Freitag, 30. Oktober 2020

Mehr Liebe wagen

Kann man an gebrochenem Herzen sterben? Menschen, die sich auf ihre Rationalität etwas einbilden, mögen diese Annahme in das Reich der Phantasie und der Romantik verweisen. Doch ausgerechnet die neuen Chef-Kardiologen des Evangelischen Krankenhauses, die von Berufs wegen etwas vom Herzen verstehen, klärten mich jetzt darüber auf, dass Menschen, die in einer liebevollen und stabilen Partnerschaft leben wesentlich weniger anfällig für Herz-Kreislauf-Erkrankungen seien als jene Menschen, denen dieses Herzensglück nicht vergönnt ist. Wie als Bestätigung traf ich kurz darauf ein altes Mülheimer Ehepaar, das mir an seinem 60. Hochzeitstag das Erfolgsrezept seiner Ehe mit dem schlichten Satz erklärte: „Wir haben uns einfach geliebt!“ Das machte mich als Junggeselle schon nachdenklich und zeigte mir, dass es in unserem scheinbar so komplizierten und immer komplizierter werdenden Leben Dinge gibt, die einfach nur schön sind. Vielleicht sähe es in unserer großen und kleinen Welt ja etwas besser aus, wenn wir alle aus unserem Herzen keine Mördergrube machen würden, sondern etwas mehr Liebe wagen würden, damit wir alle noch möglichst lange gesund und munter und das heißt vor allem mit Herz und Verstand so zusammenleben, dass wir uns selbst und anderen von Herzen Gutes tun und Gutes können. Man muss ja nicht gleich zum äußersten greifen und heiraten.


Dieser Text erschien am 26. Oktober 2020 in der NRZ 

Samstag, 24. Oktober 2020

Mülheim anno 1870/71

  Ein Vortrag von Hans-Werner Nierhaus erinnert an den Deutsch-Französischen Krieg vor 150 Jahren. Ein Kriegerdenkmal aus der Zeit steht bis heute.

Anders, als die deutsche Einheit des Jahres 1990, war die erste deutsche Einheit des Jahres 1871 nicht das Ergebnis einer friedlichen Revolution von unten, sondern das Ergebnis einer machtpolitischen Revolution von oben. 150 Jahre nach dem Deutsch-Französischen Krieg, der der Reichseinigung und der Kaiserproklamation von Versailles vorausging, beleuchtete der ehemalige Otto-Pankok-Geschichtslehrer Hans-Werner Nierhaus in seinem Vortrag zur Mülheimer Geschichte, welche Auswirkungen dieser Krieg auf die knapp 15.000 Einwohner zählende Mülheimer Stadtgesellschaft hatte.

Die Bevölkerung blieb von den Kriegsfolgen weitgehend unberührt

Deutlich wurde, dass die Bevölkerung den Deutsch-Französischen Krieg vor allem deshalb so euphorisch feierte, weil die Masse der Bevölkerung von den Kriegsfolgen unberührt blieb. Die negativen Folgen des Krieges erlebten die Mülheimer damals nur am Rande, etwa an der von den Unternehmern Schmitz und Kückelhaus finanzierten Einrichtung von zwei privaten Lazaretten, in denen während des Krieges 357 Soldaten behandelt wurden. Zwei der dort verstorbenen Soldaten wurden auf dem seit 1812 bestehenden Altstadtfriedhof beigesetzt.

ältnismäßig geringer als die jeweils 3500 Mülheimer Soldaten, die in den beiden Weltkriegen ihr Leben verlieren sollten. Anders, als im Zweiten Weltkrieg, erlebten die Mülheimer den Krieg nicht unmittelbar. Sie verfolgten ihn vielmehr als eifrige Leser der damals in Mülheim erscheinenden Rhein Ruhr Zeitung. Das Lokalblatt fütterte sein Publikum mit Frontberichten und patriotischen Lobeshymnen auf die Vereinigten Deutschen Armeen.

Wichtige Schlachtfelder, die für die deutschen Siege im Krieg von 1870/71 stehen, schlagen sich bis heute als Straßennamen nieder. So findet man in Styrum zum Beispiel eine Sedanstraße oder die Goeben- und die Von-der-Tann-Straße. In der Stadtmitte ist uns die Weißenburger Straße geläufig. Der entscheidende militärische Sieg der deutschen über die französischen Truppen am 2. September 1870 bei Sedan sollte nach der Reichsgründung von 1871 bis zum Ende des Kaiserreiches 1918 in Deutschland als Nationalfeiertag begangen werden.

Ludwig von der Tann und August von Goeben waren preußische Generäle , deren Namen mit den siegreichen Schlachten bei Sedan oder bei Weissenburg im Elsass verbunden waren. Den Mülheimer Soldaten Heinrich vom Ende und Wilhelm Marks, die am 6. August 1870 bei der Eroberung der Spicherer Höhen durch von der Tanns Truppen starben, wurden keine Straßennamen gewidmet.

Nierhaus kann in seinem Recherchen nachweisen, dass insgesamt 1800 Mülheimer als Soldaten im Deutsch-Französischen Krieg kämpften. Der Krieg, der zur ersten deutschen Einheit führen sollte, wurde in der Rückschau auch deshalb glorifiziert, weil er siegreich und kurz war. Der Krieg begann am 2. August 1870 und endete mit der Kapitulation der französischen Truppen am 28. Januar 1871. Zehn Tage zuvor hatten die deutschen Fürsten ausgerechnet im Schloss von Versailles den preußischen König Wilhelm zum ersten deutschen Kaiser proklamiert.

Granaten und Pickelhauben vom Schlachtfeld als Souvenirs

Nierhaus konnte den nationalistischen Zeitgeist der Jahre 1870/71 sehr anschaulich anhand von Zeitungs-Gedichten und Soldaten-Briefen aus dem Feld beleuchten. Geschäftstüchtige Mülheimer machen aus dem Krieg ein Geschäft , indem sie zum Beispiel Stadtpläne von Paris oder als Briefbeschwerer veredelte Granaten und Pickelhauben vom Schlachtfeld als Souvenirs unter die kriegsbegeisterte Bürgerschaft brachten. Hans-Werner Nierhaus machte mit seinem Vortrag im Haus der Stadtgeschichte deutlich, dass mit dem Deutsch-Französischen Krieg und der nachfolgenden Reichseinigung durch die deutschen Fürsten eine militaristische und obrigkeitsstaatliche Tradition begründet wurde.

Die Begeisterung für den militärischen Sieg über Frankreich 1870/71 wirkte auch in Mülheim noch lange nach. Im September 1871 wurden das Kriegsende und der Sieg der deutschen Armeen mit einem großen Friedensfest, mit Fackelzügen und öffentlichen Illuminationen gefeiert. Zwei Jahre nach dem Krieg finanzierten Mülheimer Kriegervereine ein Denkmal, das an die Gefallenen des Deutsch-Französischen Kriegs erinnerte und das zunächst auf dem Rathausmarkt und später am Wilhelmplatz aufgestellt wurde.

Das alte Denkmal steht heute am Wilhelmplatz

Für die Klassengesellschaft der damaligen Zeit sprach die von Nierhaus herausgearbeitete Tatsache, dass der preußische Staat die als Soldaten kämpfenden Beamten mit der Fortzahlung ihres Gehaltes und der Zahlung des Schulgeldes für ihre Kinder unterstützte. Alle anderen Bürger, die als Soldaten den Kopf hinhielten, waren auf die soziale Unterstützung durch private Wohlfahrts- und Bürgerkomitees angewiesen.

Heute sind Frankreich und Mülheim durch eine Städtepartnerschaft verbunden

Die Demütigung, die mit dem militärischen Sieg der deutschen Truppen und der nachfolgenden Annexion von Elsass und Lothringen den Franzosen 1871 aufgebürdet wurde, kam nach dem Ende des Ersten Weltkriegs in Form der französischen Ruhrgebiets-Besetzung 1923/25 auch auf die Mülheimer Bevölkerung wie ein Bumerang zurück. Damals konnten nationalistische Kräfte auf beiden Seiten den Hass der Völker aufeinander anstacheln.

Es brauchte erst die moralische und materielle Katastrophe einer Diktatur und eines zweiten Weltkrieges, damit aus vermeintlichen Erbfeinden Freunde werden konnten. In Mülheim wurde diese neue Deutsch-Französische Freundschaft 1962 mit der Begründung der Städtepartnerschaft zwischen Mülheim an der Ruhr und Tours an der Loire zu einem lebendigen Mahnmal gegen den Krieg und für den Frieden.

Aus den Briefen eines Styrumer Soldaten von der Front 1870/71 an die Eltern

In seinen Briefen von der Front schreibt der Styrumer Arbeiter Johann Buden 1870/71 an seine Eltern: „Liebe Eltern! Ich liege hier ins Quartier, ja liebe Eltern, ihr wisst wohl was man da kriegt bei die Franzosen und was man kriegt, da muss man noch bange sein, dass man es isst. Wenn man hier nicht etwas zuzusetzen hat, dann geht es schlecht, liebe Eltern. Mein Styrumer Kamerad Osterkamp liegt noch in Metz. Ich habe ihn geschrieben und er mich. Der steht nichts aus.“

Liebe Eltern! Die vorige Woche haben wir viel gelitten, fast jeden Tag ein Gefecht. Das 10. Armee Korps ist bald ganz geblieben. Prinz Friedrich Karl hat gesagt, wir sollten jetzt nicht mehr ins Gefecht. Sonst blieben kein Mann mehr übrig. Und jetzt haben wir ein paar Tage Ruhe und warten auf das 7. Armee Korps. Die sollen uns ablösen. Da ist Osterkamp und Otto Monning und alle die Styrumer bei. Wir lauern mit Schmerzen darauf damit wir hier ein bisschen verschont werden können.

Liebe Eltern, am 12. sind wir in Lemans eingerückt. Da hat es Menschen gekostet. Da schossen die Bürger aus Türen und Fenstern. Da haben wir 15.000 gefangen genommen und 400 Wagens mit Proviant, liebe Eltern. Wir sind jetzt soweit in Frankreich gekommen. Noch ein paar Marschtage, dann sind wir am Atlantischen Meer, liebe Eltern. Ich glaube es nimmt jetzt bald ein Ende, denn diese Armee die ist jetzt ganz geschlagen.“


Dieser Text erschien am 23. Oktober 2020 in NRZ und WAZ


Sonntag, 18. Oktober 2020

"Wir haben uns einfach geliebt!"

 In einer Zeit, in der viele Ehen ihr erstes Jahrzehnt nicht überstehen, sind Erika und  Horst Kulmer bemerkenswert. Denn sie sind seit 60 Jahren miteinander verheiratet und haben vier Kindern (Heidi, Axel, Monika und Claudia) das Leben geschenkt. 

Am 8. Oktober 1960 gaben sich die damals 20-jährige Erika Weinreiß und der 19-jährige Horst Kulmer auf dem Standesamt und in der Lutherkirche das Ja-Wort fürs Leben. Damals waren sie schon seit zwei Jahren ein Liebespaar, das sich im September 1958 auf der Speldorfer Kirmes an der Eltener Straße kennen gelernt hatte. Erika machte damals im elterlichen Fliesenlegerbetrieb eine Ausbildung zur Groß- und Außenhandelskauffrau. Ihr damals 19-jähriger Bräutigam lernte damals den Motoren- und Maschinenbau bei der AEG an der Aktienstraße. Später verdiente er bei den Mannesmann-Röhrenwerken den Lebensunterhalt für seine sechsköpfige Familie. Aller Anfang war schwierig. Ihr monatliches Lehrlingsgehalt lag damals unter 50 D-Mark. Doch Eltern und Kinder fanden in Erikas Elternhaus, das der Urgroßvater 1907 errichtet hatte, ein schönes Heim.


Die 1972 geborene Tochter Claudia Kosmann beschreibt das Ehe- und Familienleben ihrer Eltern so: "Sie sind für mich ein echtes Vorbild, weil sie auch in schwierigen Zeiten zusammengehalten haben. Meine Mutter hat sich um die Finanzen und den den Papierkram gekümmert, während mein Vater der Malocher war. Sie sind nie auseinandergegangen, weil sie sich immer wieder streiten und zusammenraufen konnten. Einer kann und will nicht ohne den anderen und beide waren immer für uns da. Uns Kindern haben sie vieles ermöglicht, zum Beispiel schöne Urlaubsreisen "ans Wasser", Sport im Verein und das Erlernen von Musikinstrumenten."

Liebe hält sie zusammen

Was sagt das Langzeit-Ehepaar selbst über den jeweiligen Lebenspartner? Nicht viel. Aber das, was sie sagen, sitzt und hat Gewicht. "Wir haben uns einfach geliebt", sagt Erika. Und Horst ergänzt: "Ich würde sie heute wieder heiraten." Was muss man mehr wissen?
2016 musste sich Horst einer schweren Rücken-Operation unterziehen. Dass er diesen Eingriff überlebt hat und mit seiner Erika nun seine Diamantene Hochzeit feiern kann, empfinden die Kulmers und ihre Familie als ein großes und nicht selbstverständliches Glück. Noch viele gesunde und gemeinsame Jahre sind denn auch ihr größter Wunsch zum Diamantenen Hochzeitstag. Beide Eheleute haben sich früher beim Rudern auf der Ruhr gemeinsam ins Zeug gelegt und die Geselligkeit mit ihren Nachbarn im früher viel grüneren und ländlicheren Speldorf gepflegt. Doch zum Tanzen konnte Erika ihren Horst nie überreden. Während sie alleine in die Tanzstunden des TSV Viktoria ging, sang Horst mit seinen Chorbrüdern im Chor der Mannesmann-Röhrenwerke. Das Ehepaar reiste viel und gerne, solange es die Gesundheit erlaubte.
Haben Sie nach 60 Jahren ein Erfolgsrezept für junge Ehepaare? "Nein. Das gibt es nicht. Auch im Eheleben muss jeder seinen eigenen Weg finden", betont Horst Kulmer.

Donnerstag, 15. Oktober 2020

Kreative Schüler

 An der Luisenschule und an der Realschule Mellinghofer Straße freut man sich über die von der Rheinisch-Westfälischen Wasserwerksgesellschaft (RWW) vergebenen Kulturpreise. Alle drei Preise, die in den Kategorien darstellende und bildende Kunst sowie Musik vergeben werden, sind mit jeweils 1000 Euro dotiert. Die Kulturpreise wurde Corona-bedingt nicht im Rahmen des Jugendfestivals Voll die Ruhr, sondern im kleinen Rahmen, in den ausgezeichneten Schulen vergeben.

Die Verleihung der zum 12. Mal vergebenen RWW-Kulturpreise nahmen die RWW-Mitarbeiter Ramon Steggink und Iris Becker zusammen mit den Jury Mitgliedern Michael Bohnes und Bettina Erbe vom Kulturamt vor.

Schüler, Lehrer, Preisstifter und Jury-Mitglieder waren sich einig, dass das kreative künstlerische und kulturelle Engagement der Jugendlichen und die mit den RWW-Kulturpreisen verbundene Wertschätzung alle Beteiligten in ihrer emotionalen und intellektuellen Persönlichkeitsentwicklung nachhaltig Stärke.

An der Luisenschule konnte Schulleiterin  Dr. Heike Quednau, und ihre beiden Lehrer Kolleginnen Regina Coupette  (Bigband) und Simone, Hoberg  (Literaturkurs) mit den Musikern der Luisenschul-Big-Band und den Teilnehmerinnen des Literatur-Kurses die Kulturpreise in den Kategorien Musik und darstellende Kunst entgegennehmen. Ausgezeichnet wurde hier das Gemeinschaftskonzert, das die von Regina Coupette geleitete Bigband im Januar mit dem Landespolizei auf die Bühne gebracht hatte.

Gewürdigt wurde in diesem Zusammenhang aber auch das soziale Engagement der Schüler-Bigband, die Pflegeheimbewohner mit Open-Air-Haus Konzerten unterhalten hatte. Der von Simone Hoberg geleitete Literaturkurs wurde für sein generationsübergreifendes Theaterstück. „Als Oma sagte: Auch ich hatte Träume“, dass die Luisenschülerinnen aus dem Literaturkurs mit Frauen aus ihrer Großeltern- und Urgroßeltern-Generation ins Gespräch brachte. Die Quintessenzen der Zeitzeuginnen wurden dann in poetischen Texten und Szenen auf die Bühne gebracht.

An der Realschule Mellinghofer Straße konnten Steggink, Becker, Bohnes und Erbe den RWW-Kulturpreis  für bildende Kunst an Schulleiterin Judith Koch und an die 30 Schüler aus der vom Fotografen Frank Plück und dem Schulsozialarbeiter Philipp Blaschke geleiteten Foto-AG übergeben. Gestützt auf zahlreiche Exkursionen und Gespräche hatte die vom Ruhrverband geförderte Foto-AG eine Ausstellung mit beeindruckenden Mosaik-Porträts kreiert, die mit ihren aus vielen Gesichtern zusammen montierten Porträts vor allem eines deutlich machen, nämlich, dass wir als Menschen, unabhängig von unserer kulturellen Herkunft gleich viel wert sind und das wir über alle kulturellen Grenzen hinweg gemeinsame Ziele, Wünsche und Sehnsüchte  haben.



Dieser Text erschien am 9. Oktober 2020 in NRZ/WAZ

Mittwoch, 14. Oktober 2020

Blinder Eifer schadet nur

"Wer nicht hören will, muss fühlen.“ Das erlebte ich gestern am eigenen Leib. Mit zwei Jacken im Arm und der NRZ in den Händen war ich, Corona- mäßig maskiert im öffentlichen Personennahverkehr unterwegs. Kaum war ich an meiner Ziel-Haltestelle ausgestiegen, klingelte auch schon mein Handy. Reflexartig griff ich sofort nach meinem Mobiltelefon und nahm den Anruf an. Dabei entglitt mir die NRZ und wurde um ein Haar von Winde verweht. Ich musste mein Telefonat kurzfristig unterbrechen und meine Zeitung wieder einfangen. Dabei ereilte mich in meiner hastigen Vorwärtsbewegung ein Windstoß. Der sorgte dafür, dass mir meine Brille von der Nase fiel und mein Corona-Schutzvisier mir vom Kopf flog. Leider flog das eben erst angeschaffte Schutzvisier über einen Zaun auf den Rasen eines Privatgrundstücks. Da ich mir angesichts meiner offensichtlichen Pechsträhne beim Überklettern des Zauns nicht auch noch die Hose aufreißen wollte, versuchte ich es mit gut bürgerlichem Anklingeln. Doch die Grundstückseigentümer waren gerade nicht zu Hause. Wohl oder übel musste ich mein al eben erst angeschafftes Schutzvisier abschreiben. Gott sei Dank konnte ich aber noch meine Corona-Maske wieder einfangen. Ohne ist man heute ja praktisch nackt und vogelfrei für jeden heimtückischen Viren-Angriff.  Mit meiner NRZ und den beiden Jacken in Händen und Armen nahm ich mein Telefonat wieder auf und um ein Haar wäre mir dabei mein Handy entglitten und zu Boden gefallen. Doch ich konnte es gerade noch halten und auffangen. Als ich endlich wieder meine Hände frei hatte, weil ich die beiden Jacken bei ihrer Empfängerin abgehängt hatte, konnte ich erst einmal erleichtert durchatmen und dabei in aller Ruhe zu der Einsicht kommen: „Wer sich zu viel aufbürdet, verliert schnell mehr, als er gewinnt.“ Blinder Eifer schadet nur. 


Dieser Text erschien am 7. Oktober 2020 in der NRZ

Sonntag, 11. Oktober 2020

Kunst erleben

 "Wir wollen auch in Corona-Zeiten Kunst vermitteln und Kunst sichtbar machen", sagt der stellvertretende Vorsitzende des Mülheimer Kunstvereins, Hans-Jürgen Bolz. Genau das leistet das aktuelle Halbjahresprogramm, das Bolz jetzt mit seinen Vorstandskollegen in der Galerie Gerold D' Harmés an der Schloßstraße vorstellte. Angesichts der Corona-Pandemie sieht der Galerist Gerold D'Harme eine zunehmende Verlagerung des Kunsthandels ins Internet und in die Auktionshäuser. Dadurch geraten nach seiner Einschätzung vor allem junge und noch nicht bekannte Künstler ins Hintertreffen.


Einige Schlaglichter aus dem Programm: Am Freitag, 9. Oktober, besuchen Mülheimer Kunstfreunde im Arp-Museum Bahnhof Rolandseck die Ausstellung "Salvador Dali und Jean Arp." Start ist um 9 Uhr am Hauptbahnhof. Die Rückkehr ist für 19 Uhr geplant. Im Rahmen der Reihe "Film & Kunst" präsentiert die Galerie D'Harme an der Schloßstraße 29 am 22. Oktober die österreichische Malerin Maria Lassnig. Die Veranstaltung beginnt um 18.30 Uhr.

Am 31. Oktober kann man mit dem Kunstverein bei einer Stippvisite im Essener Folkwangmuseum das neu-inszenierte Kunstmuseum im Allgemeinen und die Bilderwelt des Keith Haring eintauchen, der mit seinen plakativen und ausdrucksstarken Arbeiten die Brüche der amerikanischen Gesellschaft beleuchtet. Treffpunkt am Folkwangmuseum ist für die erste Gruppe um 11.30 und für die zweite Gruppe um 14 Uhr.

Eine Anmeldung für die begrenzte Gruppen ist unbedingt erforderlich


Denn aufgrund der Corona-Pandemie muss der Kunstverein seine Führungen und Exkursionen auf jeweils maximal zehn Personen beschränken. Außerdem ist eine Anmeldung bei Sabine Falkenbach unter der Rufnummer: 0173-9274987 oder per E-Mail an: info@muelheimer-kunstverein.de unbedingt erforderlich.

Am 22. November haben Kunstfreunde im Museum Temporär an der Schloßstraße 28 die Gelegenheit, mit dem Künstler Laas Abendroth ins Gespräch zu kommen. Abendroth ist zurzeit mit seiner Werkschau "Langeweile heute" im ausquartierten und provisorisch einquartierten Kunstmuseum der Stadt vertreten. In einen Dialog sollen die vis-a-vis gelegenen  Ausstellungsorte der Galerie D'Harme (Schloßstraße 29) und des Museums Temporär (Schloßstraße 28) auch im April 2021 treten, wenn der 1956 von Winfried Monzel (1930-2020) gegründete und heute 300 Mitglieder zählende Mülheimer Kunstverein mit einer Jubiläumsschau seinen 65. Geburtstag feiern wird. 

Doch das ist Zukunftsmusik. Um die klassische Vergangenheit der deutschen Malerei geht es recht zeitnah am 2. und 9. Dezember auf eine Ausstellungsfahrt zum Kunstpalast Düsseldorf, der Werke von Caspar David Friedrich (1774-1840) präsentiert und dabei Friedrichs Einfluss auf die Düsseldorfer Malerschule beleuchtet. Vormerkenswert ist auch die für den 9. Januar 2021 geplante Ausstellungsfahrt ins Duisburger Lehmbruck-Museum, das dem interessierten Publikum die Arbeit des Holz-Bildhauers Stephan Balkenhol präsentiert.

Tags darauf stellen sich Barbara Adamek und Ralf Ralf Raßloff im Rahmen der Jahresausstellung der Mülheimer Künstler im Museum Temporär einem Künstlergespräch. Die Veranstaltung beginnt am 10. Januar 2021 um 11 Uhr. Dass Künstler oft von großen Gefühlen zu ihrer kreativen Arbeit inspiriert und angetrieben werden, zeigt der Kunstverein am 6. Februar mit seiner Ausstellungsfahrt ins LWL-Museum Münster, wo die Werkschau "Passion. Leidenschaft. Die Kunst der großen Gefühle." präsentiert wird. Die Ausstellungsfahrt startet um 9.15 Uhr am Hauptbahnhof. Die Rückkehr ist für 18 Uhr geplant.

Dieser Text erschien am 1. Oktober 2020 im Lokalkompass der Mülheimer Woche

Freitag, 9. Oktober 2020

Den Vorfahren auf der Spur

 Mülheimer interessieren sich nicht nur für die Geschichte ihrer Stadt , sondern auch für die Geschichte ihrer Familie. Alle 30 Sitzplätze, die Corona-bedingt im Vortragssaal des Stadtarchivs vergeben werden konnten, waren besetzt, als Geschichtslehrer und Familienforscher Dr. Sandor Krause im Rahmen der Reihe zur Mülheimer Geschichte über die Fallst ricke der Familienforschung berichtete.
1.Fallstrick: Es gab im Kirchspiel Mülheim erst ab 1610 Personenstandserhebungen in Form von Hochzeitsaufgeboten. Krause hat die frühen Kirchenbücher der reformierten Gemeinde aus der Handschrift in die gedruckte Computerschrift übertragen und die Verwandtschaftsverhältnisse in den Mülheimer Kernfamilien aufgezeigt.
Seine Datensammlungen liegen als CDs zur Recherche und zum Kauf im Stadtarchiv an der Von-Graefe-Straße 37 für 5- bis 30 € vor.
2. Fallstrick: Die Kirchenbücher wurden über Jahrzehnte hinweg mit sehr unterschiedlicher Sorgfalt geführt und manche Familiennamen erscheinen in unterschiedlicher Schreibweise, weil die meisten Pfarrer nach Gehör schrieben und sich die Namen nicht buchstabieren ließen.
3. Fallstrick: Erst, nachdem Mülheim ab 1815 unter preußischer Verwaltung kam , wurden die Kirchengemeinden staatlicherseits dazu verpflichtet kontinuierlich und vollständig Personenstandsbücher zu führen. Erst im Zuge des preußischen Kulturkampfes gegen die katholische Kirche kam wurden 1874 Standesämter und staatliche Personenstandbücher eingeführt.
4. Fallstrick: Die Kirchenbücher der reformierten Gemeinde umfassten vor der Stadterhebung von 1808 nur 80% der Bevölkerung. Allein das Kloster Samen bildete nach der Reformation im 16. Jahrhundert eine katholische Enklave. Erst Mitte des 18. Jahrhunderts legten die Jesuiten auf dem Kirchenhügel den Grundstein für die spätere katholische Kirchengemeinde St. Mariae Geburt. Erst mit der Industrialisierung kamen verstärkt katholische Arbeiter in die Stadt.
5. Fallstrick: Die Familienvorstände der jüdischen Haushalte waren vor 1815 nur in den Steuerlisten der Herrschaft Broich verzeichnet. Erst danach führte die Jüdische Gemeinde eigene Personenstandsbücher.
Und 6. Fallstrick: Viele Mülheimer wechselten mit ihrem Wohnsitz auch ihren Familiennamen. So wurde etwa aus einem Heinrich im Winkel erst ein Heinrich Wetzmüller und später ein Heinrich Walkmüller.



Mittwoch, 7. Oktober 2020

"Beharren wir auf unserer Freiheit!"

Der Historiker Hubertus Knabe, in Mülheim aufgewachsen und ehemals Leiter der Stasi-Gedenkstätte Hohenschönhausen sprach zur Deutschen Einheit.

Mit einer starken und gegenwartsbezogenen Rede hat der in Mülheim aufgewachsene Historiker Hubertus Knabe am 3. Oktober im Ratssaal den 30. Jahrestag der deutschen Wiedervereinigung gewürdigt. Ein Kernsatz seiner zurecht mit viel Applaus bedachten Rede lautete: „Lassen wir uns nicht von der Angst leiten, sondern beharren wir auf unserer Freiheit.“ Mit dem Blick auf aktuelle Meinungsumfragen des Institutes für Demoskopie in Allensbach, zeigte der ehemalige Leiter der Gedenkstätte im ehemaligen Stasi-Gefängnis Berlin Hohenschönhausen auf, dass bei vielen Bundesbürgern die Sicherheit vor der Freiheit rangiere und viele Menschen 30 Jahre nach der Wiedervereinigung sogar Angst hätten, ihre Meinung zu politischen Themen öffentlich zu äußern. „Es bröckelt heute an vielen Stellen. Unsere Demokratie ist heute leider angefochtener und weniger stabil als vor 30 Jahren“, sagte der Sohn des aus Sachsen stammenden grünen Alt-Bürgermeister Wilhelm Knabe (96).

Der ehemalige Mitarbeiter der Stasi-Unterlagen-Behörde nannte Mauerfall und Wiedervereinigung „ein besonders schönes Beispiel dafür, dass Geschichte immer in Bewegung ist und dass auch eine Diktatur überwindbar ist.“ Er erinnerte daran, dass sein Vater als grüner Bundestagsabgeordneter in den Jahren 1987 bis 1990 die Opposition in der damals noch existierenden DDR aktiv unterstützt habe. „Auch wenn die Mehrheit gesichert ist, will ich mich nicht dahinter verstecken. Ich muss selbst entscheiden, wenn ich meinen Verwandten und meiner Frau, mit der ich 1959 aus der DDR geflohen bin, noch in die Augen schauen will“, zitierte Hubertus Knabe aus der Rede seines Vaters, in der er am 20. September 1990 vor dem Deutschen Bundestag begründete, warum er gegen die Mehrheit seiner Fraktion für den deutsch-deutschen Einigungsvertrag stimmen werde.

Am Beispiel von Nichten und Neffen, denen in der DDR das Abitur und ein Studium verweigert wurden, weil sie sich der Vereinnahmung durch die Indoktrination in den Massenorganisationen der SED-Staates entzogen, machte Knabe deutlich, dass die DDR unbestreitbar ein Unrechtsstaat gewesen sei. Wer heute in der Bundesrepublik Deutschland einen Systemwechsel als Teil des Kampfes gegen den Klimawandel fordere, solle nicht vergessen, dass der CO2-Ausstoß in der DDR doppelt so hoch wie im wiedervereinigten Deutschland gewesen sei. Geschichtsvergessene Menschen, die heute bei Demonstrationen gegen die Corona-Schutzbestimmungen vor dem Reichstag in Berlin die Reichskriegsflagge schwenken, zeigen in Knabes Augen, „dass auch unsere Demokratie keine Sicherheitsgarantie hat.“ Das Beispiel der Weimarer Republik zeige, so Knabe, „dass eine Demokratie auch in eine Diktatur hineinwachsen könne, die dann nur sehr schwer wieder zu beseitigen ist, wenn sie einmal Fuß gefasst hat.“ In diesem Zusammenhang forderte Knabe von der mittleren und älteren Generation verstärkte Anstrengungen, um die jüngere Generation politisch und historisch besser zu bilden und ihr aufzuzeigen, wie eine Diktatur entstehen könne und was der Verlust von Freiheit bedeute. Hier verwies der Historiker, der vor 42 Jahren sein Abitur an der Karl-Ziegler-Schule gemacht hat, darauf, dass die im Grundgesetz verankerten Grundrechte, anders als in den DDR-Verfassungen nicht nur Theorie, sondern auch politische Praxis seien. , weil sie eine Ideologie vertreten und gelebt habe, „in der das Individuum hinter dem Kollektiv zurücktreten musste“ und so zu einer „sozialistischen Verantwortungslosigkeit gezwungen wurde, in der sich niemand als eigenständige Persönlichkeit entfalten konnte.“

Freiheit, Eigenverantwortung und Eigeninitiative, so Knabe, „sind die Voraussetzungen und die Grundlage dafür, dass Deutschland heute eines der wohlhabendsten Länder der Erde ist.“ Der 1959 geborene Historiker, der in seiner Mülheimer Jugend zu den Blattmachern des alternativen Stadtmagazins Freie Presse gehörte, charakterisierte die im Grundgesetz verankerte „Meinungsfreiheit“ und die „Fähigkeit, auch die Meinungen Andersdenkender auszuhalten und nicht automatisch als Bedrohung anzusehen“ als „das Elixier der Demokratie, dass uns als Gemeinwesen innovationsfähig macht.“ In diesem Sinne warnte Knabe davor, „sich ein Freund-Feind-Denken zu eigen zu machen“, dass nicht nur in der SED-Diktatur der DDR systemimmanent gewesen sei.

er 54 Sitzplätze musste leer 

INFO: Corona-bedingt konnte am Festakt zum 30. Tag der Deutschen Einheit im wiedervereinigten Deutschland im Ratssaal nur wenige geladene Gäste teilnehmen. Jeder zweite der 54 Sitzplätze im Ratssaal musste mit Blick auf die aktuellen Hygiene- und Abstandsbestimmungen unbesetzt bleiben. „Danke, dass sie uns mit Ihrer Rede noch einmal den besonderen Wert der Freiheit ins Bewusstsein gerufen haben. Dieses Bewusstsein zu fördern und wachzuhalten, ist auch eine Aufgabe für uns Kommunalpolitiker“, sagte Bürgermeisterin Margarete Wietelmann, in an Knabe gewandt. Da der geplante Empfang nach dem Festakt Corona-bedingt ausfallen musste, bekamen nicht nur Hubertus Knabe, sondern alle Gäste des Festaktes eine Flasche Rotkäppchen-Sekt mit auf den Heimweg. Der Sekt aus der ostdeutschen Kellerei Rotkäppchen gehöre, so Margarete Wietelmann, zu den ehemaligen DDR-Marken, die die Wiedervereinigung erfolgreich überdauert haben und heute von einem Pressesprecher (Ulrich Ehmann) aus Mülheim promotet werden.

Dieser Text erschien am 4. Oktober 2020 in NRZ & WAZ

Montag, 5. Oktober 2020

Ein Leben in zwei Deutschlands

 Ihren ganz persönlichen Tag der Deutschen Einheit feiern Martin und Ilonka Fritz nicht am 3. Oktober, sondern am 13. November. Denn am 13. November 1989 erreichten sie mit ihrem Trabi ihre neue Heimatstadt Mülheim, in dem sie heute im Stadtteil Heißen ein Haus mit Garten ihr Eigen nennen.

Ihre ersten Tage in Mülheim verbrachten der Mann aus Merseburg an der Saale und die Frau aus dem thüringischen Frankenhain in der Notunterkunft des Technischen Hilfswerkes an der Düsseldorfer Straße. Und bis heute lassen sie dem THW jährlich einmal eine Spende zukommen, um sich für die Hilfsbereitschaft zu bedanken, die sie bei den Mülheimer Katastrophenschützern im deutschen Wendeherbst 1989 als Übersiedler aus der damals noch existierenden DDR erfuhren. „Wir bekamen damals ein eigenes Zimmer beim THW, weil ich hochschwanger war“, erinnert sich Ilonka Fritz. Ihr Sohn Maximilian kam im Januar 1990 als Mülheimer zur Welt.

Zu diesem Zeitpunkt hatte das Paar bereits eine eigene Wohnung am Dickswall bezogen und der Wirtschaftsinformatiker Martin Fritz hatte als EDV-Fachmann einen Arbeitsplatz bei Turck in Heißen gefunden. „Wir konnten damals nicht ahnen, dass Deutschland schon bald wiedervereinigt würde und wir unsere Verwandten in Sachsen-Anhalt und Thüringen problemlos wiedersehen könnten. Als sie sich am 8. November 1989 um 4 Uhr morgens in Merseburg in ihren Trabi setzten, brachen sie offiziell mit viel Gepäck in den Urlaub in die CSSR auf. Nur ihre Eltern wussten das wahre Ziel ihrer Reise. Als sie abends um 18.13 Uhr die deutsch-tschechische Grenze bei Schirnding überquerten, sollte es noch gut 24 dauern, ehe sich die bis dahin lebensgefährlichen Grenzen der DDR durch den bekanntesten Versprecher der deutschen Geschichte ("Das tritt nach meiner Kenntnis... ist das sofort, unverzüglich") öffnete. Als das Ehepaar Fritz am Abend des 9. November in Neuburg an der Donau von der Grenzöffnung durch den SED-ZK-Sekretär Günter Schabowski erfuhr, flossen Freudentränen. Und Martin Fritz meinte: „Jetzt kommen die alle.“

Alle DDR-Bürger kamen dann doch nicht in den Westen der am 3. Oktober 1990 wiedervereinigten Republik. Doch Familie Fritz kam nach Mülheim, weil ein Mitarbeiter der NRW-Aufnahmestelle in Unna-Massen eben die Ruhrstadt als ihren neuen Wohnort aus einem großen Karton zog. Obwohl ihre Eltern sie vor dem Ruhrgebiet gewarnt hatten: „Da ist es nicht so schön“, fühlten sie sich als ehemalige Bewohner der Chemie-Stadt Merseburg im Chemie-Dreieck zwischen Halle, Bitterfeld und Leuna in Mülheim „wie in einem Luftkurort.“

„Das war ein Dreckloch, in dem die Kinder fast immer Bronchitis hatten“, erinnert sich Martin Fritz an die damaligen Verhältnisse in seiner sachsen-anhaltinischen Heimat, in der die Häuser zerfielen, weil nichts an ihnen getan wurde und die notwendigen Baumaterialien fehlten. „Die DDR war 1989 politisch und wirtschaftlich am Ende, weil die oben nicht mehr konnten und die unten nicht mehr wollten und weil das, was die SED propagierte, nichts mehr mit dem zu tun hatte, was die DDR-Bürger in ihrem Alltag erlebten“, betont Martin Fritz. Und er fügt hinzu: „Hätte die DDR weiter existiert und hätten wir dort in den letzten 30 Jahren leben müssen, wären wir verkümmert, weil man sich in diesem von Indoktrination und Gleichschaltung geprägten System persönlich nicht entfalten konnte.“

Das hatte Martin Fritz am eigenen Leibe erfahren müssen, obwohl er als Hochschullehrer und nicht ganz feriwilliges SED-Mitglied damals zu den privilegierten Bürgern des selbsternannten Arbeiter- und Bauern-Staates gehörte. Weil er unter dem Eindruck eines Auslandsstudiums im damaligen Leningrad (heute St. Petersburg) und der in der Sowjetunion Michail Gorbatschows miterlebten Perestroika, in der DDR eine breit angelegte gesellschaftliche Reformdiskussion forderte und zu den Organisatoren der Merseburger Montags-Demonstrationen gehörte, erkannte ihm seine Hochschule in Merseburg nachträglich seinen im Juli 1989 erfolgreich verteidigten zweiten Doktorgrad in Wirtschaft und Verfahrenstechnik rückwirkend ab.

„Ich habe die DDR im November 1989 auch deshalb verlassen, weil ich nicht unter Wendehälsen arbeiten wollte, die von heute auf morgen plötzlich das Gegenteil vertraten, was sie vorher gesagt und getan hatten, so wie die SED erst propagierte: ‚Von der Sowjetunion heißt siegen lernen und dann angesichts von Gorbatschows Perestroika betonte: ‚Jeder geht seinen eigenen Weg.“

30 Jahre nach der Wiedervereinigung sagt der ehemaligen Stadtverordneten und OB-Kandidat Martin Fritz: „Leider ist zum Wohlbehagen in meiner neuen Heimat Mülheim in den letzten Jahren zunehmend auch die Sorge gekommen.“

Die Mülheimer Verschuldungspolitik der letzten 20 Jahre hält der Ökonom und Inhaber eines EDV-System-Hauses für ebenso fatal wie den Euro und die Währungsunion von Nationen mit völlig unterschiedlicher wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit und Finanzpolitik. Dem wiedervereinigten Deutschland wünscht er 30 Jahre nach der Einheit: „eine Politik der Offenheit und Ehrlichkeit, die Tatsachen anschaut und sie nicht beschönigt und die die Interessen der Menschen, die hier ein ganzes Leben gearbeitet haben, wieder berücksichtigt.“


Dieser Text erschien am 3. Oktober 2020 in NRZ & WAZ

Sonntag, 4. Oktober 2020

Musikalischer Zeitzeuge

 Den 30. Tag der Deutschen Einheit verbindet der Vorsitzende des 1989 gegründeten Mülheimer Jazzclubs und Bandleader der 1982 gegründeten Ruhr-River-Jazzband, Manfred Mons, mit einer ganz besonderen Erinnerung. Denn am ersten Tag der Deutschen Einheit, dem 3. Oktober 1990, konnten Mons (Trompete) und seine Ruhr-River-Jazzer Fred Raeck (Trompete), Heiner Knoerchen (Klarinette), Claus Dieter Freymann (Benjo), Harry Keilwerth (Bass) und Klaus Förster (Schlagzeug) mit ihren Ost-Berliner Jazzfreunden von der Pappa-Binnes-Jazzband vor tausenden von begeisterten Menschen vor dem damals noch nicht abgerissenen Palast der Republik und auf dem Potsdamer Platz aufspielen.

"Der aus den USA kommende Jazz ist für mich die Musik der Freiheit", sagt der 1941 geborene Mülheimer Manfred Mons. Da passte es gut, dass sich die 1959 gegründete Ost-Berliner Papa-Binnes-Jazzband und die Mülheimer Ruhr-River-Jazzband die Freiheit nahmen, sich noch während der deutschen Teilung beim Jazzfestival in Dresden 1988 anzufreunden. "Der historische Zufall wollte es, dass wir ausgerechnet am Tag des Mauerfalls, dem 9. November 1989, mit der Papa-Binnes-Jazzband ein Konzert im Dresdener Jazzclub Grüne Tonne und am 10. November 1989 ein gemeinsames Konzert im Ost-Berliner Haus der deutsch-sowjetischen Freundschaft spielten. Unter den Zuhörern des letzteren Konzertes war damals auch der westdeutsche CDU-Politiker Kurt Biedenkopf, der ein Jahr später zum sächsischen Ministerpräsidenten gewählt werden sollte", erinnert sich Mons.

Auch wenn der Prozess der Wiedervereinigung Deutschland, Stichwort Treuhandanstalt, alles andere als problem- und schmerzlos verlaufen ist, steht für Manfred Mons auch 30 Jahre nach der Wiedervereinigung Deutschlands fest: "Wir können froh und glücklich sein, dass wir vor 30 Jahren eine friedliche Wiedervereinigung Deutschlands erleben konnten, weil damals mit Helmut Kohl, Hans-Dietrich Genscher, Michail Gorbatschow, Eduard Shewadnadse und George Bush senior die richtigen Männer zur richtigen Zeit am Ruder waren und die kurze Zeit nutzten, in der sich 1989/90 das Fenster und die Türen zur Deutschen Einheit öffneten. Das war ein Segen für Deutschland, für Europa und für die ganze Welt."


Dieser Text erschien am 3. Oktober 2020 im Lokalkompass der Mülheimer Woche

Samstag, 3. Oktober 2020

Denk ich an Deutschland

Denk ich an Deutschland, denke ich daran, dass ich hier meine Muttersprache fand. Hier lernte ich schreiben und lesen und konnte entdecken unser gemeinsames soziales und kulturelles Wesen. Hier in unserem Land gibt es so manchen Tand. Doch wir haben Gott sei Dank auch Menschen, die nicht nur an sich selber denken, sondern ihre Zeit und Kraft gerne auch an andere Menschen verschenken, um unsere Geschicke in gute Bahnen zu lenken. Hier gibt es Leute, die nicht nur heulen mit der Meute, die nicht nur sehen das Heute. Sie machen sich auch Sorgen um das Morgen. Wir sind Deutschland und das ist schon allerhand. Wenn wir sehen und verstehen, dass Deutschland nur dann im Glanze seines Glückes von Einigkeit und Recht und Freiheit blüht, wenn jeder sich an seinem Platze für uns alle etwas müht. Dann ist niemand um den Schlaf gebracht, wenn er an unser Land gedacht. Dann können wir uns alle nicht nur heute freuen und brauchen die Zukunft nicht zu scheuen, wenn wir leben und arbeiten Hand in Hand und bringen voran unser deutsches Land mit Herz und Verstand. Dabei jeder weiß: Auch bei uns gibt es nicht nur Schwarz und Weiß. Ja bei uns geht es manchmal rund und dann wird es uns auch schon mal kunterbunt. Und doch brauchen wir voreinander keine Angst zu haben, wenn sich alle an einem Stück vom großen Kuchen laben und deshalb Kraft und Mut für morgen haben. Wenn wir auch unserem Nachbarn ein Stück vom Glück gönnen, haben weder er noch wir Grund zum Stöhnen. Dann können wir uns friedlich und schiedlich aneinander gewöhnen. Einigkeit und Recht und Freiheit. Das wird man nimmer leid. Heute ist es soweit, dass wir den Dreiklang, der uns zu unserem Glück hat vereint, können feiern, mit klaren Blick für unser aller täglich Leben und Streben, in dem man auch mal muss was geben. Nur so können wir gemeinsam glücklich leben. Dann können wir heute nicht nur von Staats wegen feiern und müssen keine hohlen Festtagsreden leiern. 


Dieser Text erschien am 3. Oktober 2020 in der NRZ

Junge Schule

 Schülerinnen und Schüler machen Schule. Das nahm die Schülervertretung an der Willy-Brandt-Schule in Styrum an einem von ihr organisierten ...