauen sie dem nächsten Schienenersatzverkehr hinterher.

Warten in der Sonne, unter anderem mit gut gelaunten Biertrinkern, hat schon was von All inclusive.

Freundliche Servicekräfte der Deutschen Bahn retten auf der der letzten Etappe meines Heimweges im Schienenersatzverkehr die Ehre ihres Arbeitgebers, indem sie an die wartenden und in der Sonne schwitzenden Fahrgäste mit kleinen Wasserflaschen versorgen. Ein Prosit auch die gut bezahlten Vorstände der Deutschen Bahn. Mögen sie in ihren Dienstwagen und in der ersten ICE-Klasse immer unbeschadet an ihr Ziel kommen und das Unternehmen Zukunft nicht aufs Abstellgleis manövrieren, damit wir alle gemeinsam auf der Spur bleiben und nicht entgleisen, wenn es darum geht, dem Verkehrs- und Klimainfarkt zu entkommen und nicht in der Klimahölle schmoren zu müssen.



Dieser Text erschien am 27. Juli 2019 in der Neuen Ruhrzeitung

Freitag, 26. Juli 2019

Aufgeräumte Ansichten

Man wünscht sich ein schönes Wochenende und wundert sich, was dann auf einen zukommen kann. Mein Wochenende wurde vom Ausräumen eines Kellers überschattet. Weil der Hauseigentümer In Kürze an einer tragenden Wand Hand anlegen muss, musste ich in unserem Kellerraum schon jetzt Hand anlegen und ihn räumen. Was da so alles an schon fast vergessenen Altlasten vom Dosenöffner über diverses  Spielzeug bis zu einem alten Schlitten aus Kindertagen, zum Vorschein, kam machte mich ebenso nachdenklich wie der Inhalt eines Kleiderschranks, aus dem ich längst und leider in alle Richtungen herausgewachsen bin. Vieles, von dem, was inzwischen als Sperrmüll Staub angesetzt hat, war einst Objekt des persönlichen Erwerbstriebes. Um das, was jetzt in Müllsäcken und auf dem Sperrmüll landet, zu bekommen, wurden vor Jahrzehnten Arbeit, Lebenszeit, Energie und Geld aufgewendet. Und jetzt sind die früheren Wertgegenstände zu Staubfängern geworden, die sich nur noch mit viel Zeit und Energie entsorgen oder im besten Falle verschenken lassen.

Die schweißtreibende Wochenendschicht als Kellerkind erinnerte mich an einen Satz, den ich schon von meinen Großeltern gehört habe: Das letzte Hemd hat keine Taschen. Wie wahr. Auch die materiellen Dinge, die wir heute heiß begehren, werden über kurz oder lang zur Altlast und zum Sperrmüll, der weggeräumt , entsorgt oder bestenfalls verschenkt werden muss. Das ist eine Anekdote zur Senkung der Kauflaune, die uns schon heute klug machen sollte, nicht zu viel Lebenszeit, Energie und Geld in Dinge zu investieren, deren Halbwertszeit begrenzter ist, als wir das wahrhaben wollen. Denken wir deshalb schon heute daran, dass die Lebenszeit und Energie, die wir in den Erwerb materieller Dinge investieren, uns davon abhalten Energie, Geld und Lebenszeit Augen in die Dinge zu investieren, die uns Lebensfreude bescheren und die dank unserer Erinnerung kein Verfallsdatum kennen und deshalb auf keinen Sperrmüllhaufen unserer Lebensgeschichte landen werden.

Dieser Text erschien am 15. Juli 2019 in der Neuen Ruhrzeitung

Donnerstag, 25. Juli 2019

Fleischlos in der Innenstadt

Die Nachricht schlug mir beim Samstagseinkauf auf den Magen. Der Metzger meines Vertrauens, der mich schon als Knirps mit der einen oder anderen Gratis-Scheibe Fleischwurst versorgt hat, schließt sein Fleischerei Fachgeschäft an der Leineweberstraße zum Ende des Monats. Zum Abschied gab es am Samstag schon mal vorab ein Küchenmesser. Doch den Fleischwurstkranz, dessen Pelle man mit diesem Messer aufschneiden kann, muss ich als Eingeborener der Innenstadt ab August woanders einkaufen. Mit dem Fleischereifachgeschäft Pieper schließt zum Monatsende die letzte Metzgerei in der Innenstadt. Damit ist so manches Dorf lebensmitteltechnisch besser aufgestellt als die City der Großstadt Mülheim. Hinter der Theke hört man von den freundlichen Fleisch Fleischereifachverkäuferinnen, die immerhin schon neue Arbeitsplätze außerhalb der Mülheimer Innenstadt gefunden haben, dass das Umfeld nicht mehr gestimmt habe. Das Straßenpflaster vor der Tür, auf dem selbst Hunde nur noch ungern auf ihr Herrchen und sein Mitbringsel aus der Metzgerei warten, spricht Bände davon, dass es für die Innenstadt und ihre Bewohner schon länger um die Wurst geht.

Wenn uns Innenstädter künftig die Fleischeslust überkommt, müssen wir also in den nächsten Supermarkt, der auch nicht immer eine Fleischtheke im Angebot hat. Dann heißt es entweder: „Raus aus der Innenstadt!“ oder: „Welche Packung darfs denn sein?“ Wer alt und nicht mehr mobil ist, muss als armes Würstchen zu Hause bleiben und darauf hoffe, dass ihm ein freundlicher Hans Wurst ein gutes Stück Fleisch von seiner Einkaufstour mitbringt. Ein Pflaumen-August könnte auf die Idee kommen: Machen wir doch aus der Not eine Tugend und werden Vegetarier oder noch besser: Wir legen in der Innenstadt Äcker und Beete und bauen unsere Lebensmittel künftig selber an. Da wird für das eine oder andere Schwein oder Rindvieh auch noch ein Platz frei sein. Urban Gardening und Ferien auf dem Bauernhof liegen ja voll im Trend und sind zudem noch co-2-neutral. Alle reden von der Klimawende. Wir machen sie.

Dieser Text erschien am 22. Juli 2019 in der Neuen Ruhrzeitung

Mittwoch, 24. Juli 2019

Günther Smend: Der Mülheimer an Stauffenbergs Seite


Auch ein Mülheimer gehörte zu den Männern des militärischen Widerstandes, die sich um den Grafen von Stauffenberg versammelten, um Hitler am 20. Juli 1944 zu töten und damit den Krieg und die Diktatur zu beenden.

Günther Smend wurde 1912 in Trier geboren. Er wuchs zunächst in Berlin und ab 1924 in Mülheim auf. Dorthin war sein Vater Julius, ein Hauptmann und Berufsoffizier der Reichswehr, versetzt worden. Die Familie Smend wohnte im Luisental 11, wo 2007 im Andenken an Günther Smend ein Stolperstein verlegt wurde. Schon seit den frühen 1950er Jahren erinnert im Luisental ein „Mann in Ketten“ als Mahnmal an alle Menschen, die wie Günther Smend Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft geworden sind.

Sein Weg in den militärischen Widerstand begann nach der militärischen Ausbildung in Detmold, Kampfeinsätzen in Russland und Frankreich und dem Besuch der Berliner Kriegsakademie 1943 mit seiner Versetzung in den Generalstab des Heeres. Dort diente Smend als Adjutant dessen Chef, dem Generaloberst Kurt Zeitzler. Wie Stauffenberg und andere Generalstabsoffiziere, teilte Zeitzler die Kritik an Hitlers Entscheidungen, wollte aber nicht so weit wie sein Adjutant gehen. „Dies ist ein Nicht-Gespräch“, wies Zeitzler Smends Versuch zurück, ihn zur Teilnahme am aktiven militärischen Widerstand zu überzeugen. Auch wenn ihn sein Vorgesetzter nicht verriet, wurde Smends Verbindung zu Stauffenberg und dessen Mitverschwören nach dem gescheiterten Attentat vom 20. Juli 1944 offenkundig.

In der Nacht des 20. Juli rief Smend seine Frau Renate an, die damals mit ihren Kindern Henriette (4), Rudolf (3) und Axel (4 Monate) in Lüneburg lebte. Es war der letzte Kontakt zwischen den Eheleuten und Eltern. Am 1. August wurde Günther Smend als Mitwisser des Hitler-Attentates am Lerther Bahnhof in Berlin verhaftet und am 30. August 1944 in einem Schauprozess vor dem Volksgerichtshof zum Tode durch den Strang verurteilt. Das Urteil des Blutrichters Roland Freisler wurde am 8. September 1944 im Berliner Gefängnis Plötzensee vollstreckt.

Innere Kraft hatte Günther Smend während der Haft durch die Lektüre des theologisch-philosophischen Gedichtbandes „Gedanken sind Kräfte „ gewonnen. In diesem Band hatte er unter anderem folgende Sätze unterstrichen: „Ich habe einen guten Kampf gekämpft. Ich habe den Lauf vollendet. Ich habe Glauben gehalten.“

Nach der Ermordung ihres Mannes musste Renate Smend alleine für ihre Kinder sorgen. Immerhin gab es gute Menschen wie den Schweizer Arzt Albrecht von Erlach, der die Kinder der 1944 hingerichteten Widerstandkämpfer während der frühen Nachkriegsjahre zum Erholungsurlaub ins Berner Oberland einlud. Doch es sollte bis zum Ende der 1950er Jahre dauern, bis sie die ihr zustehende Witwen- und Waisenrente erhielt. Auch die Smends mussten noch in den 1950er Jahren erleben, dass ihr Ehemann und Vater nicht als Held, sondern als Verräter angesehen wurde. Das hat sich in der Erinnerung seines jüngsten Sohnes Axel erst in den 1960er Jahren geändert, als immer mehr junge Menschen ihre Eltern kritisch fragten: „Wo wart ihr damals und was habt ihr damals gemacht?“ Bei einem Besuch an der Schule seines Vaters sagte der Berliner Rechtsanwalt Dr. Axel Smend vor Otto-Pankok-Schülern: „Haben Sie Mut zur Verantwortung in einer Zeit, in der es an extremistischen Verführern nicht fehlt.“ Und er zitierte den studentischen Widerstandskämpfer Hans Scholl: „Nicht wir müssen etwas tun, sondern ich muss etwas tun.“ 

Erbe und Erinnerung


Heute engagiert sich Günther Smends jüngster Sohn Axel als Kuratoriumsvorsitzender der Stiftung 20. Juli 1944. Die Stiftung wurde 1949 von Angehörigen der Widerstandskämpfer gegen Hitler ins Leben gerufen. Ging es in den ersten Jahren vor allem um materielle Unterstützung der Hinterbliebenen und um die rechtliche Rehabilitierung der Männer und Frauen des Widerstandes, so ist die Stiftung heute zusammen mit der Bundesregierung und der Gedenkstätte Deutscher Widerstand Mitveranstalter der alljährlichen Gedenkfeiern im Berliner Bendler-Block. Außerdem bemüht sich die Stiftung mit Ausstellungen und Veranstaltungen Menschen aus allen gesellschaftlichen Gruppen über den Widerstand gegen den Nationalsozialismus zu informieren und damit das Eintreten für unsere Demokratie und unseren Rechtsstaat zu fördern. Mehr Informationen gibt es im Internet unter: www.stiftung-20-juli-1944.de

Dienstag, 23. Juli 2019

Mülheimer Christen im Widerstand


Auch in Müllheim unter dem Hakenkreuz gab es Männer des Kreuzes, die die Frohe Botschaft der christlichen Nächstenliebe ernst nahmen und dem Unrechtsregime Hitlers widerstanden.

Zu ihnen gehörten der 1870 geborene Präses der katholischen Arbeiterbewegung in Westdeutschland (KAB), Dr. Otto Müller, der 1896 geborene Styrumer Kaplan und Pfarrer Heinrich Küppers und der 1891 geborene evangelische Altstadtpfarrer Ernst Barnstein.

Otto Müller war als Sohn eines katholischen Volksschullehrers in Heißen aufgewachsen und hatte 1889 am Mülheimer Gymnasium an der Schulstraße sein Abitur bestanden. Danach studierte er Theologie, Philosophie und Staatswissenschaften. Seine Doktorarbeit schrieb über die christliche Arbeiterbewegung. Seine Arbeit als Priester war vom Einsatz für die Rechte und die Bildung der Arbeiter geprägt. Schon als Kaplan sagte er: „Ich will Jesus Christus in den Menschen heranbilden. Die Arbeiter brauchen keine Caritas, sondern Gerechtigkeit.“ Zum Unwillen seines Bischofs, kritisierte der „rote Kaplan“ das bis 1918 geltende preußische Dreiklassenwahlrecht, das den Stimmen der reichen Wähler deutlich mehr Gewicht gab als den Stimmen der Armen. Als kritischer Geist konnte Müller die Terrorherrschaft der Nationalsozialisten nicht hinnehmen und verschrieb sich dem aktiven Kampf gegen Hitler. Als Präses der KAB schrieb MülIer 1938 an deren Mitglieder: „Wo keine Ehrfurcht vor Gott ist, da kann auch keine Ehrfurcht vor allem sein, was Menschenanlitz trägt, nicht Mitleid mit Armen, Kranken und Schwachen, nicht Gerechtigkeit gegen Jedermann, und nicht jene Liebe, die du, Jesus, uns befohlen und vorgelebt hast, dem Nächsten zu geben, was wir uns selbst an Glück und Wohlergehen wünschen. So lass alle, die sich unsere Mitglieder nennen, in der Gemeinschaft, in der sie mit mir stehen, frei bleiben vom Gift des gottentfremdeten Denkens.“ Vom Wort schritt Müller zur Tat. Er traf sich 1943 mit dem Generaloberst Ludwig Beck und mit dem ehemaligen Leipziger Oberbürgermeister Carl-Friedrich Goerdeler, die nach einem geglückten Attentat auf Hitler Reichspräsident und Reichskanzler werden sollten. Mit ihnen beriet Müller über eine Staatsordnung nach Hitlers Sturz. Den Rat, aus Nazi-Deutschland zu fliehen, lehnte Müller ab. Er wollte dazu beitragen, „das nationalsozialistische Unglück zu beenden.“

Seine gegen das Regime gerichteten Aktivitäten blieben der Geheimen staatspolizei nicht unbekannt und so wurde er nach dem Attentat auf Adolf Hitler im September 1944 verhaftet, in Berlin inhaftiert und gefoltert. Blind und von der Haft gezeichnet starb er am 12. Oktober 1944 im Berliner Polizeikrankenhaus.

Der Styrumer Kaplan, Jugendseelsorger und spätere Styrumer Pfarrer, Heinrich Küppers hatte sich ab Mitte der 1930er Jahre durch Regime kritische Äußerungen und Kritik an führenden NS-Funktionären den Unwillen und die Inhaftierung durch die Geheime Staatspolizei zugezogen. 1944 führte ihn sein Leidensweg ins Konzentrationslager Dachau. Er überlebte das Kriegsende, blieb aber von der Haft gezeichnet. Küppers starb 1955. Bei seiner Beisetzung in Styrum sagte der damalige Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde, Salomon Lifsches, über ihn:  „Du hast im Gefängnis täglich für uns gebetet. Dau hast für uns und für Häftlinge aus allen Nationen noch in der Haft gesorgt, dass wir nicht verhungerten. Du hast uns, bevor wir ins KZ überwiesen wurden, deinen priesterlichen Segen geschenkt. Du warst ein wahrer Engel Gottes.“

Mehr Glück im Unglück hatte der zur regimekritischen bekennenden Kirche  gehörende evangelische Altstadtpfarrer Ernst Barnstein. Auch er wurde von der geheimen Staatspolizei inhaftiert, doch schon nach relativ kurzer Zeit wieder freigelassen, weil der Mülheimer Gestapo Chef Karl Kolk seine schützende Hand über ihn hielt. Anders, als die evangelischen Pfarrer, die sich zu den regimetreuen Deutschen Christen zählten, prangerte Barnstein in seinen Predigten die Judenverfolgung und den Terror der Nationalsozialisten an. Trotz Verbotes bildete er Vikare für die Bekennende Kirche aus. Seine von der Bergpredigt inspirierte  Jugendarbeit war ein Kontrastprogramm zur nationalsozialistischen Erziehung. Was Barnstein neben der Sympathie Kolks schützte, war seine enorme Popularität bei den Gemeindemitgliedern. Seine Gottesdienste zogen zehnmal mehr Besucher in die Petrikirche als die der Deutschen-Christen-Pfarrer. Aber auch Barnstein konnte nicht verhindern, dass 4600 der ursprünglich 35.000 Gemeindemitglieder zwischen 1933 und 1945 dem nationalsozialistischen Zeitgeist folgten und ihrer Kirche den Rücken kehrten. (T.E.)

In Memoriam


Der 1975 verstorbene Ernst Barnstein, nach dem seit 1989 der Platz an der Petrikirche benannt ist, stand von 1946 bis 1961 als Superintendent an der Spitze des evangelischen Kirchenkreis an der Ruhr. Damals konnte er den Wiederaufbau der 1943 zerstörten Petrikirche miterleben und begleiten. In der Heißener Kirche St. Joseph erinnert seit 1963 ein von Maria Katzgrau gestaltetes Fest an den katholischen Widerstandskämpfer Otto Müller. Im Oberhausener Teil Styrums gibt es einen nach Heinrich Küppers benannten Weg.

Dieser Text erschien am 18. Juli 2019 in NRZ & WAZ

Montag, 22. Juli 2019

Drei Mülheimer gegen Hitler


20. Juli 1944: Das Attentat auf Adolf Hitler scheitert. Doch dieser Versuch den deutschen Diktator zu stürzen, um Krieg und Gewaltherrschaft zu beenden, bleibt zeitlos erinnernswert und identitätsstiftend. Die Widerstandskämpfer um den Grafen von Stauffenberg stehen für ein besseres Deutschland. Zu den Rund 5.000 Regimegegnern, die nach dem Attentat reichsweit verhaftet wurden, gehörten auch die im März 1933 gewählten und im Juni 1933 von der NS-Regierung abgesetzten Mülheimer Stadtverordneten Fritz Terres (KPD) und Wilhelm Müller (SPD). Ihr Ratskollege Otto Gaudig von der KPD saß zum Zeitpunkt des Attentats bereits in Haft und wurde im August 1944 wegen seiner Widerstandsaktivitäten gegen die Hitler-Herrschaft zu acht Jahren Haft verurteilt. Terres, Müller und Gaudig bezahlten ihren Kampf gegen Hitler mit dem Leben. Heute erinnert eine Gedenktafel am Eingang zum Ratssaal an sie. Terres, Gaudig und Müller waren Teil des politischen Widerstandes gegen die Nationalsozialisten, die nach ihrer Machtübernahme mithilfe des greisen Reichspräsidenten Paul von Hindenburg und seiner Notverordnungen die Grundrechte der Weimarer Reichsverfassung abschafften, um ihre Gegner ungehemmt verfolgen zu können. Kommunisten und Sozialdemokraten gehörten zu den Hauptgegnern der Nationalsozialisten.

Waren die kommunistischen Stadtverordneten Terres und Gaudig bereits nach dem Reichstagsbrand vom 27. Februar 1933 verhaftet und ins Konzentrationslager Börgermoor gebracht worden, konnte ihr Ratskollege Wilhelm Müller, damals Vorsitzender der SPD Fraktion, mit seinem Genossen am 30. März 1933 noch gegen die Verleihung der Ehrenbürgerschaft an den Reichspräsidenten Paul von Hindenburg und der Reichskanzler Adolf Hitler stimmen. Das verziehen ihm die Nationalsozialisten nicht und setzten ihn wie Terres und Gaudig auf ihre schwarze Liste.

Der 1907 geborene Terres, der 1878 geborene Gaudig und der 1890 geborene Müller waren gewerkschaftlich aktive Arbeiter und Handwerker. Müller arbeitete von 1921 bis 1933 als hauptamtlicher Sekretär für den Deutschen Metallarbeiterverband. Die Machtübernahme der Nationalsozialisten bedeutete für Müller, Gaudig und Terres die Zerstörung ihrer politischen und bürgerlichen Existenz. Sie wurden in Schutzhaft genommen, von der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) verhört und gefoltert. Ihre Arbeit als Gastwirt (Gaudig) und als Brotfahrer (Müller) war für sie Broterwerb und Teil ihrer Widerstandsaktivitäten. Bis zu dessen Zerschlagung im Jahr 1936 bewegten sie sich in einem Widerstandskreis, zu dem Kommunisten, Sozialdemokraten und regimekritische Christen gehörten. Ihnen allen war klar, dass der Nationalsozialismus für unser Land eine moralische Katastrophe war. Mit Beginn des Zweiten Weltkrieges verschärfte die GESTAPO die Beobachtung der Regimegegner. Nachdem das Attentat auf Adolf Hitler gescheitert war und sich die militärische Niederlage der Wehrmacht abzeichnete, wurden auch Fritz Terres und Wilhelm Müller im Juli und August 1944 verhaftet. Zunächst im Oberhausener Polizei Gefängnis inhaftiert, deportierte man sie von dort aus in die Konzentrationslager Sachsenhausen-Oranienburg und Hamburg-Neuengamme. Der Sozialdemokrat Wilhelm Müller machte den Fehler, sich in Neuengamme krank zu melden. Das bedeutete seinen Tod durch unterlassene Hilfe, Gewalt und Hunger. Die Todesursache Lungenentzündung, die Müllers Frau Margarete mitgeteilt wurde, war eine Schutzbehauptung, keine Tatsache.

Vergeblich hatte Margarete Müller nach der Verhaftung ihres Mannes in einem Brief an die SS-Dienststelle Düsseldorf geschrieben: „Ich vertrete meinen Mann als Brotfahrer und trage damit zur Ernährung der Bevölkerung bei. Mein Mann hat auch Bäckereien mit Brot beliefert deren Meister eingezogen sind. Für unseren Sohn Willi, der seit zwei Jahren Frontkämpfer ist, ist es niederdrückend, seinen Vater in Schutzhaft zu wissen Ich bitte dies zu würdigen und meinen Mann schnellstmöglich zu entlassen. 
Wilhelm Müller hatte noch wenige Wochen vor seinem Tod im Konzentrationslager Neuengamme an seine Frau und seinen Sohn Willi, der von 1965 bis 1980 für die SPD im Bundestag sitzen sollte, geschrieben „Ich muss den Weg gehen, den das Schicksal mir vorschreibt. Aber ich bin überzeugt, dass wir uns wiedersehen. Ich habe manche Härte überwunden und gebe die Hoffnung nicht auf. Ich glaube fest daran, dass du (Willi)  uns gesund und munter nach Hause kommst. Dann wird das große Europa und die neue Welt gebaut. Und dabei werden wir ein gewichtiges Wort mitreden. Denn siegen werden nur wir.“

Auch der am 20. Juli verhaftete Fritz Terres erlebte das Ende des Zweiten Weltkrieges nicht. Er wurde am 10. April 1945 Opfer eines Luftangriffs auf das Konzentrationslager Sachsenhausen. Wenige Tage danach wurde sein Genosse Otto Gaudig mit 70 anderen Inhaftierten bei Langenfeld von SS-Einheiten erschossen und in einem Markt Massengrab verscharrt.



Dieser Text erschien am 16. Juli 2019 in NRZ & WAZ

Sonntag, 21. Juli 2019

Pflege nimmt Politik unter die Lupe

Die Pflegestärkungsgesetze des Bundes haben die Realität in den Pflegeheimen nicht verbessert. Darin waren sich rund 30 Führungs- und Fachkräfte der Mülheimer Pflegeheime mit ihrem Referenten, dem Hamburger Sozialrechts-Professor und Rechtsanwalt Roland Richter einig.
Bei einer Fachtagung ihrer Arbeitsgemeinschaft im Haus Ruhrgarten kritisierte Roland Richter nicht nur die verantwortlichen Gesundheits- und Sozialminister des Bundes und der Länder, sondern auch die „nicht funktionierende Rückkopplung“ zwischen den Spitzenfunktionären der Berufsfachverbände und den Praktikern in den Pflegeheimen.

Finanzierung aus einer Hand

Viel wäre aus Sicht des Hamburger Pflegerechtsexperten gewonnen, wenn die Pflegedienstleistungen nicht aus diversen Budgets über Landschaftsverbände, Bezirksämter und Sozialämter, sondern einheitlich durch den Bund finanziert würde. „Wer die Musik bestellt, muss sie auch bezahlen“, sagt Richter mit Blick auf die Auswirkungen der Pflegestärkungsgesetze auf die stationäre und ambulante Pflege. Er plädiert für eine Pflegeversicherung im Rahmen einer umfassenden gesetzlichen Krankenversicherung. Auch die Tatsache, dass Pflegekräfte in der ambulanten Pflege im Durchschnitt 20 Prozent weniger verdienen als ihre Kollegen in den stationären Pflegeeinrichtungen, würde er als Bundesgesundheitsminister revidieren. „Diese Einkommensschere muss weg“, sagt er. Unabhängig von der Frage, ob die in der Altenpflege gebrauchten Fachkräfte auf dem deutschen oder internationalen Markt zu bekommen sind, weist Richter darauf hin, dass das Schließen der Personallücke in der stationären Pflege in Deutschland bis zu 5 Milliarden Euro kosten würde.

Auch auf die Basis hören

Den Gesundheits- und Sozialministern des Bundes und der Länder rät der Jurist, sich nicht nur von sogenannten Pflegeexperten aus den Chefetagen der Fachverbände, sondern auch von Leuten aus der Pflegepraxis beraten zu lassen. Mit welcher Bürokratie die Pflegekräfte in den Pflegeheimen von ihrer eigentlichen Arbeit abgehalten werden, macht sein Parforceritt durch die 400-seitige Pflegedokumentation deutlich.
Der Geronto-Psychiater, Helmut Schaffert, der die Arbeiterwohlfahrt in Fragen der Altenpflege berät, sieht das Grundproblem darin, „dass der tatsächliche Zeit- und Arbeitsaufwand in der Pflege in ihrer auf den fünf Pflegraden basierenden Finanzierung nicht abgebildet wird.“ Er könnte sich auch eine steuerfinanzierte Pflege vorstellen wie sie in Dänemark bereits praktiziert wird.

Pflegefachlehrer fehlen

„Positiv überrascht“ ist der Leiter der Bildungsakademie für pflege Berufe des Kreises Mettmann, Bodo Keißner-Hesse davon, „dass immer noch so viele junge Leute positiv und mit voller Überzeugung trotz der schwierigen Rahmenbedingungen in die Altenpflege gehen.“ Er weist darauf hin, dass es zurzeit nicht nur einen Mangel an Pflegefachkräften sondern auch an Pflegefachlehrern gibt. Allein in Nordrhein-Westfalen fehlen, laut Keißner-Hesse, aktuell 770 Pflegefachlehrer. Dieser Mangel führe dazu, so Keissner-Hesse, derzeit stellvertretender Vorsitzender des Bundesverbandes der Altenpflege, dass 15.000 Bewerber für den Altenpflegeberuf gar nicht ausgebildet werden könnten. Die Folge: Trotz eines akuten Fachkräftemangels in der Altenpflege hat Keißner-Hesses Bildungsakademie eine Warteliste, auf der bisher noch nicht berücksichtigte Bewerber stehen. Ebenso wie Roland Richter, sieht Keißner-Hesse die ab 2020 greifende Generalisierung der Pflegeausbildung sehr skeptisch: „Wir werden an Breite gewinnen, aber an Tiefe verlieren“, fürchtet er. In diesem Zusammenhang macht der Sozialrechts Professor Richter deutlich, dass die von der Bundesregierung versprochen 13.000 Pflegekräfte noch lange nicht in der Praxis angekommen sind. Seine Blitz-Umfrage unter den 50 anwesenden Altenpflege-Führungs- und Fachkräften macht das deutlich. Nur eine Hand geht nach oben, als er danach fragt, welche Pflegeeinrichtung denn schon eine der 13.000 neuen Altenpflegefachkraftstellen habe einstellen können. Helmut Schaffert erklärt diese Tatsache mit dem ungemein aufwendigen Antragsverfahren, das viel zu viel Zeit von Altenpflegefachkräften binde.

Der Personalschlüssel entscheidet

Professor Richter macht deutlich, dass die Schaffung neuer Stellen nicht ausreicht, wenn nicht auch der Personalschlüssel an die praktischen Bedürfnisse der Altenpflege angepasst werde. „So werden zusätzliche Kräfte in der nächtlichen Betreuung der Pflegeheimbewohner kontraproduktiv auf den Personalschlüssel der Tagesbetreuungskräfte angerechnet, so dass am Ende kein wirklicher Gewinn für die Einrichtung und ihre Bewohner bleibt.“

Dieser Text erschien am 17. Juli 2019 im Lokalkompass der Mülheimer Woche

Samstag, 20. Juli 2019

Reif für Olympia

Eigentlich sind Mutter und ihre Altersgenossen aus der Generation Uhu (U 100) reif für Olympia. Denn wenn sie mit dem Rollator, an Krücken oder im Rollstuhl in der Mülheimer Innenstadt unterwegs sind, ist das der reinste Hindernislauf. Da kann man nicht einfach, immer der eigenen Nase nach, gerade aus gehen, humpeln oder rollen wie einem gerade der Sinn steht. Da muss man schon mit einiger Energie und Kondition eine Hürde nach der nächsten nehmen oder wie beim Slalom geschickte Haken schlagen. Hier ein aufgeplatztes Schlagloch, dort eine unvorhergesehene Bodenwelle, hier ein Plakatwerbeständer, dort ein Kleiderständer, hier ein Rollwagen mit ausgelegten Sonderangeboten, dort vergessene Hausmülleimer oder Sperrmüllhaufen. Zu den immobilen kommen natürlich die mobilen Hindernisse, die beim täglichen Mehrkampf in der City einkalkuliert werden müssen.
„Ist das denn nicht mehr die Fußgängerzone? Dürfen die hier alle fahren?“ hörte ich gestern eine alte, am Stock gehende, Dame zu ihrer Begleiterin sagen, als sie sich auf dem immer anspruchsvoller werdenden Military-Parcours an der Leineweberstraße von zwei Lieferwagen, einer Taxe und einem Fahrrad eingekesselt sah. Da fehlte nur noch ein E-Roller, um den Mobilitätsmix komplett zu machen.
Die alte Dame war heilfroh, als sie die Sitzgarnitur des nächsten Straßencafés schadlos erreichte und sich dort für den Rest ihres Heimwegs mit einer Tasse Kaffee dopen konnte. Sollte Olympia im Ruhrgebiet irgendwann mal Wirklichkeit werden, sollte sich die Mülheimer Innenstadt unbedingt für den noch einzuführenden Mehrkampf im Senioren-Military- Mehrkampf bewerben. Motto: Nur die Harten kommen in den Garten oder an die Ruhr. Auch abseits von Olympia könnte Mülheim in dieser Sportart das werden, was heute Hawai und sein Wettkampf um den Ironman für die Triathleten ist.
Dieser Text erschien am 20. Juli in der Neuen Ruhrzeitung

Freitag, 19. Juli 2019

Papier ist geduldig

Ausgerechnet beim Radiohören ging mir gestern auf, wie gut es ist, dass es immer noch eine gedruckte Zeitung gibt. In jüngster Zeit habe ich den Eindruck, dass die Kollegen vom Funk wie von der Tarantel gestochen sind. Vor allem in die Reporter, die von der Börse und vom Tagessport berichten, aber nicht nur die , werden immer schneller. Selbst als normal hörender Mensch fällt es einem immer schwerer, ihrer Informationsraserei zu folgen. Vielleicht hat es damit zu tun, das gerade im Sport und an der Börse oft Sekunden zählen, die über Sieg oder Niederlage beziehungsweise über Gewinn oder Verlust entscheiden.
Kaum hat man sich als geneigter Frühstückshörer zwischen Kaffee, Brötchen, Wurst  und Marmelade auf eine Nachricht eingelassen, kommt auch schon die nächste wie aus der Pistole geschossen. Und am Ende weiß man gar nicht mehr recht, was man überhaupt gehört hat. Hinzu kommt, dass Fußballvereine, siehe Borussia Dortmund, inzwischen ja auch als Aktiengesellschaften an der Börse notiert sind. Man sieht: Auch der Sport ist schon lange nicht mehr die reine Freude. Auch auf seinem Spielfeld geht es um knallharte Gewinne und Verluste in Euro, Dollar und Cent. Na, dann: Hals und Beinbruch. Da bin ich als Zeitgenosse, der das digitale Zeitalter noch aus der Perspektive eines noch im analogen Steinzeitalter aufgewachsenen Menschen erlebt, doch ganz froh, dass ich bei meinen täglichen Nachrichten, die mir nicht nur morgens aufs Butterbrot geschmiert werden, nicht allein von den flüchtigen Funker abhängig bin, sondern alles noch einmal in Ruhe in meiner Zeitung nachlesen kann. Papier ist eben geduldig und verträgt auch den ein oder anderen Kaffee oder Fettfleck. So schön langsam kann eine Zeitreise ins analoge informationszeitalter sein.

Dieser Text erschien am 19. Juli 2019 in der Neuen Ruhr Zeitung

Donnerstag, 18. Juli 2019

Mülheim macht Berlin was vor

Wer hätte das gedacht? Die Mülheimer Sozialdemokratie ist ihrer Bundespartei voraus. Während sich die Genossen auf der Bundesebene noch winden wie ein Aal, um eine Frau, einen Mann oder beides zu finden, um die Sozialdemokratie aus ihrer Existenzkrise herauszuführen, haben die Mülheimer Genossen mit der Europaparlaments-Kandidatin Sina Breitenbruch-Tiedtke und dem Stadtverordneten Rodion Bakum gleich zwei vielversprechende politische Talente, die sich um den Vorsitz der ebenfalls nicht gerade erfolgsverwöhnten Mülheimer SPD bewerben. Vielleicht sollten sich die beiden ja sogar zu einem Tandem zusammentun, um die alte Tante SPD wieder flott zu bekommen.

In den Zeiten von Fridays for Future, in denen die Jungen  in Sachen Klimawandel und Energiewende nicht nur den altvorderen Genossen Beine machen, ist es ein demografischer Wandel der besonderen Art, dass es jetzt ausgerechnet ganz junge Mülheimer Genossen sind, die ihre alte Partei aus der Krise führen wollen. Zwei so entschlossene Frontleute würden sich ihre Bundes-Genossen in Berlin auch wünschen. Die Feststellung des vormaligen SPD Chefs Franz Müntefering: „SPD Vorsitzender, das ist das schönste Amt neben dem Papst“, klingt angesichts der aktuellen Lage der ältesten deutschen Partei wie eine Anekdote aus anno dazumal.

Aber vielleicht müssen ja gerade in solchen Krisenzeiten, in denen es auch darum geht alten Ballast abzuwerfen, die ganz Jungen ran, die weniger belastet sind von den Fehlern und Vorurteilen der Vergangenheit. Apropos Papst und SPD. Vielleicht würde ja auch der Katholischen Kirche mal eine Doppelspitze aus vergleichsweise jungen Leuten ganz gut tun, um in die Zukunft aufzubrechen und nicht in den Schatten Der Vergangenheit hängen zu bleiben. Aber ich befürchte, dass das angesichts der Mehrheitsverhältnisse in der römischen Kurie bis auf weiteres so unwahrscheinlich ist wie die Möglichkeit, dass die SPD beim bekanntermaßen Kapitalismus-kritischen Papst Franziskus anfragt, ob er nicht neben seinen Papstamt auch das, laut Franz Müntefering, zweitschönste Amt der Welt übernehmen möchte. Die Genossen könnten ja vielleicht schon mal mit Beten reinhängen. Das kann nie schaden. 

Dieser Text erschien am 18. Juli 2019 in der Neuen Ruhrzeitung

Mittwoch, 17. Juli 2019

Unter Strom

Es gibt Berichte, die würde man gerne auch im Mülleimer Lokalteil lesen. So ging es mir gestern, als ich einen Bericht über die plötzliche Renaissance des Siemens-Standortes Görlitz las. Dort wurde rechtzeitig vor der sächsischen Landtagswahl der Startschuss für einen Innovationscampus in Sachen erneuerbare Energietechnologie gegeben, der unter anderem mit einer Investition von 30 Millionen Euro und der Schaffung von 100 neuen Arbeitsplätzen verbunden ist.

Außerdem soll die Stadt an der Neiße, deren Siemns-Standort vor zwei Jahren noch vor der Schließung stand, mit seinen über 1.000 Arbeitsplätzen Hauptstandort für die Turbinen-Produktion werden. Man ist geneigt, frei nach Goethe zu sagen: „Sachsen, du hast es besser!“

 Vom Mülheimer Siemnes-Standort musste man zuletzt leider gegenteiliges lesen. Angesichts von fast 600 der insgesamt 4500 Mülheimer Siemens-Arbeitsplätzen, die bis 2023 in der Stadt an der Ruhr wegrationalisiert werden sollen, bleibt uns hier im Westen, wo wir nicht nur die Starrampe für den Aufbau Ost waren, einstweilen nur das Prinzip Hoffnung.

Aber die politischen und wirtschaftlichen Kraftmeier und Netzwerker tun gut daran, bei der Energiewende auch das Ruhrgebiet der einst 1000 Feuer nicht zu vergessen. Denn auch hier kommen die nächsten Wahlen ganz bestimmt und dann wollen die Menschen nicht nur in unserer Stadt an der Ruhr und bei Siemens eine ehrliche Energiewende-Perspektive sehen, die von Menschen nicht nur bezahlt, sondern auch von ihnen selbst mit Maschinenkraft bewerkstelligt wird. Wenn Zukunftsmusik wie die des Energie-Spitzen-Clusters Ruhr oder eines Zentrums für Energiewendetechnik am Ende nicht mit Leben und Jobs gefüllt wird, könnten so manche kühlen Strategen mit ihren hochfliegenden Energiewende-Visionen hart auf dem Boden der Tatsachen landen und mehr Feuer unter ihrem Allerwertesten gemacht bekommen als uns allen lieb sein kann.


Dieser Text erschien am 16. Juli 2019 in der Neuen Ruhrzeitung

Dienstag, 16. Juli 2019

Hast du Töne?

Mit Musik geht alles besser. So sagt man. Als Schüler machte ich meine Hausaufgaben auch gerne unter den entspannenden Klängen klassischer Musik, wenn meine Motivation und geistige Spannkraft nachzulassen drohten. Im Fach Mathematik konnte mich aber auch die schönste Symphonie nicht in die Leichtigkeit des Seins versetzen und meinen Geist auf das hohe C bringen. Mathematik, ob daheim oder in der Schule, war für mich stets ein Trauermarsch oder bestenfalls ein Kriminaltango. Heute lassen es Schüler bei der musikalischen Begleitung nicht mehr mit Musik in den eigenen 4 wänden bewenden. Sie lassen sich via Smartphone und Kopfhörer auch unterwegs, zu Fuß, auf dem Fahrrad oder in der Straßenbahn beschallen. Den Höhepunkt der musikalischen Ausgelassenheit erlebte ich jetzt in einem Mülheimer Fachmarkt für Unterhaltungselektronik. Dort nutzten Schüler ihre Schulferienfreizeit dafür, um sich die Neuheiten auf dem Audio- und Hifi-Markt nicht nur anzuschauen, sondern die Probe aufs Exempel zu machen. Sie drehten eine Musikanlage gleich soweit auf, das allen Verkäufer und Kunden das Hören und Sehen verging und legten passend zum Sound ihrer Wahl zwischen den Regalen eine kesse Sohle aufs Parkett.

Auch ihre sehenswerte Tanzeinlage, die zweifellos Unterhaltungswert hatte, konnte einen erstaunlich dynamisch aus der Tiefe des Raumes heranspurtenden Verkäufer nicht daran hindern, ihr lautstarkes Gastspiel mit einem Platzverweis und einigen schroffen Missklängen zu einem Finale Infernale zu bringen.

Die so gescholtenen Schüler zogen sich denn auch piano zurück und mussten auch in den Schulferien eine Lektion lernen, die da heißt: Ohne Moos ist nichts los. Und wo du nicht bist Herr Jesus Christ, da schweigen alle Flöten, ganz zu schweigen von der Unterhaltungselektronik, die nur den unterhält und zum Tanzen bringt, der vorher die Kassen hat klingeln lassen. Der Rest ist Schweigen.

Dieser Text erschien am 16. Juli 2019 in der Neuen Ruhrzeitung

Ihre Wiege stand in Mülheim

  Der Mülheimer Heimatforscher Dirk von Eicken liebt Geschichte(n), die nicht jeder kennt. Eine dieser Geschichten hat er für die  Internets...