Dienstag, 17. Dezember 2019

Zirkusreif

„Gehe für uns am Wochenende doch mal in den Zirkus“, bat mich eine Kollegin aus der Lokalredaktion. Ich war skeptisch. Ich habe doch genug Theater. Warum jetzt auch noch Zirkus? Schon als kleiner Junge konnte ich mich, anders als meine beiden älteren Schwestern, für den Zirkus nicht begeistern. Wenn meine Schwestern begeistert kreischten, weil ein waghalsiger Mann in luftiger Höhe mit seinem Motorrad über ein Seil fuhr und ein anderer einen Elefanten dazu brachte, sich auf die Hinterbeine zu stellen und wie ein Hund Männchen zu machen, fragte ich mich nur: „Was soll der Quatsch? Das ist doch gefährlich.“ Jahrzehnte später wurde ich nun also zu einem Zirkusbesuch dienstverpflichtet und dachte wieder: „Was soll der Quatsch?“ Doch diesmal schmolz meine Skepsis dahin und mich packte die Begeisterung über Guillaume, Eric und David von der Defracto-Compagnie. Die artistischen Jongleure dressierten im Ringlokschuppen keine Elefanten. Sie mussten auch kein Hochseil mit einem Motorrad überqueren. Sie spielten sich lediglich kleine Bälle zu und tollten wie Kinder über die Bühne. Dabei waren ihre Jonglierkünste und ihre Bewegungen so aberwitzig und unvorhersehbar, dass man wie beim Lesen eines guten Buches immer wieder neu gespannt war, was nun als nächstes käme. Beim Blick auf die sich kunstvoll abstrampelnden Männer, die liefen, stolperten, hinfielen und wieder aufstanden, musste ich an den Wort-Jongleur Karl Valentin und seine Einsicht denken: „Kunst ist schön, macht aber auch viel Arbeit.“ Nach der Show mit den sich tollkühn bewegenden und jonglierenden Männern aus Frankreich öffnete mir eine Zuschauerin die Augen, in dem sie die atemberaubenden Verrenkungen auf der Bühne als Sinnbild dafür interpretierte, „dass man im Leben zusammenarbeiten und nach dem Hinfallen wieder aufstehen muss.“ Jetzt weiß ich, dass man erst zirkusreif werden muss, um den Sinn hinter dem höheren Blödsinn zu erkennen. 

Dieser Text erschien am 16. Dezember 2019 in der NRZ

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