Dienstag, 31. Dezember 2019

Knalleffekte, nein danke!

Samstagnacht. Ich schrecke aus dem Schlaf. Kanonenschläge dringen an mein Ohr. Bin ich in einem Horrorfilm aufgewacht? Nein! Es ist die Wirklichkeit, die mich geweckt hat. Vor unserem Haus auf der Schloßstraße wird ein Silvesterfeuerwerk gezündet. Sollte ich den Jahreswechsel verschlafen haben? Doch ein spontaner Blick auf die Uhrzeit- und Datumsanzeige meines Weckers beruhigt mich. Ich bin doch noch auf der Höhe der Zeit, auch wenn ich manchmal daran zweifle. Denn mir will so gar nicht einleuchten, dass man schon vor dem 31. Dezember, 0.00 Uhr, Silvesterraketen in den Himmel jagen muss, um zu zeigen, dass man sich auf das neue Jahr freut und nicht nur auf der Höhe der Zeit, sondern ihr voraus ist. Unabhängig davon, ob man Silvesterfeuerwerke als kulturelle Tradition und als Schub für den Handel begrüßt oder als Umweltverschmutzung ablehnt, freue ich mich, wenn uns zwischen den Jahren mal etwas Ruhe vergönnt ist und uns, ich weiß, das ist ein frommer Wunsch, 2020 Knalleffekte jeder Art erspart bleibean, die uns Hören und Sehen vergehen lassen. 

Dieser Text erschien am 30. Dezember 2019 in der Neuen Ruhrzeitung

Montag, 30. Dezember 2019

Närrische Weisheit

Nach dem Fest ist vor dem Fest. Nach Weihnachten steht uns der Jahreswechsel ins Haus und dann? Dann legen die Karnevalisten los. Wie, bitte? Karneval ist doch erst im Februar. Denkst du. Einen Tag nach dem zweiten Weihnachtsfeiertag stellten die Jecken gestern ihre Kindertollitäten vor, die am 5. Januar im Dümptener Autohaus Extra proklamiert werden. „Wenn du am Rosenmontag Kamelle wirfst, kannst du mir ja eine Extraportion zuwerfen“, berichtete die designierte Kinderprinzessin Sarah-Katharina Wolff gestern von der Reaktion einer Freundin auf ihren Karrieresprung zur Kinderkarnevalsprinzessin. Doch die kleine närrische Regentin reagierte sehr weise auf das freundschaftliche, und eigennützige Ansinnen. „Das geht doch nicht. Ich muss meine Bonbons und meine Schokolade, die ich ober auf dem Kinderprinzenwagen habe, gerecht aufteilen, damit alle Kinder beim Rosenmontag etwas mitbekommen.“ 

Würden mehr erwachsene und weltliche Regenten dieser weisen Einsicht der kleinen Karnevalsprinzessin folgen, wäre unsere Welt zweifellos nicht nur in der Fünften Jahreszeit ein fröhlicherer Ort, an dem mehr Menschen als heute ein gerechtes Stück vom großen Kuchen und damit mehr Spaß an der Freude bekämen.


Dieser Text erschien am 28. Dezember 2019 in NRZ & WAZ

Sonntag, 29. Dezember 2019

Jung und jeck

Kinder, aufgepasst. Was die Erwachsenen können, könnt ihr schon lange, zum Beispiel Karneval feiern. Wie es geht, zeigen euch Simon Jäger (12) und Sarah-Katharina Wolff (10). Die beiden werden als Kinderprinzenpaar Simon I. und Sarah-Katharina I. am 5. Januar mit einer Karnevalsparty im Dümptener Autohaus Extra an der Fritz-Thyssen-Straße 6 als Mülheimer Kinderprinzenpaar inthronisiert. Los geht es um 14.11 Uhr. Für Kinder heißt es: „Eintritt frei und Spaß dabei!“ Erwachsene sind für fünf Euro mit von der närrischen Partie.


Simon und Sarah-Katharina werden bei ihrer Proklamation und den etwa 120 Auftritten, die sie bis Aschermittwoch (26. Februar) im Dienste des Frohsinns absolvieren, nicht alleine auf der Bühne stehen. Ihnen zur Seite stehen Page Serafino Gehlhaus (11) und Pagin Celina Lintl (8).


Seit den Herbstferien trainieren sie im MCC-Vereinsheim am Wenderfeld für ihre Bühnenshow. Immer mit dabei sind ihre Adjutanten Gaby und Hermann-Josef Hüßelbeck. „Es ist einfach toll, wie sich die Kinder durch ihre Auftritte im Laufe der Session als Persönlichkeit weiterentwickeln und Fortschritte machen“, beschreiben die seit 50 Jahren verheirateten Hüßelbecks, warum sie sich vom Hauptausschuss Groß-Mülheimer Karneval immer wieder gerne in die Pflicht nehmen lassen, um die Kindertollitäten gut durch die Fünfte Jahreszeit zu bringen. 


Auch in dieser Session sorgt das Autohaus Extra als Veranstaltungsort und als Sponsor des Kinderprinzenmobils dafür, dass die kleinen und großen Karnevalisten für Spaß an der Freude sorgen können und in Fahrt kommen. „Das ist eine bewährte Tradition, die ich von meinem Vorgänger Helmut Pissarek übernommen habe und mit der ich nicht brechen möchte, weil sie mir inzwischen selbst viel Spaß macht“, erklärt der Geschäftsführer des Dümptener Autohauses Jörn Backhaus.


„Viele Leute glauben, dass man nur am Rosenmontag Karneval feiern kann und wissen gar nicht, dass man in den nächsten Wochen bei ganz vielen Saalveranstaltungen zusammen feiern und Spaß haben kann“, schildern der designierte Kinderprinz Simon Jäger und seine Prinzessin Saraha-Katharina Wolff die Reaktionen von kleinen und großen Mülheimern, die nicht in der Karnevalsfamilie aktiv sind.


Von Lampenfieber ist im Gespräch mit Simon, Sarah-Katharina, Serafino und Celina übrigens gar keine Rede. Es liegt wohl daran, dass sie alle echte Bühnenprofis sind. Selbst Celina ist als Jüngste im Tollitätenteam schon seit fünf Jahren in der von Steffi Wolter trainierten Tanzgarde des Mülheimer Carnevalsclubs aktiv. Genauso lange ist dort Kinderprinzessin Sarah-Katharina dort mit von der Partie. „Ich freue mich schon darauf, wenn die Menschen wieder feiern und jubeln und Freude an unseren Auftritten haben“, sagt die designierte Kinderprinzessin. Sie hat sich auch schon in früheren Sessionen gerne als Prinzessin verkleidet. Jetzt darf sie ganz offiziell das Ornat einer närrischen Regentin tragen.


Gemeinsame Bühnenauftritte im Karneval sind auch für den Kinderprinzen Simon und seinen Pagen Serafino nichts neues. Beide spielen im Fanfarenzug der Mölmschen Houltköpp Trompete. Und Serafino Gehlhaus, der sich durchaus vorstellen kann, in einer der folgenden Karnevalssessionen vom Pagen zum Kinderprinzen aufzusteigen, ist sogar ein echtes Doppeltalent. Denn er ist auch als Tanzmajor in der Garde der KG Mölm Boowenaan aktiv. Die Jecken dürfen sich also auf eine große Karnevalsshow der kleinen tollitäten freuen.

Hintergrund


Zurzeit gehören 486 der 1300 aktiven mölmschen Karnevalisten zur jungen Garde der Generation U27. Die karnevalistische Jugend ist auch Mitglied im Stadtjugendring, der die Jugendarbeit der 12 Karnevalsgesellschaften und des Hauptaussschusses Groß-Mülheimer Karneval unterstützt. Anders, als die großen Tollitäten müssen die kleinen Tollitäten keinen finanziellen Eigenbeitrag leisten. Denn sie werden vom Hauptausschuss Groß-Mülheimer Karneval gesponsert. Mit einem Kinderprinzen-Pin, der gegen eine Spende abgegeben wird, wollen die Kindertollitäten in diesem Jahr das Kinderhospiz in Düsseldorf und die Mülheimer Ortsgruppe der Deutschen Multiple-Sklerose-Gesellschaft unterstützen. Mehr über den Mülheimer Karneval und seine Veranstaltungen erfährt man im Internet unter: www.muelheimer-karneval.de


Samstag, 28. Dezember 2019

In Memoriam Franz Püll

Auf die Frage: „Was würden Sie aus Ihrer langen Lebenserfahrung heraus heutigen Wählern und Gewählten raten?“, antwortete der ehemalige CDU-Landtagsabgeordnete und Stadtverordnete Franz Püll im August in einem Interview mit dieser Zeitung: „Wir müssen erkennen, dass uns nur das Prinzip der christlichen Nächstenliebe als Gesellschaft weiterbringt. Der pure Egoismus führt in die Sackgasse. Ich glaube auch weiterhin, dass wir Volksparteien brauchen, die einen gesellschaftlichen Interessenausgleich herstellen.

70 Jahre nach der ersten Bundestagswahl, erinnerte sich der 92-jährige Schornsteinfegermeister im an die Geburtsstunde der deutschen Nachkriegsdemokratie, die er ab 1969 als Christdemokrat, Landesinnungsmeister, Ratsherr, Landtagsabgeordneter und Vizepräsident der Handwerkskammer Düsseldorf aktiv mitgestaltet hat. Am Heiligen Abend ist Franz Püll gestorben. Er wird nicht nur seinen drei Kindern fehlen. Nicht nur als Mitglied im Petitionsausschuss des Landtages, dem Püll von 1980 bis 1995 angehörte, stand er Rat und Hilfesuchenden Mitbürgern zur Seite, wenn sie in die Mühlen von Bürokratie und Gesetzgebung geraten waren. Zusammen mit seinem Mülheimer SPD-Parlamentskollegen Bodo Hombach setzte Püll die Einführung einer Meistergründungsprämie durch. Im bereits zitierten Interview mit dieser Zeitung hat Püll betont, wäre er noch politisch aktiv, würde er sich für die Abschaffung der Straßenbaubeiträge einsetzen, die Hauseigentümer zu zahlen hätten.


Freitag, 27. Dezember 2019

Erinnerung an die letzte Kriegsweihnacht

Zu Weihnachten hat der 1939 geborene Mülheimer Klaus Kocks, den viele seiner älteren Mitbürger noch aus seiner Zeit als Mitarbeiter des Jugendamtes kennen, die Feldpostbriefe hervorgeholt, die sein Vater Willi vor 75 Jahren von der Ostfront an seine Familie schrieb. Sie sind ein bewegendes und berührendes Zeitzeugnis, das uns zum Frieden und zur Liebe mahnt.


Vor 75 Jahren ist der 43-jährige Mülheimer Postbeamte Willi Kocks als Feldpostoffizier Soldat der deutschen Wehrmacht, die 1944 an allen Fronten auf dem Rückzug ist. Er kämpft in Russland und dann in Ostpreußen. Dort schreibt er bis zum 14. Januar 1945 40 Briefe an seine Frau Else, mit der er seit 1933 verheiratet ist und zwei gemeinsame Kinder (Elsie und Klaus, damals 9 und 5 Jahre jung) hat. Seine Familie lebt seit 1943 nicht mehr in Mülheim, sondern in Württemberg, wohin sie evakuiert worden ist, nachdem der Luftkrieg ihre Heimatstadt in eine Trümmerlandschaft verwandelt hat und 1100 Mülheimer das Leben kosten wird. Obwohl Willi Kocks an die Ostfront strafversetzt worden ist, nachdem er als deutscher Soldat in Bordeaux gegen die Verhaftung und Misshandlung von Franzosen protestiert hat, verraten seine zensierten Feldpostbriefe keine offene Kritik an Adolf Hitler und der NSDAP, der er seit 1933 angehört. Auch innerhalb der Evangelischen Altstadtgemeinde gehört Kocks vor dem Krieg zu den regimetreuen Deutschen Christen. Doch zwischen den Zeilen kann man aus seinen Feldpostbriefen herauslesen, wie überdrüssig er 1944 des Krieges ist, aus dem er nicht nach Hause zurückkehren wird. Willi Kocks ist einer von 2700 Mülheimern, die seit Kriegsende als vermisst gelten. 3500 seiner Mitbürger fallen als Soldaten der Wehrmacht.


Willi Kocks schreibt am:

11. Oktober 1944: „Noch glaubt ein jeder, Weihnachten wieder zu Hause zu sein. Aber es wäre zu schön, um wahr zu sein. Ich glaube nicht mehr daran. Man darf gar nicht mehr denken.“

19. Oktober 1944: „Sie glauben tatsächlich, nach einem verlorenen Krieg ruhig nach Hause gehen zu können. Ich bin es auch verdammt leid. Zu Hause denkt man bestimmt anders, als wenn man vorne ist. Dort verflucht man alles, was mit dem Krieg zu tun hat. Man wünscht sich, das alles zu Ende geht, gleich wie. Es steht fest: Nach einem verlorenen Krieg haben wir nichts zu erwarten, nur Not und Elend. Es kommen noch harte Zeiten. Wer die übersteht, hat Glück gehabt.“

20. Oktober 1944: „Der böse Krieg wird es ja dem Christkind besonders schwer machen.“

3. November 1944: „Jetzt kommt die Weihnachtszeit heran. Wir sind noch hier. Das wird wohl die letzte Kriegsweihnacht sein.“

9. November 1944: „Mit den Weihnachtsgeschenken für die Kinder sieht es ja trostlos aus. Denn in dieser elenden Walachei ist nichts aufzutreiben.“

22. Dezember 1944: „So können wir abschließend zu diesem Jahr sagen, dass wir beide in diesem Elend, besonders ich, Glück gehabt haben. So mancher Kamerad, der nicht daran gedacht hat, ist nicht mehr. Wir wollen nur hoffen, dass der Krieg bald zu Ende geht. Also Schätzchen, feiert nur schön Weihnachten und denkt ein bisschen an den Vati. Ich werde bestimmt an euch denken.“


25. Dezember 1944: „Da habe ich zu diesem Weihnachten Pech gehabt. Keine Post, kein Päckchen ist angekommen. Du kannst dir denken, wie es mit meiner Weihnachtsstimmung aussieht. Ansonsten war die Weihnachtsfeier sehr dürftig.“

1. Januar 1945: „Wir wollen hoffen, dass es die letzte Kriegsweihnacht ist. Nach der Führerrede scheint es doch noch zu dauern, bis dieser Wahnsinn aufhört. Wir wollen aber trotzdem den Mut und die Hoffnung nicht sinken lassen.“

Und in seinem letzten Brief schreibt Willi Kocks am 14. Januar 1945 aus dem ostpreußischen Deutsch Eylau, das heute Ilwa heißt und zu Polen gehört, an seine Frau und an seine Kinder: „Das Jahr 1944 hat mir körperlich viel Schaden getan. Der Vati kommt als alter Mann nach Hause. Auf Wiedersehen. Vielleicht in 3 bis 4 Wochen und viele herzliche Grüße Dein Wim“



Weihnachten 1944

24. Dezember 1944. Die britische Luftwaffe greift mit 170 Bombern gegen 14.30 Uhr den Flughafen Essen/Mülheim an, der seit 1940 als militärischer Fliegerhorst genutzt wird. 600 Menschen aus Raadt suchen im Hochbunker an der Windmühlenstraße Zuflucht und Schutz. Eine 200-Kilo-Bombe durchschlägt die Betondecke des Bunkers. Viele Menschen sterben oder werden schwer verletzt. Die Zahl der Toten wird nie genau ermittelt. Die Schätzungen schwanken zwischen 50 und 340. Die Druckwellen des Luftangriffs lassen auch im Evangelischen Krankenhaus Fenster bersten. Viele Verwundete aus Raadt müssen notdürftig im Keller des Krankenhauses gelagert werden. Auch ein im Haus Jugendgroschen untergebrachtes Kinderkrankenhaus an der Mendener Straße wird durch die Bomben zerstört. Doch seine kleinen Patienten überleben, weil sie während des Luftangriffs nicht im Haus Jugendgroschen, sondern bei einer weiter entfernt stattfindenden Weihnachtsfeier weilen.


Donnerstag, 26. Dezember 2019

100 Jahre St. Michael in Speldof

Heute denken die christlichen Kirchen angesichts schrumpfender Mitgliederzahlen über die Aufgabe oder Umwidmung ihrer Gotteshäuser nach. Vor über 100 Jahren dagegen planten die evangelische und die katholische Kirchengemeinde Mülheims neue Gemeinden in Broich und Speldorf. Denn hier war die Bevölkerung infolge der Industrialisierung enorm gewachsen.


Am 23.Dezember wurde in St.Michael an der Schumannstraße der erste Gottesdienst gefeiert. Die Kirche war noch nicht ausgemalt. Einen Altar aus Holz hatte die Nachbargemeinde Herz Jesu zur Verfügung gestellt.

Zur Geschichte und zum Leben der Gemeinde hat Gerd Fölting eine Ausstellung initiiert. Deren historischer Teil kann schon besichtigt werden. Das Mosaik der vielen Gruppen, die zusammen die Gemeinde bilden, wächst im Jubiläumsjahr zum 2.Teil der Ausstellung.


Die Menschen, die hier eine Gemeinde gründen wollten, haben von Anfang an finanzielle und personelle Probleme bewältigen müssen. Sie haben sich immer wieder auf neue Rahmenbedingungen eingestellt und darauf besonnen, was für sie als katholische Christen persönlich grundlegend und für den Stadtteil notwendig war. Allen Widrigkeiten zum Trotz haben sie ihr Gemeindleben entfaltet. Dies beschreibt Gerd Fölting als für ihn wichtigste Erkenntnis aus seiner Auseinandersetzung mit der Gemeinde- und Kirchengeschichte in Speldorf. Er erlebt heute  eine zwar kleinere, aber aktive Gemeinde, die Themen und Aufgaben aufgreift, die sich ihren Mitgliedern aufdrängen.


Seit 1903 von Dechant Weyand und Pfarrer Coenen geplant, bremsten Insolvenzen von Investoren, die ablehnende Haltung des nationalliberalen Oberbürgermeisters Paul Lembke und kriegsbedingter Baustoffmangel den Kirchbau in Speldorf aus. Für den weiteren Ausbau zurückgelegtes Geld wurde in den 1920er Jahren von der Hyperinflation aufgefressen.



Deshalb würde entgegen der Planung das Kirchenschiff erheblich gekürzt und der Kirchturm gestrichen. Nach der Ausgestaltung des Innenraums wurde St.Michael erst 1927 offiziell eingeweiht. Pfarrhaus, Kindergarten, Gemeindezentrum und Jugendheim entstanden erst schrittweise im Laufe der nachfolgenden Jahrzehnte.


Die ersten Gemeindemitglieder von St. Michael, es waren bis zu 2000, arbeiteten bei der Reichsbahn im Speldorfer Eisenbahnausbesserungswerk, in Lederfabriken, in Gartenbaubetrieben und in Tonwerken.


Katholische Arbeiterschaft und Kleinbürgertum, die St. Michael trugen, hatten nicht viel Geld, waren aber sehr einsatz- und spendenfreudig. In der Zeit des Nationalsozialismus wurden katholische Jugendarbeit und Religionsunterricht in Schulen verboten. Deshalb wichen sie heimlich ins Pfarrhaus und in den Marienhof aus. Ein Schicksalsschlag für die Gemeinde war, dass fünf ihrer sechs Jugendgruppenleiter im 2. Weltkrieg fielen. Nach dem Krieg erwarb die Gemeinde von der Stadt die Baracken der Kindergärten der NS-Volkswohlfahrt für ihren katholischen Gemeindekindergarten und für den Wiederaufbau der kirchlichen Jugendarbeit.


Infolge der Reformen des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962-1965) wurde in der Kirche St.Michael der Altarraum abgesenkt und der Altar in Richtung der Gläubigen im Kirchenschiff verschoben. So wird deutlich, dass nach dem neuen Verständnis von Gemeinde als dem Volk Gottes nicht der Priester allein in lateinischer Sprache für die Gemeinde die Heilige Messe feiert, sondern mit ihr in deutscher Sprache. 

Hintergrund



Seit 2006 hat sich die etwa 3000 Gläubige zählende Gemeinde St. Michael mit den anderen Gemeinden links der Ruhr zur Pfarrei St. Mariä Himmelfahrt zusammengeschlossen.. Der Pfarreientwicklungsprozess (2015-2018) hat den langfristigen Erhalt der seit 2010 in Renovierung befindlichen Kirche St.Michael an der Schumannstraße bestätigt. Gemeindemitglieder pflegen Projekt-Partnerschaften mit der Ukraine und Tansania. Einige Gemeindemitglieder haben sich in der örtlichen Flüchtlingshilfe engagiert.


Dienstag, 24. Dezember 2019

Festlicher Denkanstoß

Bei meinem Gespräch, dass ich jetzt für diese Zeitung mit dem Stadtdechanten Michael Janßen und dem Superintendenten Gerald Hillebrand über die ökumenischen Perspektiven in Mülheim führen durfte, musste ich unwillkürlich daran denken, dass einem evangelischen Freund unserer Familie verweigert wurde, mein Taufpate zu werden. Auch meine katholische Großmutter durfte ihren evangelischen Jugendfreund nicht heiraten. Ob sie mit dem jungen Protestanten glücklicher geworden wäre als mit einem katholischen Großvater, der eine Seele von Mensch war, sich aber auch schon mal vom heiligen Zorn hinreißen ließ? Gott allein weiß es. Ich weiß nur, dass uns unser evangelischer Familienfreund länger erhalten geblieben ist, als mein katholischer Taufpate, der sich, ob eines Streites mit meinem Vater sehr unchristlich auf Nimmerwiedersehen verabschiedete. Meinerseits ist ihm, ob seines Totalausfalls als Taufpate, verziehen. Nicht nur diese Enttäuschung meines Lebens habe ich Gott sei Dank mit evangelischen und katholischen und vor allem mit mütterlichen und väterlichen Freunden überstanden, die mir Gott sei Dank wichtige Impulse für mein Leben gegeben haben, weil sie sich ganz überkonfessionell vor allem als Menschen gesehen und so gehandelt haben. Und so scheint mir die Tatsache, dass nicht nur, aber auch die gemeinsame Not die christlichen Kirchen nicht nur das Beten, sondern auch die Ökumene lehrt, wie eine göttliche Ironie der Geschichte, die vermuten lässt, dass der liebe Gott zum Geburtstagsfest seines Sohnes für seine Menschenkinder einen segensreichen Denkanstoß parat hat, mit Augenzwinkern, versteht sich! 

Dieser Text erschien am 24. Dezember 2019 in der NRZ

Montag, 23. Dezember 2019

Mehr Ökumene wagen

Weihnachten verbindet Christen über alle Konfessionen hinweg als das Fest der Geburt Jesu, das im christlichen Glauben für den Beginn der Frohen Botschaft von einem neuen heilsgeschichtlichen Bund zwischen Gott und den Menschen steht. Stadtdechant Michael Janßen und Superintendent Gerald Hillebrand äußern sich am Vorabend des christlichen Hochfestes über die Perspektiven für die Ökumene in Mülheim.

Warum haben die beiden christlichen Stadtkirchen am 2. Dezember erstmals zum Ökumenischen Neujahrsempfang in den Altenhof eingeladen?

Hillebrand: Weil der Advent, mit dem das neue Kirchenjahr beginnt, uns als Festzeit des kommenden Gottes uns als evangelische und katholische Christen in gleichweise betrifft und bewegt. Deshalb machte ein ökumenischer Neujahrsempfang auch Sinn.

Janßen: Und er ist als ein starkes Zeichen der Ökumene in der Öffentlichkeit auch wahrgenommen und begrüßt worden. Ein solcher Empfang und die Tatsache, dass eine Oberkirchenrätin und ein Generalvikar eine Dialog-Predigt halten, wäre vor 60 Jahren noch undenkbar gewesen.

Wo und wie wird Ökumene in Mülheim gelebt?

Hillebrand: Ich denke da zum Beispiel an die ökumenischen Schulgottesdienste und an die Vereinbarung über ökumenisch-konfessionell-kooperativen Religionsunterricht an Schulen, an denen es keine ausreichend großen katholischen und evangelischen Schülergruppen für einen konfessionellen Religionsunterricht gibt. Auf dem Kirchenhügel und am Steigerweg werden ökumenische Kirchenfeste gefeiert. Links der Ruhr gibt es eine ökumenische Trauerbegleitung und die Tradition eines ökumenischen Gottesdienstes am 4. Advent und am Pfingstmontag. Viele Kirchenchöre sind heute ökumenisch zusammengesetzt und in der vom evangelischen Kirchenkreis An der Ruhr organisierten Notfallseelsorge engagieren sich seit 2014 katholische und evangelische Gemeindemitglieder als ehrenamtliche Mitarbeiter. Die Telefonseelsorge ist ebenso ökumenisch organisiert wie die Gottesdienste für Demenzkranke und ihre Angehörigen auf dem Kirchenhügel.

Janßen: Mir gefällt besonders gut der ökumenische Beginn der Osternacht auf dem Kirchenhügel. Dort gibt es auch ein ökumenisches Familienzentrum. Auch in der Krankenhausseelsorge wird eine gute ökumenische Zusammenarbeit gepflegt. Wir haben ein ökumenisches Friedensgebet, ein gemeinsames Pogromgedenken und viele ökumenische Gesprächsgruppen uns Bibelkreise.

Aber wir haben immer noch eine katholische und eine evangelische Ladenkirche.

Janßen: Das hat aber keine theologischen, sondern rein praktische und finanzielle Gründe. Grundsätzlich wäre auch eine ökumenische Ladenkirche für mich denkbar.

Hillebrand: Während die katholische Ladenkirche am Kohlenkamp rein mit ehrenamtlichen Mitarbeitern organisiert wird, arbeiten wir in unserer Ladenkirche, die auch Kircheneintrittsstelle ist, zusätzlich auch mit hauptamtlich Mitarbeitenden.

Was ist in Sachen Ökumene mit Blick in die Zukunft denk- und machbar?

Hillebrand: Eine gemeinsame Nutzung von Kirchen und Gemeindezentren ist denkbar. Hier betreten wir aber noch Neuland und die Entscheidung liegt in jedem Fall bei den Gemeinden, die Eigentümer der Gebäude sind.

Janßen: Der Altenberger Dom ist ein Beispiel, dass Kirchen auch ökumenisch genutzt werden können. Wenn der demografische Wandel und die Säkularisierung unserer Gesellschaft die Zahl der Christen weiter schrumpfen lassen sollte, könnten wir mit einer ökumenischen „Haus- und Wohngemeinschaft“ dafür sorgen, dass in jedem Stadtteil zumindest eine christliche Kirche verbleibt, die dann auch nicht nur als Gottesdienstraum, sondern auch als Gemeindezentrum gemeinsam genutzt werden kann. Ich will auch künftig in jedem Stadtteil einen Kirchturm sehen.

Werden wir in absehbarer Zeit so etwas wie gemeinsame ökumenische christliche Kirche erleben?

Hillebrand: Ich bin jetzt 63. Ich werde das nicht mehr erleben. Da müsste sich schon ganz viel ganz schnell tun. Aber wir können weitere Fortschritte in Richtung Ökumene machen. Ich denke dabei an eine gegenseitige eucharistische Gastfreundschaft der christlichen Konfessionen beim Abendmahl und bei der Kommunion. Wir müssen unsere unterschiedlichen Traditionen nicht zwingend aufgeben, wenn wir sie unter einem gemeinsamen Dach und auf der Basis gleichberechtigter Akzeptanz leben.

Janßen: Auch wenn es nach wie vor konfessionelle Unterschiede im Kirchenverständnis gibt, kann genau das funktionieren, wenn wir dem Leitbild einer christlichen Einheit in Vielfalt und einer christlichen Vielfalt in der Einheit folgen, die von einer versöhnten Verschiedenheit ausgeht.

Warum braucht auch eine zunehmend multikulturelle, pluralistische und säkularisierte Stadtgesellschaft christliche Stadtkirchen und deren ökumenische Zusammenarbeit?

Hillebrand: Weil wir als Kirchen christliche Werte wie Nächstenliebe, Solidarität, Menschenwürde und Gerechtigkeit vertreten, die unsere Gesellschaft prägen, auch wenn nicht alle ihre Mitglieder Christen sind. Als christliche Kirchen müssen wir auch jenen eine Stimme geben, die in unserer Gesellschaft am Rand stehen, und deshalb oft nicht gehört werden. Und auch heute schätzen viele Eltern Kindertagesstätten, in denen noch christliche Feste gefeiert werden, ohne dass sie dabei nach der Konfession fragen.

Janßen: Gerade in einer zunehmend säkularen und multikulturellen Stadtgesellschaft werden wir als christliche Kirchen nur noch gemeinsam gehört. Und das erwarten die Menschen auch von uns, dass wir im Geiste der Frohen Botschaft, die aktueller denn je ist, Stellung gegen Rassismus, Antisemitismus, Ausgrenzung, Ausbeutung und Diskriminierung beziehen. Auch heute suchen Menschen nach einem Sinn in ihrem Leben. Und da kann die christliche Botschaft wichtige Antworten geben, weshalb sich christliche Schulen auch in Zeiten von Kirchenaustritten großer Beliebtheit erfreuen. 

Hintergrund:

Mitte des 16. Jahrhunderts wurde St. Peter auf dem Kirchenhügel zur reformierten Petrikirche. Bis dahin hatte es nur eine christlich-katholische Konfession gegeben. Erst Mitte des 18. Jahrhunderts kehrte mit den Jesuiten katholisches Leben auf den Kirchenhügel zurück. 1786 wurde dort die erste Marienkirche errichtet, der 1872 und 1929 zwei weitere, jeweils größere Marienkirchen folgten. Bis dahin blieben allein das Kloster Saarn und das Schloss Styrum katholische Enklaven im protestantischen Mülheim. Allerdings kritisierte schon der 1769 in Mülheim gestorbene pietistische Mystiker, Dichter und Menschenfreund Gerhard Tersteegen den amtskirchlichen Konfessionalismus seiner Zeit als Widerspruch Frohen Botschaft Jesu Christi. Erst durch die Industrialisierung und die mit ihr verbundene Zuwanderung von Arbeitskräften wuchs der katholische Bevölkerungsanteil der Stadt. In den 1920er Jahren waren bereits ein Drittel der Mülheimer katholisch. In den 1970er Jahren waren etwa gleich viele, jeweils gut 60.000 Mülheimer, katholisch und evangelisch. 1973 erreichte Mülheim mit 193.000 Einwohnern seinen höchsten Bevölkerungsstand. Heute leben etwa 172.000 Menschen in der Stadt. Der evangelischen und katholischen Stadtkirche gehören inzwischen jeweils weniger als 50.000 Mülheimer an. Kirchenaustritte und Überalterung lassen die Zahl der christlichen Kirchenmitglieder und damit auch die Finanzkraft der Stadtkirchen tendenziell weiter schrumpfen, auch wenn die aktuelle vergleichsweise gute Beschäftigungslage die Kirchensteuern auf einem immer noch hohen Niveau hält, müssen sich die beiden christlichen Stadtkirchen auf massive Finanzkraftverluste einstellen, wenn die geburtenstarken Jahrgänge der Babyboomer in Rente gehen. Beide Stadtkirchen versuchen sich bereits seit einigen Jahren mit Gemeindefusionen, kostensparende Strukturreformen und mit der Aufgabe oder Umwidmung von Kirchengebäuden auf die absehbare Entwicklung einzustellen.

Dieser Text erschien am 22.12.2019 in NRZ & WAZ

Sonntag, 22. Dezember 2019

Zur Nachahmung empfohlen

„Wir brauchen wieder mehr Bauchgefühl und Intuition in der Politik“, sagt mir Alt-Bürgermeister Günter Weber, als wir uns jetzt im Haus der Stadtgeschichte treffen und über seinen politischen Nachlass sprechen, den er dem Stadtarchiv übergeben hat. Gerne erinnert sich der Sozialdemokrat alter Schule daran, dass die Stadtverordneten früher nach Ausschusssitzungen mit einem Schnäpschen auf Geburtstagskinder in ihren Reihen anstießen und sich dabei auch abseits der politischen Tagesordnung privat etwas zu sagen hatten. Als einen seiner politischen Lehrmeister, die ihm gezeigt hätten, was Menschlichkeit mit offenen Ohren, offenen Türen und gutem Willen segensreich bewirken kann, nennt er Mülheims Oberbürgermeister Heinirch Thöne, der sich 1933 der Ehrenbürgerschaft Hitlers verweigert und nach dem Krieg als Oberbürgermeister den Wiederaufbau der Stadt mitgestaltet habe. Wenn man dem politischen Zeitzeugen Weber zuhört, begreift man auch als Nachgeborener, warum es ihn schmerzt, dass der Name Heinrich Thöne, der auch unsere Volkshochschule schmückt, in der Öffentlichkeit allzu oft vergessen oder verschwiegen wird. Thöne hat seine politische Lebenserfahrung einmal so zusammengefasst: „In der Demokratie darf der politische Gegner niemals zum Feind werden.“ Das bleibt aktuell. Weber ist bei Thöne in die Schule gegangen und hat begriffen, dass Macht ohne Menschlichkeit nichts Gutes hervorbringen kann. Gut, dass man jetzt Thönes und Webers politische Lebenserfahrungen als Nachlässe im Haus der Stadtgeschichte, Seit an Seit, nachlesen kann. Noch besser wird es aber sein, sich im Alltag der kleinen und großen Politik an ihre Lebenserfahrungen zu erinnern und sie zu unseren eigenen zu machen, in dem wir sie beherzigen. Denn die Geschichte geht weiter.

Dieser Text erschien am 20. Dezember 2019

Freitag, 20. Dezember 2019

Erinnernswert

Die Geschichte geht weiter, auch im Stadtarchiv. Dort wird das Gedächtnis Mülheims fortgeschrieben, zum Beispiel mit den Nachlässen von Menschen, die unsere Stadt mitgestaltet und geprägt haben. Der ehemalige Bürgermeister und Landtagsabgeordnete Günter Weber (SPD) ist einer von ihnen. Kurz nach seinem 84. Geburtstag hat Weber seinen Nachlass dem kommissarischen Leiter des Stadtarchivs, Jens Roepstorff, übergeben und dabei ein Gespräch mit dieser Zeitung geführt.

Was findet sich in Ihrem Nachlass und warum haben Sie ihn jetzt dem Stadtarchiv übergeben?

Weber: Mein Nachlass, der ein Vorlass ist, weil ich ihn noch zu Lebzeiten dem Stadtarchiv übergebe, umfasst zum Beispiel Fotos, Briefe und Zeitungsartikel, aber auch eine Zeitschrift der Dümptener SPD, die wir zwischen 1977 und 1985 herausgegeben haben. Die Dokumente, die sechs Archivkartons und 35 Aktenordner füllen, dokumentieren meine politische Arbeit. Mit ihnen kann meine Familie nichts anfangen, aber ich möchte sie für die Nachwelt erhalten, weil sie für den Papierkorb zu schade wären.

Welche Erinnerungen haben Sie an den 2. Weltkrieg, bei dessen Ende sie neun Jahr alt waren?

Weber: Mein Vater war Bergmann auf der Zeche Wiesche und wir wohnten in der Mausegattsiedlung. Bei einem Luftangriff wurden wir im Keller unseres Hauses verschüttet und mussten von Nachbar freigeschaufelt werden. Die kleine Tochter unserer Nachbarin ist damals im Bunker gestorben. Ich höre noch heute die Schreie der verzweifelten Mutter, die überlebt hatte. 1943 kam ich in die Kinderlandverschickung nach Württemberg.

Wie kamen Sie in die Politik?

Weber: Wie mein Großvater und mein Vater wurde ich Sozialdemokrat. Damals war ich 21 und hatte nach meinem Volksschulabschluss bei Siemens eine Maschinenschlosserlehre absolviert. Die SPD war die Partei der einfachen Leute. Sie war unsere Partei, die sich für die Arbeiter einsetzte, die damals noch eine 6-Tage- und 48-Stunden-Woche und nur 14 Tage Jahresurlaub hatten. Dass es die SPD war, die viele soziale und wirtschaftliche Verbesserungen für die Arbeiter erreicht hat und dafür sorgte, dass auch Arbeiterkinder studieren konnten, haben viele Menschen heute vergessen.

Was hat Sie politisch geprägt?

Weber: Ich hätte gerne das Gymnasium besucht und studiert. Doch mein Vater war der Meinung, dass das für mich als Arbeiterkind nicht infrage käme, zumal man damals für den Besuch der höheren Schule Schulgeld bezahlen musste. Bei den Falken, der sozialdemokratischen Jugendbewegung, im Ring der politischen Jugend  und im Bürgerkundeunterricht der Berufsschule an der Kluse habe ich viel gelernt. Bei einem Politik-Wettbewerb im Handelshof habe ich dann 1958 den Besuch der Weltausstellung in Brüssel gewonnen. Das war ein großartiges Erlebnis. Aber auch meine Besuche in Auschwitz, Lidice und Theresienstadt haben mich nachhaltig beeinflusst. Außerdem habe ich mit meiner Frau Christel von 1959 bis 1975 ehrenamtlich ein Jugendheim an der Nordstraße geleitet. Da habe ich gelernt, zu organisieren und für Menschen da zu sein und für ihre Belange einzutreten.

Wo und wie konnten Sie politische Akzente setzen?

Weber: Als junger Stadtverordneter konnte ich in den 1960er Jahren mit dafür sorgen, dass das bis dahin private Horbachtal zu einer öffentlichen Grünfläche wurde. Da war ich stolz wie Oskar. Gerne habe ich auch 1970 im Gründungskomitee der Gustav-Heinemann-Schule mitgearbeitet und Mülheims erster Gesamtschule auf den Weg gebracht. Später habe ich als Landtagsabgeordneter beim damaligen NRW-Verkehrsminister Franz-Josef Kniola Gelder für den Bau der Umgehung der Mellinghofer Straße locker machen können. Gerne erinnere ich mich auch an die damalige Eröffnung der Bürgerbegegnungsstätte im Alten Bürgermeisteramt an der Mellinghofer Straße und daran, dass wir 1997 als Dümptener SPD beim Bundesparteitag in Hannover den Wilhelm-Dröscher-Preis als aktivster Ortsverein der SPD gewonnen haben. Auch der Stadtbahnbau, den ich politisch maßgeblich begleiten durfte, war eine gute und richtige Entscheidung.

Was raten Sie aus Ihrer Lebenserfahrung heraus den heute politisch Aktiven und vor allem ihrer Partei, SPD, die sich in einer existenziellen Krise befindet?

Weber: Die SPD gibt es jetzt seit 155 Jahren. Doch ihr jetziger Zustand, den ich noch vor 10 Jahren nicht für möglich gehalten hätte, macht mir existenzielle Sorgen. Mit unserer Gesellschaft hat sich auch unsere Parteienlandschaft verändert. Die Aufhebung der Fünf-Prozent-Hürde für Stadträte war ein Fehler. Auch die Absenkung des Wahlalters auf 16 sehe ich skeptisch. Mit Blick auf die Heinrich-Thöne-Volkshochschule sollte man die Interessen unterschiedlicher Gruppen nicht gegeneinander ausspielen. Ich wünsche mir mehr guten Willen, aber auch mehr positives Bauchgefühl und Intuition für das, was unsere Stadt und ihre Bürger brauchen. Die Lage der Städte im Ruhrgebiet ist bescheiden. Da muss der Bund helfen. Denn das Ruhrgebiet hat den Wiederaufbau Deutschlands nach 1945 erst möglich gemacht. Politik wird von den Bürgern in den Städten erlebt. Hier entscheidet sich die Frage des sozialen Friedens und damit der Stabilität unserer Demokratie.

Zur Person:

Der Sozialdemokrat Günter Weber gehörte dem Rat der Stadt von 1964 bis 1990 an. Dort leitete er unter anderem den Ausschuss für die Betriebe der Stadt. Zwischen 1980 und 1990 war er als Bürgermeister Stellvertreter der damaligen Oberbürgermeisterin Eleonore Güllenstern. Von 1990 bis 2000 gehörte er dem nordrhein-westfälischen Landtag und dessen Verkehrsausschuss an. Damals war er einer von zwei Facharbeitern im Landtag. Sein damaliger Mülheimer CDU-Kollege Franz Püll war der einzige Handwerker im Parlament. Zwischen 1990 und 2000 stand Weber zusammen mit Erich Kröhan an der Spitze der damals 1200 Mitglieder zählenden SPD in Dümpten. Stadtweit hatte die heute knapp 2000 Mitglieder zählende Partei damals rund 5000 Mitglieder.


Donnerstag, 19. Dezember 2019

Ökumenischer Brückenschlag

Die beiden christlichen Stadtkirchen sind ihrer Zeit voraus. Sie laden bereits zum Beginn des Advents zu ihrem Neujahrsempfang, weil mit dem Advent das neue Kirchenjahr beginnt. Mit einem ökumenischen Neujahrsempfang haben das Stadtdekanat und der Kirchenkreis an der Ruhr jetzt Neuland betreten. Die Idee eines gemeinsamen Jahresempfangs hatte der Vorsitzende des Stadtkatholikenrates, Rolf Völker, bereits vor zwei Jahren ins Gespräch gebracht.
Mit dieser ökumenischen Neuerung geht auch eine Verschmelzung des Evangelischen Hoffnungspreises und der katholischen Nikolaus-Groß-Medaille einher. „Im kommenden Jahr wollen wir einen gemeinsamen Preis vergeben, der Menschen auszeichnet, die sich als Christen für Menschen einsetzen und uns mit ihrem Engagement Mut machen“, sagten Stadtdechant Michael Janßen und Superintendent Gerald Hillebrand beim Empfang im Altenhof, dem Haus der Evangelischen Kirche. 

Beim ersten ökumenischen Neujahrsempfang wurden beide Auszeichnungen mit einer Gesamtdotierung von 3000 Euro an die 30 ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Notfallseelsorge vergeben. Die Notfallseelsorge wurde 1997 vom Evangelischen Kirchenkreis An der Ruhr ins Leben gerufen und bis 2014 ausschließlich von evangelischen Pfarrerinnen und Pfarrern getragen. Seit fünf Jahren wird das Team der Notfallseelsorger von qualifizierten Laien aus der evangelischen und katholischen Stadtkirche mitgetragen. „Zurzeit haben wir 23 evangelische und sieben katholische ehrenamtliche Notfallseelsorger, die in der Nachfolge Christi Menschen in existenziellen Krisensituationen beistehen“, berichtete der hauptamtliche Leiter der Notfallseelsorge, Pfarrer Guido Möller. „Es ist eine schwierige, aber auch sehr sinnvolle Arbeiten, die wir Gott sei Dank nicht alleine, sondern getragen von einer starken Gemeinschaft leisten und bei der wir von den Betroffenen viel Dankbarkeit zurückbekommen, weil wir für sie da sind und mit ihnen extremen Schmerz und Leid aushalten, konkrete Hilfestellung geben und ihnen so in einer Ausnahmesituation nach einem Schicksalsschlag Halt geben“, berichteten die beiden ehrenamtlichen Notfallseelsorgerinnen Sabine Magiera aus der Pfarrgemeinde St. Barbara und Christina Steinbeck aus der Kirchengemeinde Broich-Saarn. „Sie leisten eine sehr anspruchsvolle Arbeit, die Standhaftigkeit und menschliches Einfühlungsvermögen verlangt“, würdigte Superintendent Gerald Hillebrand die Preisträger. Und Stadtdechant Michael Janßen bescheinigte den ehrenamtlichen Notfallseelsorgern im Geiste des seligen Widerstandskämpfers Nikolaus Groß in der Nachfolge Christi „ihr Leben einzusetzen“!


Dem Empfang im Altenhof war eine ökumenische Vesper in der benachbarten katholischen Stadtkirche St. Mariae Geburt vorausgegangen.


Bei dieser Vesper hatte Generalvikar Klaus Pfeffer unter dem Beifall der Gottesdienstbesucher betont: „Wir werden die Herausforderungen der Zukunft als christliche Kirchen nur gemeinsam bestehen. In einer Gesellschaft, in der christlicher Glaube nicht mehr selbstverständlich ist, wissen viele Menschen gar nicht mehr, was die christlichen Konfessionen unterscheidet. Wir können Menschen nur durch unser eigenes Beispiel von der christlichen Botschaft überzeugen. Und wir müssen gemeinsam unsere Stimme erheben, wenn Hass, Hetze und gesellschaftliche Spaltung Menschenwürde und Demokratie gefährden.“ Pfeffers Dialogpartnerin aus der evangelischen Landeskirche, Oberkirchenrätin Barbara Rudolph sagte: „Wir beobachten in der katholischen Kirche einen ernsthaften Erneuerungsprozess und wir beten für seinen Erfolg. Die christlichen Kirchen müssen sich immer wieder durch das biblische Wort Jesu reformieren. Deshalb machen mir die jungen Pfarrerinnen und Pfarrer Mut, die nicht über die Krise der Kirche lamentieren, sondern nach neuen Wegen suchen, die Frohe Botschaft weiterzugeben. Die Menschen müssen sich in ihrer Kirche wieder zuhause fühlen. Und das wird uns nur gelingen, wenn wir in jedem Stadtteil ein gemeinsames christliches Gemeindezentrum haben, statt unsere evangelischen und katholischen Gemeinden immer größer werden zu lassen, so dass sie bis zu drei Stadtteile umfassen. Nicht nur unsere Kirchen, auch das Ruhrgebiet braucht neue Ideen. Und deshalb dürfen wir nicht weiter im eigenen Saft schmoren, sondern müssen als Christen Hoffnungsträger werden, die Menschen positive Geschichten vom Leben erzählen und so dazu beitragen, die Menschen miteinander zu versöhnen und die gesellschaftliche Spaltung zu überwinden.

INFO: Die 1929 eingeweihte katholische Stadtkirche St. Mariae Geburt und der 1930 als Haus der Evangelischen Kirche eröffnete Altenhof sind benachbarte Gebäude an der Althofstraße auf dem Mülheimer Kirchenhügel. In diesem historischen Altstadtkern sind die seit der Mitte des 16. Jahrhunderts reformierte Petrikirche und die katholischen Stadtkirche St. Mariae Geburt, deren Vorgängerinnen dort 1786 und 1872 eingeweiht wurden, unmittelbare Nachbarn. Die Kindertagesstätten von St. Mariae Geburt und der Vereinten Evangelischen Kirchengemeinde Mülheim sind unter dem Dach eines ökumenischen Familienzentrums miteinander verbunden. In den Nachkriegsjahren, als die Petri- und die Marienkirche aufgrund ihrer Kriegsschäden nicht zu nutzen waren, diente der Altenhof zwischen der Kaiserstraße und der Altenhofstraße beiden christlichen Konfessionen als gemeinsamer Gottesdienstort. Zwischen 1907 und 1938 hatte die Synagoge am damaligen Viktoriaplatz, dem heutigen Synagogenplatz die Trias der Gotteshäuser in der Mülheimer Innenstadt komplettiert. Heute gehören noch rund 96.000 der 170.000 Mülheimer den beiden Christlichen Stadtkirchen. Vor 25 Jahren waren es noch rund 125.000 der damals etwa 190.000 Einwohner.


Ihre Wiege stand in Mülheim

  Der Mülheimer Heimatforscher Dirk von Eicken liebt Geschichte(n), die nicht jeder kennt. Eine dieser Geschichten hat er für die  Internets...