Donnerstag, 31. Oktober 2019

Keine Zeit zum Gruseln

Gestern war der Weltspartag. Heute ist der Reformationstag. Und morgen ist Allerheiligen. Und manche Zeitgenossen feiern den Übergang vom Oktober zum November mit Halloween. Nachdenkliche Zeiten, in denen es naturgemäß dunkler wird. Gerade jetzt ist der richtige Zeitpunkt für die erhellende Erkenntnis: Wir sollten uns den großen Ärger über die vielen kleinen Unzulänglichkeiten des Lebens sparen, die uns Zeit und Kraft rauben und morgen schon wieder Schnee von gestern sind. Wir sollten nicht auf die große Reform oder Revolution von oben warten, sondern mit der Reform bei uns selbst beginnen, in dem wir uns von unseren eigenen Ängsten und Scheuklappen freimachen, die uns daran hindern, das beste aus uns herauszuholen. Und wir sollten uns von unseren eigenen Unzulänglichkeiten nicht entmutigen lassen, jeden Tag immer wieder neu anzufangen, um zu werden, wer wir sind. Und dann wissen wir, dass wir keine Zeit haben, uns von den Geisterbahnfahrern abschrecken zu lassen, die nicht nur an Halloween unterwegs sind, um uns mit Schall, Rauch und Horrorszenarien den Blick auf das Wesentliche zu vernebeln. Wir haben keine Zeit, um uns zu gruseln.

Dieser Text erschien am 31. Oktober 2019 in der NRZ

Sonntag, 27. Oktober 2019

Früchte statt Früchtchen

Gestern fiel mir ein Aufkleber der Linken ins Auge. Ausgerechnet am Ampelmast vor der SPD-Zentrale des Gerd-Müller-Hauses an der Auerstraße hatte die linke Konkurrenz der sozialdemokratischen Genossen eine Putzfrau en miniature plakatiert, die in kraftmeierischer Pose ihre Muskeln spielen lässt und fordert: „Arsch hoch gegen Rechtspopulisten!“ Zugegeben, ein starker Spruch und ein starkes Bild, dessen Platzierung offensichtlich Programm ist. Was will uns das sagen?

 Mir sagt es, dass wir genug Sprücheklopfer haben. Doch wenn ich mit offenen Augen und Ohren durch unsere Stadt gehe und viel zu viele halt- und ziellose Menschen sehe und höre, die abgehängt und ohne Lebensperspektive links oder rechts liegen gelassen werden, dann fällt mir die biblische Mahnung ein: „An ihren Taten sollt ihr sie erkennen!“ Man sieht: Es ist keine neue, aber dennoch aktuelle Erkenntnis, dass wir mehr Arbeiter im Weinberg brauchen  und weniger lautstarke Früchtchen, die uns das Paradies auf Erden versprechen, aber tatsächlich zu wenig dafür tun, dass wir diesem Ziel auch nur einen Schritt näherkommen. Denn am Ende des Tages lebt der Menschen eben nicht nur vom Wort allein, sondern auch vom Brot, dass er mit seiner Arbeit verdienen können muss. Denn wer die Früchte seiner Arbeit und seines Lebens genießen kann, weil er ein Stück vom Kuchen abbekommt, der kann sie auch anderen gönnen und wird deshalb den Früchtchen nicht auch den Leim gehen, die aus der Unzufriedenheit ihr trübes politisches Süppchen kochen. 

Dieser Text erschien am 26. Oktober 2019 in der NRZ

Samstag, 26. Oktober 2019

Späte Anerkennung

Kurz vor dem 30. Jahrestag der Maueröffnung hat mit Alexander Wiegand ein Mülheimer das Große Bundesverdienstkreuz am Bande bekommen. Wiegand, der den Berliner Mauerbau am 13. August 1961hatnah miterlebt hat, verhalf ab 1967 insgesamt 129 Landsleuten aus der damaligen DDR und den Staaten des kommunistischen Ostblocks zur Flucht in den Westen. „Ich freue mich, dass das, was ich für unser Land und für die Menschenrechte getan habe, durch diese Auszeichnung offiziell anerkannt worden ist“, sagte der 78-jährige Heißener nach der Ortsverleihung im Rathaus gestern in einem Gespräch mit der Mülheimer Woche.
Zu den ersten Gratulanten gehörten Heinrich Töge und Peter Plach. Beide haben im selben tschechischen Gefängnis, wie Wiegand, gesessen und dort, wie er, schlimmste Misshandlungen erfahren, die sie für ihr Leben gezeichnet haben.

Viereinhalb Jahre in Haft

Als Fernfahrer hatte Alexander Wiegand am 30. April 1972 acht Flüchtlinge an Bord, die sich hinter einer zweiten Wand seines Lastkraftwagens versteckten. An der bayerisch-tschechischen Grenze, die damals als Staatsgrenze der kommunistischen Tschechoslowakei ein Teil des Eisernen Vorhangs zwischen dem demokratischen Westen und dem kommunistischen Ostblock war, wurden die von Wiegand unentgeltlich transportierten Flüchtlinge bei einer Kontrolle entdeckt. Er wurde verhaftet und von einem Gericht der CSSR zu 26 Jahren Haft verurteilt, von denen er viereinhalb Jahre absitzen musste. 1976 schmuggelte der Gefängniswärter Oldrich Prasil einen Brief Wiegands an den bundesdeutschen Botschafter in Prag aus der Haftanstalt und ebnete ihm so den Weg in die Freiheit. Denn von der Prager Botschaft wurde Wiegands Brief an den damaligen Bundesaußenminister Hans-Dietrich-Genscher weitergeleitet, der sich beim damaligen Staatschef der CSSR, Gustav Husak für Wiegands Freilassung verwandte. 13 Jahre später konnte derselbe Genscher auf dem Balkon der Prager Botschaft den im Botschaftspark ausharrenden DDR-Flüchtlingen die erlösende Botschaft ihrer Ausreise in die Bundesrepublik verkünden. 41 Tage später öffnete sich in Berlin die Mauer.

Warten auf eine Opferrente

Doch ebenso wie seine Leidensgenossen Peter Plach und Heinrich Töge wartet der ehemalige Fluchthelfer Alexander Wiegand bis heute vergeblich auf eine Opferrente, die nach geltendem deutschen Recht bisher nur den Opfern des SED-Regimes zu steht, die zu Unrecht in Gefängnissen der DDR gesessen haben. Die von Oberbürgermeister Ulrich Scholten in der Rathausbücherei vorgenommene Verleihung des Bundesverdienstkreuzes machen Wiegand und seinen Leidensgenossen Mut, dass ihre beim Deutschen Bundestag vorliegende Petition auf Gewährung einer Opferrente nun Gehör finden könnte. Bei den Feierlichkeiten zum Tag der Deutschen Einheit in Kiel konnte Wiegand das gemeinsame Anliegen bereits mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, Bundesratspräsident Daniel Günther und NRW-Ministerpräsident Armin Laschet besprechen.

Bis heute ehrenamtlich aktiv

Auch in den späten Jahren der DDR und des Ostblocks hat Alexander Wiegand zur Flucht verholfen, dann aber geschützt durch einen Diplomatenpass des Auswärtigen Amtes. Auch jenseits der Fluchthilfe war der mutige und gläubige Fernfahrer immer wieder in humanitärer Mission unterwegs. Er brachte Medikamente und andere Hilfsgüter ins kriegsgeschüttelte Bosnien und in die von einer Reaktorkatstrophe betroffene weißrussische Tschernobyl-Region. Auch heute noch ist er als ehrenamtlicher Mitarbeiter der Caritas aktiv und kümmert sich zum Beispiel um Flüchtlinge und Drogenabhängige. „Meine Patentante Elisabeth hat mir beigebracht, dass man als Mensch in seinem Leben nicht nur an sich denken darf“, erklärt er seine Motivation. Und der Politik in unserem wiedervereinigten, aber politisch uneinigen Land empfiehlt Wiegand „alles für Sport, Bildung und Arbeitsplätze zu tun, damit die Menschen eine Lebensperspektive haben und keinen Extremisten nachlaufen.“


Donnerstag, 24. Oktober 2019

Ein Vorreiter in Sachen Inklusion

VBGS. Das steht in Mülheim seit 30 Jahren für Verein für Bewegungsförderung und Gesundheitssport. Vor dem Jubiläumsfest, das am Samstag, 26. Oktober, um 19 Uhr in der Harbecke-Halle an der Mintarder Straße gefeiert wird, berichtet der VBGS-Vorsitzende Alfred Beyer, der den Verein am 8. November 1989 mit 39 anderen Mülheimern im Haus des Sportes gegründet hat, warum der Verein für ihn zur Lebensaufgabe geworden ist.
In Mülheim gibt es mehr als 300 gemeinnützige Vereine. Was ist das besondere am VBGS?
Beyer:
Unseren Verein, der heute rund 160 Mitglieder hat, gibt es erst seit 30 Jahren. Aber schon vor 30 Jahren haben wir inklusiv gearbeitet und alle unsere Angebote auf Inklusion von Menschen mit und ohne Behinderung sowie mit und ohne Zuwanderungshintergrund ausgerichtet, als noch niemand von Inklusion gesprochen hat.
Was verbirgt sich hinter der Kombination aus Bewegungsförderung und Gesundheitssport?
Beyer:
Viele kommen über Ihren Arzt, ihre Krankenkasse, über das Gesundheitsamt oder auch über das sozialpädiatrische Zentrum am Evangelischen Krankenhaus zu uns, weil sie keine sportlichen Vorerfahrungen haben und aus gesundheitlichen Gründen langsam und ohne Leistungsdruck an Sport und Bewegung herangeführt werden müssen. Das gilt für unsere Kinderschwimmgruppen im Südbad und im Schulbad an der Rembergstraße ebenso wie für unsere Diabetikergruppe in der Sporthallle an der Waldorfschule.
Werden die Gäste der VBGS-Geburtstagsfeier auch etwas von Inklusion zu sehen bekommen?
Beyer:
Wir haben den Paralympics-Goldmedaillen-Gewinner im Tischtennis, Rainer Schmidt als Moderator gewinnen können. Außerdem wird eine artistisch ambitionierte Tanzgarde aus dem Rheinland, eine Rollstuhltanzgruppe und weitere inklusive Tanzgruppe auftreten. Ich freue mich aber auch auf das Interview mit einer syrischen Flüchtlingsfamilie, die berichten wird, wie ihre Kinderin unserem Verein schwimmen gelernt haben.
Warum haben Sie den VBGS vor 30 Jahren ins Leben gerufen und sind bis heute seine treibende Kraft?
Beyer:
Ich bin in der Jugendarbeit des Kolpingwerkes groß geworden, ehe ich durch meine Beinamputation zum Behindertensport kam, der damals in Mülheim noch unter dem Begriff Versehrtensport betrieben wurde. Dort habe ich schnell die Leitung einer Gruppe übernommen und bin dann als Jugendwart auch in den Vereinsvorstand gewählt worden. Doch bald kam es mit den älteren Vereinsmitgliedern, die noch aus der Generation der Kriegsversehrten stammten, darüber zum Bruch, wie intensiv die Jugendarbeit des Vereins betrieben werden sollte und ob sich der Verein auch für Menschen mit geistiger Behinderung öffnen sollte. Jugendarbeit und Inklusion waren damals die Herzensanliegen der VBGS-Gründer. Zu den ersten Aktionen des neuen Vereins gehörte eine integrative Ski-Freizeit im Allgäu, an der nicht nur behinderte und nicht-behinderte, sondern auch krebskranke Kinder und Jugendliche teilnahmen.
Wie hat sich die Vereinsarbeit in den vergangenen 30 Jahren verändert?
Beyer:
Leider haben die bürokratischen Auflagen und der zunehmende Papierkrieg die ehrenamtliche Arbeit nicht nur in unserem Verein erheblich erschwert. Und auch wenn wir über das Centrum für bürgerschaftliches Engagement, zu dessen Gründern ich gehöre, dankenswerterweise immer wieder freiwillige Helfer bekommen, hat die Bereitschaft, sich mittel- und langfristig im Vereinsvorstand zu engagieren, drastisch abgenommen. Das sehe ich ebenso mit Sorge wie die Tatsache, dass die die Generation Smartphone immer mehr Kinder und Jugendliche mit Bewegungs- und Kommunikationsdefiziten hervorbringt.

Programm des Festes

Am Samstag, 26. Oktober, beginnt um 19 Uhr die große Festveranstaltung in der Harbecke-Halle, Mintarder Straße.  Schimherrin ist die Staatssekretärin des Landes NRW für Sport und Ehrenamt, Andrea Milz.
Die Gäste erwartet ein abwechslungsreiches Abendprogramm. Moderator ist Kabarettist udn mehrfacher Paralympic-Sieger im Tischtennis, Rainer Schmidt. Auftreten werden unter anderem das Tanzkorps "Dürscheder Mellsäck", die inklusive Musikband "Studio 13" aus Dortmund, die Tanzgruppe "Flotte Socke" aus Essen, die "Cheerleader" aus Duisburg,, die "Feller Band" aus Mülheim, ein Musikzug aus Oberhausen, der RC Sturmvogel aus Mülheim, außerdem wird ein Rollstuhltanz gezeigt. Für das leibliche Wohl ist während der Veranstaltung auch gesorgt.

Mittwoch, 23. Oktober 2019

Schlag nach bei Willy Brandt

Vor 50 Jahren trat Willy Brandt, nachdem heute eine Mülheimer Schule benannt ist, sein Amt als erster sozialdemokratischer Bundeskanzler mit dem Versprechen an: „Wir wollen mehr Demokratie wagen!“ Von der damaligen Aufbruchstimmung sind heute nicht nur seine Mülheimer Genossen weit entfernt. Dennoch ist seine Aufgabenbeschreibung aus dem Jahr 1969 auch heute noch aktuell. Ob in der großen internationalen und nationalen oder in der kleinen lokalen Politik bleibt das unausweichliche und unersetzliche Wagnis der Demokratie eine Gemeinschaftsaufgabe, in der nicht das ICH, sondern das WIR darüber entscheidet, ob wir als Gesellschaft im Wandel vom Weg ab- oder durch Annäherung zum Ziel kommen, weil wir, wie Willy Brandt es vor 50 Jahren formuliert hat, nach innen wie nach außen ein Volk der guten Nachbarn sind, in dem nicht nur die Macht, sondern auch die Menschlichkeit vom Volke ausgeht und unser 1949 verkündetes Grundgesetz nicht nur auf dem Papier steht, sondern Wirklichkeit ist. Schon Willy Brandt, der erst im dritten Anlauf zum Bundeskanzler gewählt wurde, wusste, was heute viele nicht wahrhaben und ertragen wollen. Mehr Demokratie wagen ist kein glorreicher Sprint, sondern ein anstrengender Marathon, an dessen Ziel nicht immer eine Goldmedaille winkt. Aber auch die längste Reise und der längste Lauf beginnen immer mit dem ersten Schritt.

Dieser Text erschien am 22. Oktober in der NRZ

Dienstag, 22. Oktober 2019

Erinnerung an Else Lasker-Schüler

Mit einem literarisch-musikalischen Abend zum 150. Geburtstag der deutschen Lyrikerin Else Lasker-Schüler machte das Kulturgasthaus Fünte an der Gracht seinem Namen alle Ehre. Wolfgang Hausmann und Christa Böhner ließen Leben und Werk einer Dichterin Revue passieren, die über sich geschrieben und gesagt hat: "Ich habe Liebe in die Welt gebracht!" und: "Ich bin Jude, Gott sei Dank!"
Und damit wurde auch schon der Spannungsbogen eines leidenschaftlichen Lebens aufgezeigt, das kurz vor der Gründung des Deutschen Kaiserreiches begann, in der Zeit der Weimarer Republik mit der Verleihung des Kleist-Preises, einer Werk-Ausgabe und der Inszenierung Ihres Theaterstücks "Die Wupper" seine größte öffentliche Anerkennung fand und in der menschlich dunkelsten Zeit der NS-Herrschaft und des Zweiten Weltkriegs im Januar 1945 endete. Musikalisch wunderbar untermalt von sechs Veh-Harfenistinnen aus Mülheim und Essen, wurde den Zuhörern in der Heißener Fünfte eine starke Frau, Mutter und Dichterin lebendig, die nicht nur viel geschrieben, sondern auch gelebt, geliebt und gelitten hat. Der menschlich größte Verlust, den Else Lasker-Schüler nicht nur literarisch verarbeiten musste war der viele zu frühe Tod ihres TBC-kranken Sohnes Paul (1899-1927). Hausmann und Böhner stellten ihrem Publikum in der Fünte eine Lyrikerin vor, die ihre reiche Lebenserfahrung in eine geradezu musikalische Sprache kleiden konnte. Dazu passte die lyrische Musik der Veh-Harfenistinnen um Brigitte Riecke ganz wunderbar. So intonierte das Ensemble etwa das von Walther von der Vogelweide überlieferten Volkslied: "Die Gedanken sind frei" und die von Friedrich Schiller verfasste und von Ludwig van Beethoven vertonte "Ode an die Freude". Diesen Zusammenklang von Musik und Literatur zu hören, war ein Erlebnis.
Wer den bewegenden und bereichernden Else-Lasker-Schüler-Abend verpasst hat, bekommt am 22. Januar 2020 im Medienhaus am Synagogenplatz eine zweite Chance, Else Lasker-Schüler kennen zu lernen oder wiederzuentdecken. Außerdem sind Wolfgang Hausmann und Christa Böhner zurzeit mit dem Von-der-Heydt-Museum in Else-Lasker-Schülers Geburtsstadt Wuppertal in Verhandlungen über einen entsprechenden literarisch-musikalischen Abend im Rahmen einer dort gezeigten Ausstellung mit Zeichnungen der Dichterin, deren Leben in der Rückschau wie ein Fanal für Freiheit und Toleranz und gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus erscheint. Else Lasker- Schüler wurde gleich nach der Machtübernahme vom braunen Mob bedroht und musste in die Schweiz fliehen. Später fand sind in Palästina ihr Exil und auf dem Ölberg in Jerusalem ihre letzte Ruhestätte.
In der Heißener Fünte an der Gracht 209 geht es am 27. Oktober um 15.30 Uhr weiter. Dann steht in dem von Frank Bruns geleiteten Kulturzentrum ein Liedernachmittag mit Sängerin Gabi Beckenbach und dem Pianisten Sbiggi Warot auf dem Programm, an dem legendäre Chansons von Hildegard Knef Zarah Leander und Marlene Dietrich zu hören sein werden. Eintrittskarten können in der Fünte unter der Rufnummer: 0208-6969064 reserviert werden.

Dieser Text erschien am 19. Oktober 2019 im Lokalkompass der Mülheimer Woche

Sonntag, 20. Oktober 2019

Hilfe für die Helfer in der Notfallseelsorge

Menschen beizustehen, die plötzlich einen geliebten Menschen verloren haben, ist wohl eine der menschlich größten Herausforderungen. Dieser Herausforderung stellen sich in Mülheim und Essen nicht nur 20 hauptamtliche, sondern auch 30 ehrenamtliche Notfallseelsorger. Warum werden diese ehrenamtlichen Notfallseelsorger gebraucht und was treibt die Frauen und Männer an, die sich entsprechend ausbilden und einsetzen lassen?
"2018 sind wir zu 110 Notfällen gerufen worden. Aber Notfallseelsorge bedeutet eine 24-stündige Rufbereitschaft an sieben Tagen der Woche. Das könnten wir als hauptamtliche Pfarrer des evangelischen Kirchenkreises an der Ruhr gar nicht leisten. Wir sind also personell auf ehrenamtliche Notfallseelsorger angewiesen, die uns mit ihrer menschlichen und beruflichen Lebenserfahrung unterstützen", sagt Pfarrer Guido Möller, der die auch in der Krankenhausseelsorge aktive Notfallseelsorge leitet.
Die beiden Mülheimer Karin Neumann und Jürgen Deutschbein gehören zu den 16 neuen ehrenamtlichen Notfallseelsorgern, die jetzt nach einer 121-stündigen theoretischen und praktischen Ausbildung mit einem Gottesdienst in der Johanniskirche in ihr Amt eingeführt worden sind. Beide stehen als Familienmutter und Familienvater mitten im Leben. Beide empfinden ihr Leben als reich und gesegnet und möchten durch ihr Engagement "etwas zurückgeben." Beide werden in ihrem besonderen Schritt von ihren Kindern und Ehepartnern unterstützt. Und beide möchten schon jetzt die menschlichen Begegnungen und Selbsterfahrungen, die ihnen die gemeinsame Ausbildung vermittelt hat, nicht missen.
Jürgen Deutschbein, der hauptberuflich bei der Personalabteilung der Mülheimer Berufsfeuerwehr arbeitet, sagt vor seinem ersten Einsatz als ehrenamtlicher Notfallseelsorger: "Ich habe bei der im Januar 2019 begonnen Ausbildung interessante Leute mit einem tollen Potenzial kennen gelernt. Die gute und intensive Ausbildung hat meinen Blick auf mich selbst und auf meine Mitmenschen verändert. Ich kann besser zuhören und auch Stille aushalten. Ich gehe ohne Angst, aber mit Respekt an meine Aufgabe heran, in dem ich weiß: 'Ich kann das Geschehene nicht mehr ändern. Ich kann nur noch die vom Unglück betroffenen Menschen begleiten und damit auch die hauptamtlichen Einsatzkräfte von Feuerwehr und Polizei entlasten."
Seine Kollegin Karin Neumann, die hauptamtlich als Erzieherin in der Gemeinschaftsgrundschule am Sunderplatz arbeitet, beschreibt ihre Ausgangssituation vor dem Einstieg in ihr neues Ehrenamt so: "Ich gehe mit einem stabilen Grundgerüst an meine anspruchsvolle Aufgabe heran. Ich weiß, dass kein Einsatz dem anderen gleichen wird und man sich deshalb auch nicht perfekt darauf vorbereiten kann. Aber ich habe ein gutes Bauchgefühl und mein Notfallkoffer ist nach der Ausbildung gut gepackt. Ich weiß, was mir gut tut und meine seelischen Widerstandskräfte stärkt. Und ich weiß, dass ich auch nach dem Ende der Ausbildung durch regelmäßige Supervision und Fortbildung Rückhalt von unseren hauptamtlichen Kollegen bekomme."

Im vergangenen Jahr konnte die Heißener Schmuckdesignerin Jutta Tolzmann einer Frau helfen, die einen Nervenzusammenbruch erlitten hatte, nachdem sie eine Todesnachricht erhalten hatte. "Wir haben uns einfach hingesetzt. Ich habe ihr zugehört und wir haben miteinander gesprochen. Und nach einer halben Stunde hat sie mich umarmt und gesagt: 'Danke. Ich bin jetzt wieder stark genug ins Leben zurückzugehen und mich den Tatsachen zu stellen.'", berichtet die 59-Jährige. Als sie wenig später in der Zeitung las, dass die Notfallseelsorge ehrenamtliche Kollegen sucht, sagte sie sich: "Das passt in mein Leben. Das passt zu mir. Das mache ich jetzt!" Die Ausbildung hat sie in dem Gefühl bestärkt, dass sie die Offenheit, Gelassenheit und den Lebensmut mitbringt, den es braucht Menschen in existenziellen Lebenskrisen vorurteilsfrei beizustehen. Das wichtigste Rüstzeug für ihre jährlich 31 Sechs-Stunden-Bereitschaften als Notfallseelsorgerin sieht Jutta Tolzmann in ihrem christlichen Glauben, der ihr das Bewusstsein gibt, "dass wir Menschen nicht tiefer als in Gottes geöffnete Hand fallen können." Dabei weiß sie: "Wir können als Notfallseelsorger versuchen Menschen Mut zu machen und ihr Leid mit ihnen auszuhalten. Aber wir können sie zu nichts zwingen, was sie nicht selbst wollen."
Wer sich für eine Ausbildung als ehrenamtlicher Notfallseelsorger interessierte, sollte am 6. November um 18.30 Uhr bei einem Informationsabend der Notfallseelsorge in der Heißener Feuerwache an der Seilfahrt vorbeischauen. Weitere Auskünfte gibt Elke Lohmar-Bärz unter der Rufnummer: 0208-455-36349 oder per E-Mail an: lohmar-baerz@kirche-muelheim.de


Samstag, 19. Oktober 2019

Kleine und große Brötchen

Wirklich spannend womit sich Juristen höchstrichterlich beschäftigen. Jetzt waren die Sonntagsbrötchen dran. Ich dachte immer das sei eine Sache der Bäcker und nicht des Bundesgerichtshofes. Aber wir sind in Deutschland. Hier muss alles ganz genau geregelt und höchstrichterlich entschieden sein. Es geht doch nicht an, dass wir sonntags einfach zu der Zeit uns ein Brötchen gönnen, zu der wir Lust darauf haben. Das muss uns schon höchstrichterlich beschieden werden. Dass wir jetzt auch sonntags zu jeder Stunde das Recht auf knackige Brötchen haben und nicht auf trockenes Brot oder Stuten zurückgreifen müssen, ist aus Sicht der Bäcker und ihrer Kunden erfreulich. Doch entscheidend bleibt, wer wo und wie in unserem Land kleine Brötchen backen muss oder sich verdient oder unverdient das dickste Stück vom Kuchen abschneidet. Denn wenn die einen hierzulande immer reicher und die anderen, die in prekären Erwerbsverhältnissen stecken, immer ärmer werden, dann hilft auch das knackigste und bestens gebackene Sonntagsbrötchen nicht darüber hinweg, dass wir als Gesellschaft bald in die Röhre schauen und der Ofen aus ist und gesellschaftspolitisch so manches anbrennt, wenn zur Freiheit des Marktes nicht auch die Fairness kommt, jedem und jeder in unserem Land ein auskömmliches Stück vom großen Kuchen zu gönnen. 

Dieser Text erschien am 19. Oktober 2019 in der NRZ

Freitag, 18. Oktober 2019

Keine falsche Hast

Jetzt musste ich an Hermann van Veen und sein Lied: „Schnell weg da, weg da, weg. Mach' Platz, sonst gibt's noch Streit. Wir sind spät dran und haben keine Zeit“ denken. Am ampelfreien Fußgängerüberweg auf der Leineweberstraße wäre ich jetzt beinahe von einem eiligen Motorradfahrer über den Haufen gefahren worden. Der Motorradraser mit weißem Helm und weißer Maschine, ließ mich in Sachen Rücksichtnahme schwarzsehen. Gott sei dank konnte ich ihm noch rechtzeitig ausweichen, ehe er davonbrauste und mir dabei fast über die Zehenspitzen fuhr. Die rasante Eile brachte dem rasenden Motorradrowdy, der offensichtlich mehr PS als Einsicht unter der Haube hatte, keinen Zeitvorteil. Denn als ich ihm nachschaute, sah ich seine Bremsleuchten. Immerhin: Die nur einige 100 Meter entfernte rote Ampel der Kaiserplatz-Kreuzung stoppte seine Raserei. Das der Mann am Motorradlenker noch rote Ampeln wahrnimmt, lässt hoffen, dass er sich einen Hauch von Herz und Verstand bewahrt hat, was man bei manchen rasenden Staatenlenkern, die im internationalen Verkehr als weltpolitischer Geisterfahrer unterwegs sind, leider bezweifeln muss. Es reicht nicht, dass Gott dem, dem er ein Amt gibt, auch Verstand gibt. Verstand hilft nur, wenn er auch gebraucht wird. Und das braucht Zeit. Nur so kann im kleinen und großen Dienstverkehr die Einsicht reifen, dass 150-prozentige Vollgas-Typen über Kurz oder Lang gegen die Wand fahren und mit Null und nichts vor einem Scherbenhaufen stehen, den dann die aufräumen müssen, die sie unvorsichtig und zu schnell ans Steuer gelassen haben.

Dieser Text erschien am 18. Oktober 2019 in der NRZ

Donnerstag, 17. Oktober 2019

Von der Lederfabrik zum Wohnquartier

Der Zeitzeuge Kurt Ludwig Lindgens erinnert sich

„Es hieße keine Gefühle zu haben, wenn ich das Ende dieser Geschichte der letzten Mülheimer Gerberei emotional nicht berühren würde, wenn ich mit einem traurigen Auge auf den Schornstein und die alten Werksgebäude schaue, in denen Generationen von Mülheimern in unserer Firma und für unsere Familie gelernt, gearbeitet, und ihren Lebensunterhalt verdient haben. Aber ich sehe es auch mit einem lachenden Auge, dass Das jetzt veröffentlichte Ergebnis des Mülheimer Architektenwettbewerbs, dass mich vor stimmt Es ist wirklich schön zu sehen das mithilfe der Mülheimer Sparkasse und der Mülheimer Wohnungsbaugenossenschaft auf einer alten Industriebrache eines Tages Menschen wohnen Kinder spielen und die unmittelbare Nähe des Flusses genießen werden.“, sagt Kurt Ludwig Lindgens, während er auf das alte Gerberei-Gebäude der Lederfabrik seiner Familie schaut. Ein Teil der Fabrikgebäude, das Kesselhaus und der alte Schornstein stehen unter Denkmalschutz und werden deshalb auch als Teil der neuen Wohnraumbebauung auf dem ehemaligen Gelände der zuletzt von der amerikanischen Firma Seton übernommenen Lederfabrik Lindgens erhalten bleiben. „Und dort hinten vor den Bäumen und Büschen Richtung Ruhr“, erzählt Kurt Ludwig Lindgens beim Ortstermin, „befanden sich nicht nur unsere Brunnen mit ihren unwiderruflichen preußischen Wasser-Rechten aus dem 19. Jahrhundert. Hier stand auch unsere legendäre Lack-Küche, in der meine Urgroßmutter Anfang des 20. Jahrhunderts auf Basis eines“Geheim“-Rezeptes Farben für die Lack-Leder herstellte, die in großen Mengen nach Usbekistan exportiert wurden; da die moslemischen Religionswächter dort Ihren Gläubigen erlaubten, in den kalten Winter-Monaten, das Waschen Ihrer Füße vor Betreten der Moschee zu umgehen; denn die Stiefel aus Lackleder ließen sich perfekt reinigen.“

Für ihn ist es eine Ironie der Geschichte, „dass sich der jetzige Abriss unserer Produktions-Hallen zeitgleich zu einem Augenblick vollzieht, in dem auch die Tengelmann-Gebäude nicht mehr genutzt werden.“

So werden beide Grundstücke zeitgleich einer neuen Nutzung zugeführt werden, nach dem mein Urgroßvater Ludwig Lindgens und der Tengelmann-Gründer Wilhelm Schmitz-Scholl eng befreundet und auch wirtschaftlich durch den Gewürzhandel meines Urgroßvaters miteinander verbunden waren.“

Während er die Straßenseite wechselt, erzählt Lindgens, dass die Gerber am Kassenberg früher ihre Lederböcke über die Straße geschoben haben, wo heute der dichte Autoverkehr fließt.

Kurt Ludwig Lindgens, der ab 1994 als Geschäftsführer in der von Seton aus New Jersey übernommenen Lederfabrik Lindgens gearbeitet hat, blättert in einem alten Fotokalender, den ihm seine Mitarbeiter zum Jahresbeginn 1996 geschenkt haben. Erinnerungen werden wach. Er schaut zurück in die Wasserwerkstatt, in der die Lederhäute gereinigt wurde und in deren Modernisierung Seton, sehr zu seinem Leidwesen, nicht mehr investieren wollte, „weil es damals Mode geworden war, einzelne Produktionsstufen an externe Dienstleister zu vergeben und damit auszulagern.“ Er blättert um und sieht auf dem nächsten Monats-Bild zwei Mitarbeiter, die mit einer Spaltmaschine die Lederhäute von Haaren und Fleischresten befreien. „Die erste deutsche Spaltmaschine Deutschlands stand 1882 in unserer Gerberei.“, sagt Lindgens. Auf dem nächsten Kalenderblatt sieht er einen Lederstapler. Auf den hinter fast jeder Spaltmaschine stehenden Staplern wurden die im Durchschnitt fünf Meter großen Lederhäute zwischengelagert. Nächstes Blatt, nächstes Bild: Was für den Laien wie eine große Waschmaschine aussieht, erklärt Kurt Ludwig Lindgens als Gerberfass, in dem bis zu 100 Häute geschleudert und mit Chemikalien weich gemacht werden konnte. Danach ging es die Klammerei, in der Lederhäute auf einen hydraulischen Rahmen geklammert wurden, um die Lederhaut, deren Verkaufspreis nach Quadratmetern bezahlt wurde, maximal zu weiten und anschließend zum Trocknen in den Klammerofen zu schieben. Auf einem weiteren Kalenderblatt sieht Lindgens zwei seiner Mitarbeiterinnen, die auf einem großen Tisch die Ränder der Lederhaut gewissenhaft „frisierten“ und sie so beschnitten, dass sie von den Kunden glatt und reibungslos weiterverarbeitet werden konnte. Und ehe die Lederhaut das Werk verlassen konnte, bekam sie, wie Lindgens in seiner Rückschau auf einem weiteren Kalenderblatt sieht, von einer Stempelmaschine den Hinweis auf ihre Herkunft, das Markenzeichen Made by Lindgens, verpasst, „damit unsere Kunden bei Reklamationen sofort wussten, an wen sie sich wenden mussten,“ wie Kurt Ludwig Lindgens mit einem Augenzwinkern feststellt.



„Wir haben in der Spitze 450 bis 500 Leute beschäftigt. Und ich erinnere mich daran, dass wir einmal gleich mehrere Zugwaggons gechartert haben um mit 150 Belegschaftsmitgliedern das Mercedes-Sportwagen-Werk in Bremen zu besichtigen, für das wir Wagenteile mit unserem Leder bespannt haben. Und bei vielen Aufträgen waren wir auch schneller in Stuttgart bei Daimler Benz vor Ort als unser süddeutscher Konkurrent, der seinen Firmensitz nur eine halbe Autostunde vom Mercedes-Stammwerk entfernt hatte. Deshalb wurden wir von unseren Auftraggebern oft gefragt: „Wie macht ihr das nur“, erzählt Kurt-Ludwig Lindgens nicht ganz ohne Stolz und unterstreicht mit einer vielsagenden Handbewegung: „Wir waren einfach flotter und flexibler als die Konkurrenz und hatten die Zug- und Flugpläne immer gleich zur Hand.“ Vom Internet war damals noch keine Rede. Lindgens kann sich noch an Zeiten erinnern, „in denen man den Breilöffel nur aus dem Fenster halten musste, um gutes Geld zu verdienen und Arbeitsplätze in der Lederindustrie zu sichern.“



Warum verdiente man über Jahrzehnte des späten 19. und fast des gesamten 20. Jahrhunderts mit der Lederherstellung so viel Geld, wie man es heute nur noch mit der Herstellung von Computern und Software kann? Kurt-Ludwig Lingens beantwortet die Frage so: „Die Drehmaschinen August Thyssens kamen ohne Lederriemen ebenso wenig aus wie die Autoindustrie und die Eisenbahn ohne Lederpolster. Und auch die Schuh- und Taschenindustrie haben uns über viele Jahre gut verdienen lassen. Wir profitierten davon, dass die Lederindustrie über viele Jahrzehnte eine elementare Bedeutung für verschiedene Wirtschaftsbereiche hatte!“ Doch schon in den 1960er Jahren sah Kurt-Ludwig Lindgens seinen Vater immer öfter mit Sorgenfalten. „Erst kam die Konkurrenz, die den Mülleimer Leder Fabriken das Leben schwer machte aus Italien Punkt und später kam sie aus Asien. „Die Lederindustrie ist zu einem Wanderzirkus geworden“, sagt Lindgens mit dem Blick auf dem Wettlauf um die preiswerteste Produktionsstätte. „Autohersteller, die heute in Asien produzieren lässt, erwarten auch von ihrem Lederlieferanten, dass sie ihre Produktionsstätte gleich nebenan bauen. Hinzu kommt, dass die meisten Autohersteller heute nur noch Kunstleder in ihren Fahrzeugen verarbeiten“, schildert er die Entwicklung. Für ihn steht fest: „Eine Renaissance unserer Leder-Industrie im größeren Umfang wird es nicht geben; so lange die traditionellen Kunden ihre lohnintensiven Produktionen in Länder mit billigeren Löhnen verlagert lassen.“ 
Hintergrund:

Die Lederfabrik Lindgens Lederwaren Gmbh wurde 1861 von Kurt Ludwig Lindgens‘ Urgroßvater Ludwig Lindgens gegründete und beschäftigte in der Spitze 450 bis 500 Mitarbeiter. 1873 gehörte die Gerberei zu den 16 Mülheimer Gerbereien, die sich mit ihren Produkten bei der Wiener Weltausstellung präsentierten. Neben Lindgens entstanden in den Jahren 1861 bis 1918 auch weitere namenhafte Mülheimer Lederfabriken wie Abel, Feldmann, Hammann, und Möhlenbeck, Rühl und Funcke. In den 1920er Jahren beschäftigten die damals 52 Mülheimer Lederfabriken insgesamt 2100 Arbeiter. Damit war Mülheim die Lederhauptstadt Deutschlands.

In der ehemaligen Gerberei Abel an der Düsseldorfer Straße 260 hat seit 2003 das Mülheimer Leder- und Gerbermuseum seinen Sitz, das mittwochs bis sonntags zwischen 14 und 18 Uhr geöffnet ist. Auf dem ehemaligen 42.000 Quadratmeter großen Werksgelände von Lindgens möchte die von der Mülheimer Sparkasse und der Mülheimer Wohnungsbaugenossenschaft getragene Gesellschaft SMW ein Quartier mit Wohnraum, Gastronomie und Gewerbe errichten. Neben zahlreichen Grün- und Freiflächen sind drei- bis fünfgeschossige Gebäude geplant.




Mittwoch, 16. Oktober 2019

Was bringt das Bundesteilhabegesetz?

Weil am 1. Januar 2020 die dritte Stufe des Bundesteilhabegesetzes in Kraft tritt, haben Cordula Driessen und ihre Mitarbeitenden im Sozialamt derzeit viel zu tun. Denn sie müssen rund 500 personenbezogene Datensätze in die Datenbank des Sozialamtes einpflegen. Weitere Datensätze könnten noch dazu kommen. Es sind Daten von Menschen, die aufgrund einer Behinderung in einer beschützenden Einrichtung wie der Theodor-Fliedner-Stiftung, im Haus der Lebenshilfe, im Josefshaus der Caritas, im Haus Regenbogen am Worringer Reitweg, im Seppl-Kuschka-Haus und im Fritz-Driskes-Haus der Arbeiterwohlfahrt leben. , laut Sozialamt, derzeit insgesamt rund 440 Menschen.
Die Daten kommen vom Landschaftsverband Rheinland, der mithilfe der Umlage seiner Mitgliedsstädte unter anderem die stationäre Pflege von Menschen mit Behinderung finanziert. Es sind zum größten Teil Menschen, die ihre Rechtsgeschäfte nicht selbstständig ausführen können und deshalb durch gesetzliche Betreuer erledigen lassen müssen.
Gesetzliche Vertreter sind in der Regel Angehörige von Menschen mit Behinderung. Es können aber auch gesetzliche Betreuer sein, die die Rechtsgeschäfte der betroffenen Personen mit Handicap hauptamtlich ausführen und dafür vom Amtsgericht bestellt werden. Alte Eltern, die sich vom bürokratischen Aufwand der gesetzlichen Betreuung ihrer behinderten Kinder entlasten möchten, können diese Aufgabe an einen jüngeren Familienangehörigen oder auf einen hauptamtlichen Betreuer übertragen. Weniger zeitaufwendig als die Bestellung eines neuen gesetzlichen Betreuers ist es, sich die Betreuungsaufgaben mit einem beim Amtsgericht einzutragenden stellvertretenden gesetzlichen Betreuer, der zum Beispiel aus der eigenen Familie kommen kann, zu teilen.
Die Größenordnung von etwa 500 personenbezogenen Datensätzen, die derzeit beim Mülheimer Sozialamt verarbeitet werden müssen, zeigt, dass es auch gesetzlich betreute Menschen mit einer Behinderung gibt, die in einer beschützenden Einrichtung außerhalb Mülheims leben und arbeiten. Das gilt insbesondere für ältere Menschen mit Behinderung, die zu einem Zeitpunkt ihr betreutes Berufs- und Wohnleben begannen, als es in Mülheim die entsprechenden Einrichtungen bis in die 1980er und 1990er Jahre hinein, noch nicht gab.
„Bei der Eingliederungshilfe, also den Kosten, die entstehen, weil Menschen mit Behinderung in beschützenden Werkstätten und Wohngruppen betreut und angeleitet werden müssen und weil sie auch in ihrer Freizeit auf Alltagsassistenz angewiesen sind, ändert sich nichts. Diese Kosten werden weiterhin vom Landschaftsverband Rheinland (LVR) getragen. Doch infolge der 2008 in Kraft getretenen UN-Behindertenrechtskonvention und dem daraus resultierenden vom Bundestag 2016 beschlossenen Bundesteilhabegesetz (BTHG), müssen Menschen mit Behinderung und ihre gesetzlichen Betreuer, wie alle anderen Menschen, die nicht in der Lage sind ihren Lebensunterhalt aus ihrem eigenen Einkommen zu decken, jetzt bei den Sozialämtern einen Antrag auf Grundsicherung stellen“, erklärt Cordula Driessen als zuständige Abteilungsleiterin des Mülheimer Sozialamtes die rechtliche Ausgangslage.
Konkret bedeutet das für Menschen mit Behinderung und ihre gesetzlichen Betreuer, dass sie jetzt kurzfristig ein eigenes Girokonto einrichten müssen, das bisher automatisch von den Trägern der stationären Einrichtungen geführt wurde. Außerdem erhalten die Betroffenen vom Landschaftsverband Rheinland die Unterlagen für einen Kurzantrag auf Grundsicherung, den sie an die zuständige Abteilung 50-4 des Mülheimer Sozialamtes  an der Ruhrstraße 1 senden müssen.
„Diesem Antrag sollten die Kopien des Personalausweises und des Schwerbehindertenausweises, der Bestallungsurkunde des gesetzlichen Betreuers  sowie ein Beleg über die neue Bankverbindung des Eigengeldkontos und ein Einkommens- und Vermögensnachweis beiliegen“, unterstreicht Cordula Driessen.
Ausdrücklich weist die zuständige Abteilungsleiterin des Sozialamtes darauf hin, dass alle betreuten Personen, die aufgrund ihres in der Regel sehr geringen Einkommens schon seit Jahrzehnten Sozialhilfe beziehen, die bisher direkt an den Landschaftsverband überwiesen wurde, mit keinem Vermögenseinsatz rechnen müssen, wenn ihr Vermögen die Grenze von 5000 Euro nicht überschreitet. „Hier reicht uns der Kurzantrag auf Grundsicherung“, betont Driessen.
Im Rahmen der gesetzlichen Neuregelung können die Betreuten und ihre Betreuer auch Wohngeld beantragen. Der entsprechende Antrag muss an das Mülheimer Wohngeldamt gerichtet werden. Wohnt aber eine betreute Person aus Mülheim in einer beschützenden Einrichtung außerhalb Mülheims, muss der Antrag bei den dortigen Wohngeldämtern eingereicht werden. Denn anders als bei der Grundsicherung, ist beim Wohngeld nicht die Behörde des ursprünglichen, sondern des aktuellen Wohnortes zuständig.
Hintergrund:
Bei der Antragstellung werden betreute Personen und ihre gesetzlichen Betreuer von den Mitarbeitern der Einrichtungen unterstützt, mit denen im Zuge der gesetzlichen Neuregelung jetzt auch Mietverträge abgeschlossen werden. Diese Mietverträge und auch Bescheinigungen über die Teilnahme an einem Werkstattessen, dessen Kosten im Falle eines Anspruchs auf Grundsicherung wie alle Unterkunfts- und Verpflegungskosten der stationären Wohn- und Arbeitsstätten vom Sozialamt bezahlt werden, können, wenn sie den Betroffenen jetzt noch nicht vorliegen, problemlos an die zuständige Sozialamtsabteilung 50-4 nachgereicht werden. Ab sofort werden mit Anke Castor (0208/455-5065), Susanne Ruhnke (0208-455-5082), Kyra Sontacki (0208/455-5087) und Teamleiterin Marion Perkuhn (0208-455-5037) im Mülheimer Sozialamt an der Ruhrstraße 1 eigens dafür erfahrene Mitarbeitende der Stadt Menschen mit Behinderung und ihre gesetzlichen Betreuer zu existenzsicherende Leistungen beraten. Außerdem wird ein Mitarbeiter des Landschaftsverbandes Rheinland (LVR) im Sozialamt an der Ruhrstraße 1 als Teilhabeberater ansässig sein, um Betreute und gesetzliche Betreuer in allen Frage zu beraten, die sich jenseits der Grundsicherung, auf Fragen der gesellschaftlichen Teilhabe durch Alltagsassistenzleistungen beziehen.



Dienstag, 15. Oktober 2019

Theater wie zu Hause

Viele haben zu Hause Theater. Doch bei den wenigsten ist das so amüsant wie bei Martina und Armin Rudziok. Die Marketingfachfrau und der Finanzbeamte haben sich als kreative Kulturschaffende in ihrem Haus am Heelweg in Winkhausen einen Traum erfüllt. Seit 2005 ist das Erdgeschoss ihres Hauses , unweit der Aktien- und der Nordstraße, ein Zimmertheater und ein Ausstellungsraum.

Jetzt bringen die Rudzioks zusammen mit Martin Fiß und Marah Palami das ihr neues Stück „Ruhe im Hotel“ auf die kleine Bühne in ihrem Wohnzimmer-Theater, in dem 25 Zuschauer auf jetzt neuen besser gepolsterten Stühlen einen gemütlichen Sitzplatz finden.

Auch das neue Stück, es ist die 11. Produktion, des Art-Telier Rudziok, ist eine Komödie, mit der Martina Rudziok Geschichten rund um das Thema Urlaub aufgeschrieben hat. Abgesehen von der Komödie „Tod eines Finanzbeamten“, das aus der Feder von Armin Rudziok stammt, hat Martina Rudziok in allen bisherigen Produktionen als Autorin und Regisseurindie Federführung. .

„Ursprünglich wollten wir im Erdgeschoss unseres Hauses nur einen kleinen Ausstellungsraum für meine Bilder einrichten, aber dann habe ich einfach noch eine kleine Bühne gebaut und meiner Frau gesagt: ‚Die können wir gebrauchen, wenn du hier vielleicht mal Theater spielen möchtest“, erinnert sich Armin Rudziok an die Anfänge des Art-Teliers

„Das war der Moment, in dem ich meinen Mann sofort wieder geheiratet hätte“, sagt die studierte Theaterwissenschaftlerin Martina Rudziok, die schon auf mehreren professionellen und semiprofessionellen Bühnen gestanden hat und deshalb in der freien Theaterszene auch gut vernetzt ist. Aus dieser freien Theaterszene rekrutiert sie auch ihre Schauspieler.

Doch für ihre neue Produktion hat sie mithilfe der digitalen und gedruckten Medien einen Aufruf gestartet und mit Marah Palamidas, Tobias Schieferstein  und Martin Fiß drei ambitionierte Theateramateure als Mitspieler gewonnen, die das Zimmertheater in Winkhausen auch als Zuschauer kennen. Wie andere Theaterfreunde, die im ArTelier Rudziok schon vor der Bühne gesessen oder auf der Bühne gestanden haben, schätzen Palamidas und Fiß die familiäre Atmosphäre und die unmittelbare Nähe und Resonanz des Publikums. „Das geht fast allen Schauspielern so, aber wir hatten auch schon einige Profi-Schauspieler, die mit dieser extremen Nähe nicht zurechtgekommen sind“, berichtet Martina Rudziok.

Die Rudzioks finanzieren ihren kleinen, aber feinen Musentempel allein mit Hilfe der Eintrittsgelder und mit ihrem selbst verdienten Geld. „Wenn sich ein Kulturförderer finden würde, der uns finanziell unterstützen möchte, würden wir nicht gleich Nein sagen. Aber wir haben bisher auf alle möglichen Fördergelder verzichtet, um in unserer künstlerischen Kreativität unabhängig zu sein und genau das zu machen und auf die Bühne zu bringen, was wir für gut und richtig halten“, sagt Armin Rudziok.

Sicher ist, dass nach Stücken wie: „Die Ehe, eine Geschichte voller Missverständnisse“, „Und dann kam Mutti“, „Wurst & Wellness“, „Timmi zieht um“ oder „Frauenfreundschaften“ auch das neue Stück „Ruhe im Hotel“ sein Publikum mit Wortwitz und Situationskomik zum Lachen bringen wird.

Dass dieses Erfolgsrezept des winkhauser Zimmer-Theaters gut ankommt hat Martina Rudziok schon oft an den Rückmeldungen aus dem Publikum erfahren. „Besonders berührt und gerührt war ich, als eines Tages eine Dame mit einem Blumenstrauß vor der Tür stand, um uns einfach mal danke zu sagen ‚für die vielen schönen Theaterabende, die wir in Ihrem Hause erleben durften‘“, berichtet Martina Rudziok.

Info

Die Premiere der neuen Theaterkomödie „Ruhe im Hotel“ am 19. Oktober ist bereits ausverkauft. Aber es stehen schon weitere Aufführungen am 3. November um 15:00 Uhr, am 10. November um 15:00 Uhr und am 14. Dezember um 19:30 Uhr auf dem Programm. Der Eintritt ins Theatervergnügen kostet 14 €. Aufgrund des begrenzten Platzangebotes , müssen sich Theaterfreunde vorab bei den Rudzioks unter der Rufnummer 0208/444 209 48 anmelden Weitere Informationen finden Interessierte unter der Internetadresse: www.artelier-rudziok.de. Das ArTelier Rudziok findet sich am Heelweg 10 und ist unter anderem mit den Linien 104 und 131 (Haltestelle Nordstraße) erreichbar.




Ihre Wiege stand in Mülheim

  Der Mülheimer Heimatforscher Dirk von Eicken liebt Geschichte(n), die nicht jeder kennt. Eine dieser Geschichten hat er für die  Internets...