Sonntag, 30. September 2018

Babyboomer brauchen mehr Selbstbewusstsein

Die Journalistin Lisa Ortgies stellte im Medienforum des Bistums ihr neues Buch vor und traf dabei den Nerv ihres Publikums

Witzig, ernst und geistreich. So gewann Frau-TV-Moderatorin Lisa Ortgies im Medienforum des Bistums die Herzen ihres mehrheitlich weiblichen Publikums, dem sie ihr neues Buch „Ich möchte gerne in Würde altern, aber doch nicht jetzt“ vorstellte, ohne dass der Abend zur oberflächlichen Personality- und Verkaufsshow geraten wäre. Im Gegenteil. Mit dem Schalk im Nacken und dem ernsten Blick für das Wesentliche im Leben, hatte die 52-jährige Journalistin nicht nur die Lacher, sondern auch die nachdenklichen Nicker auf ihrer Seite.

Das Alter der Journalistin und zweifachen Mutter, die auch schon das Kulturmagazin des NDRs moderiert und die Redaktion der Frauenzeitschrift Emma geleitet hat, darf man nennen. Denn es ist Kern des Themas, das Ortgies ohne Wehklagen, aber mit sanfter Ironie in den Fokus nimmt. Von ihrer Generation der Babyboomer, die heute zwischen 50 und 60 Jahre alt ist, wünscht sie sich weniger Jugendwahn und Selbstoptimierungszwang. „Wir sollten öfter mal Stopp sagen und uns mehr in die Politik einmischen, die dabei ist uns auf einen Kostenfaktor künftiger Rentner-Massen zu reduzieren, obwohl wir doch zwischen Kindererziehung, Berufsleben, und Elternpflege die Leistungsträger der Gesellschaft sind und ihr viel geben.“

Dass die Aufmerksamkeit der Medienmacher, Werbestrategen und Arbeitgeber jenseits der 49 aufhört und 40- bis 60-jährige Eltern meinen, mit ihrem Lebensstil mit ihren Teenager-Kindern oder Enkeln in Konkurrenz treten zu müssen, findet Ortgies ebenso irrsinnig wie den oft abschätzigen Blick den politische und wirtschaftliche Meinungsführer „auf eine vermeintlich defizitäre und sich deshalb immer verändern müssende und niemals bei sich ankommen dürfende Generation in der Mitte des Lebens.“

Dass man als Mensch der Generation 50 plus erwachsener und älter werden darf und muss, dass man sich mehr Zeit und Freiraum für sich und seine vielleicht noch verborgenen Talente und Sehnsüchte geben darf und sollte, ist Lisa Ortgies nach einem Herzinfarkt ein Herzensanliegen. Mehr Selbstbewusstsein und In-Sich-Ruhen, statt ein Immer weiter im Hamster-Rat des Perfektionierungswahns. Das ist ihre Botschaft.

Und die kam auch bei den vielen Frauen und wenigen Männern im besten Alter an, die am 19. September den Weg in das von Vera Steinkamp geleitete und einfühlsam moderierte Medienforum gefunden hatten.

„Ich kann Sie sehr gut verstehen und ich gebe Ihnen Recht!“ sagte Ortgies einer Frau, die ihre erfolgreiche Familien- und Erziehungsarbeit als „Hausfrau und Mutter“ schilderte. Diese anstrengende und verantwortungsvolle Arbeit, die ihren Kindern und der Gesellschaft zu gute komme, werde von dieser aber nicht gewürdigt.

Wäre die gläubige und aus der niedersächsischen Diaspora stammende katholische Christin, Lisa Ortgis, die als Teenager die katholische und die autonome Jugendarbeit kennen lernte, nicht Journalistin, sondern Bundeskanzlerin – eine interessante Vorstellung – würde sie als erstes das Ehegatten-Splitting und das neue Unterhaltsrecht abschaffen, weil es viele nicht berufstätige, dafür aber in der Familien- und Erziehungsarbeit umso tätigere Frauen, nach einer Ehescheidung in die Armut stoße und ihnen damit die „A-Karte“ gebe. 

Lisa Ortgies Buch: „Ich möchte gerne in Würde altern, aber doch nicht jetzt – Erwachsen werden für Profis“, ist im Verlag Kiepenheuer und Witsch erschienen und für 14,99 Euro im Buchhandel erhältlich.   

Dieser Text erschien am 20. September 2018 im Neuen Ruhrwort

Samstag, 29. September 2018

Der Stadtverordnete Hasan Tuncer ist jetzt ein Aktiv-Botschafter für Demokratie und Toleranz


Ratsherr Hasan Tuncer
Foto: Stadt Mülheim an der Ruhr
Der in der Türkei geborene Hasan Tuncer vertritt seit der letzten Kommunalwahl 2014 das Bündnis für Bildung im Stadtrat und arbeitet dort im Hauptausschuss, in den Ausschüssen für Bildung, Arbeit, Gesundheit, Soziales und in der Vergabekommission mit. Jetzt will der Vorsitzende des an der Hingbergstraße 91-97 ansässigen Alevitischen Kulturzentrums etwas für die zivilgesellschaftliche Bildung in unserer Stadt tun.
In Köln hat er sich von Sozial- und Islamwissenschaftler im Rahmen von fünf Tagesseminaren der alevitischen Gemeinde in Deutschland zum AKTIV-Botschafter und Multiplikator in Sachen Aufklärung über die Ideologie des Salafismus ausbilden lassen. Seine Schulung, zu denen die  für die Radikalisierung, die mit der Inter- und Transkulturalität verbundenen Herausforderungen, das Rollenverständnis der Geschlechter, der Abbau von Vorurteilen, die Auswirkungen von Diskriminierungen und die pädagogische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen gehört, ist Teil des Bundesprogramms „AKTIV! – Aktiv für Demokratie und Toleranz in der Migrationsgesellschaft“. Finanziert wird das Multiplikatoren-Projekt Aktiv für Demokratie und Toleranz in der Migrationsgesellschaft vom Bundesfamilienministerium und von der Behörde für Innere Sicherheit (ISF). Das Programm will die demokratische Kultur und das friedliche Miteinander der Menschen in Deutschland stärken.

„Wir müssen verhindern, dass der islamistisch motivierte Salafismus, dessen Gefährder-Zahl das Bundesamt für Verfassungsschutz auf deutschlandweit 500 bis 600 schätzt mit seinen vermeintlich einfachen Antworten auf alle Lebensfrage vor allem frustrierte und perspektivlose Jugendliche einfängt und mit seinen Feindbildern unsere Demokratie untergräbt“, erklärt Tuncer seine Motivation, sich allen interessierten Gruppen, Verbänden, Gemeinden und Zentren, die mit Jugendlichen arbeiten, als Referent und Coach anzubieten.“

Zudem gehört Tuncer als Alevit zu einer im 13. Jahrhundert in der heutigen Türkei entstandenen Glaubensgemeinschaft, die sich, dem Christentum vergleichbar, zum Humanismus und zur Nächstenliebe bekennt. In Deutschland zählt die Alevitische Gemeinde derzeit rund 275.000 Mitglieder. Einige Aleviten begreifen sich, so wie Tuncer, als Angehörige einer eigenständigen Religionsgemeinschaft. Andere sehen sich als Teil einer islamischen Konfession.

Nach Angaben des Bundesamtes für Verfassungsschutz hat sich die Zahl der in Deutschland aktiven Salafisten in denen vergangenen Jahren auf derzeit 11.000 verdoppelt. Dass mit Sven Lau und Pierre Vogel auch Mitglieder aus der deutschen Ursprungsgesellschaft heute zu den prominenten Salafisten gehören, die ihre Hass-Botschaften massenhaft und erfolgreich via Internet verbreiten, weist in Tuncers Augen daraufhin, dass der antidemokratische und antiliberale Islamismus und Salafismus überall dort an Boden gewinnt, wo es den Akteuren der demokratischen Zivilgesellschaft nicht gelingt, labile Jugendliche aufzufangen, um ihnen Halt, Orientierung und vor allem eine Zukunftsperspektive für ihr Leben zu geben. Hasan Tuncer ist per E-Mail an: tuncerhasan@live.de erreichbar.
Dieser Text erschien am 29. September 2018 im Lokalkompass

Freitag, 28. September 2018

Ein Hindernislauf vom feinsten

"Das mache ich doch jeden Tag vor unserer Haustür", kommentierte Mutter einen Beitrag, den sie jetzt in der NRZ las. Thema: Ein Parcours-Training für Rollatorfahrer. Tatsächlich gleichen Mutters Rollator-Runden durch die holprige Innenstadt einem anspruchsvollen Parcour-Training, das sich keine Experte besser hätte ausdenken können. Sie muss Stufen und Bürgersteigkanten überwinden, auf losen Bodenfließen standhaft bleiben, geistesgegenwärtig Geisterfahrern auf 2 und 4 Rädern ausweichen oder täglich wechselnde Unebenheiten, Schlaglöcher und Geschäftsauslagen geschickt umfahren, ohne aus der Kurve zu fliegen. Wer sagt es denn? Wer es in unserer Innenstadt als Rollatorahrer schafft unfallfrei unterwegs zu sein, der schafft es überall. Warum machen wir da aus der Not nicht eine Tugend und erklären die Fußgängerzone einfach zu Deutschlands größtem Parcour für professionelles Rollatourfahrtraining. Was der Hockenheimring oder die Straßen von Monaco für Rennfahrer auf zwei und vier Rädern sind, können morgen schon die Schloß- und die Leineweberstraße für Rollatorfahrer aus aller Herren Länder werden. An der Rennstrecke postieren wir einfach zielgruppenorientierte Angebote. Seniorenteller hier. Hilfsmittel dort. Einen Stadthafen, wie Monaco, haben wir ja schon. Und ein paar knackige Cheerleader, die die Teilnehmer an der Rennstrecke anfeuern und den Sieger oder die Siegerin des Iron-Man oder Iron-Woman-Rennens in Mülheims City fotogen bei der Siegerehrung küssen, dürften ja wohl auch noch aufzutreiben sein.

Dieser Text erschien am 28. September 2018 in der NRZ

Donnerstag, 27. September 2018

Angela Huestegge: Die Neue am Gymnasium Broich

Angela Huestegge vor ihrer neuen Schule
Als neue Schulleiterin des Gymnasiums Broich ist Angela Huestegge nach mehr als 40 Jahren in Berlin in ihre Mülheimer Heimat zurückgekehrt. „da ich immer Freunde und Familie in Mülheim hatte, habe ich den Kontakt zur Stadt nie verloren“, sagt die Pädagogin, die 1977 ihr Abitur am Karl-Ziegler-Gymnasium gemacht hat.
Dort lernte sie auch ihren heutigen Mann Karl Peter kennen, mit dem sie nach dem Abitur zum Studium nach Berlin ging. „Ich habe dort zunächst Elektrotechnik studiert, dann aber schnell gemerkt, dass ich lieber mit Kindern und Jugendlichen arbeiten würde“, erinnert sich die dreifache Mutter und zweifache Großmutter.

Sie wechselte ins Lehramtsstudium und studierte neben Geografie und Physik auch Ethik und Informatik. Diese Fächer unterrichtete sie zuletzt an einem Gymnasium in Berlin, an dem sie auch als naturwissenschaftliche Fachbereichsleiterin und als stellvertretende Schulleiterin Leitungsaufgaben übernahm. „In Berlin ist der Anteil der Zuwanderer noch erheblich höher, als in Mülheim“, zieht Huestegge einen Vergleich zwischen ihrer alten und ihrer neuen Wirkungsstätte. Im landschaftlichen Charme einer Flusslandschaft, geprägt von der Spree oder eben jetzt der Ruhr, und gepaart mit einem herzlichen und offenen Menschenschlag, der gerade heraus sagt, was er denkt, sieht sie Gemeinsamkeiten.

Huestegge, die als ehemalige Haupt- und Realschülerin an die Durchlässigkeit unseres Bildungssystems glaubt, übernimmt die Leitung des Gymnasiums Broich in einer Zeit, in der umfangreiche Bau- und Sanierungsmaßnahmen an der 1966 errichteten Schule anstehen. Als Schulleiterin will sie dafür sorgen, „dass unsere Schule nicht im eigenen Saft schmort, sondern sich als Teil der Stadtgesellschaft begreift und als solcher auch in diese hineinschaut und hineinwirkt.“ Huestegge ist es wichtig, dass die derzeit 907 Schüler des Gymnasiums Broich nicht nur eine fundierte Bildung und ein starkes Selbstbewusstsein auf ihren Lebensweg mitbekommen, sondern auch das Bewusstsein mitnehmen, „dass man sich nicht einfach zurücklehnen und alles hinnehmen darf, sondern das man auch als Einzelner an unserer demokratischen Gesellschaft mitarbeiten darf und mitarbeiten muss und dass dies am Ende auch Freude machen kann.“

Dieser Text erschien am 26. September 2018 im Lokalkompass & in der Mülheimer Woche

Mittwoch, 26. September 2018

Vorsicht vor Zahlen

Wie gefällt es dir im Kindergarten?“ will der große Junge vom kleinen Jungen wissen. „Ich gehe doch nicht mehr in den Kindergarten. Ich gehe schon in die 2. Klasse“, lässt der kleine Knirps den großen Knirps wissen. So ändern sich die Zeiten. Je jünger man ist, desto älter möchte man sein. Und je älter man ist, desto mehr freut man sich, wenn man für jünger gehalten  wird. Als Mann sollte man sich einfach auf keine Altersschätzungen einlassen.

Und das gilt nicht nur bei Kindern, die noch aussehen, als gingen sie in den Kindergarten, obwohl sie schon die Schulbank drücken ebenso, wie für reife Damen, die einen lächelnd, wie verschlagen fragen: „Für wie alt halten Sie mich.“ Da kann man als Mann nur schief liegen. Schätzt man die Dame zu jung, hält sie einen für einen Schleimbeutel und Süßholzraspler. Überschätzt man ihr Alter aber auch nur um ein Jahr, dann kommt man auf ihre schwarze Liste und muss vielleicht Jahre daran arbeiten, um ihre Gunst wieder zu erlangen. Dabei ist irren doch menschlich und damit auch männlich. Oder kennen sie ein öffentliches Bauprojekt, das pünktlich und im geplanten Kostenrahmen fertiggestellt worden wäre. Ausnahmen bestätigen die Regel.

Dieser Text erschien am 24. September 2018 in der NRZ 

Sonntag, 23. September 2018

Wohin mit den Emotionen, wenn die eigene Kirche nicht mehr Kirche ist?

Markus Potthoff (links) und Wolfgang Reuter

„Ich dachte schon, dass wird hier heute eine Randalebude“, gab Jens Oboth am Ende des Donnertagabends zu. Stattdessen bedankte sich der Dozent der katholischen Akademie bei den Tagungsteilnehmern im Kardinal-Hengsbach-Saal der Wolfsburg „für ihre sachlichen und inspirierenden Wortbeiträge. Tatsächlich hätte die Abendveranstaltung mit rund 120 interessierten Basis-Katholiken und den Podiumsgästen Markus Potthoff, im Generalvikariat Leiter der Abteilung für Pastorale Arbeit und Bildung, und dem Düsseldorfer Pastoralpsychologen und Psychotherapeuten Prof. Dr. Wolfgang Reuter auch eine hochemotionale Auseinandersetzung über die Zukunft der Pfarrgemeinden im Bistum Essen werden können.
Denn die Zahlen, die Potthoff zum Thema Pfarreientwicklungsprozess auf den Tisch legte, hatten das Zeug zum Aufreger. Seit dem Jahr 2000 sind in Deutschland 500 Kirchen profaniert worden. Im Zuge der ersten Strukturreform des Bistums Essen wurden aus 259 nur noch 43 Pfarreien. Und nur ein Drittel der heute noch im Ruhrbistum existierenden 270 Kirchen wird über das Jahr 2030 hinaus erhalten bleiben können.
Potthoff gab zu, „dass ich manchmal schlucken muss, wenn ich den Tonfall der Briefe und Gespräche lese und höre, mit denen sich der Bischof im Rahmen des Pfarreientwicklungsprozesses und seiner bisher 36 von ihm freigegebenen Pfarrgemeindevoten auseinandersetzen muss.“ Dabei zeigte der Mann aus der Bistumsverwaltung auch ein gewisses Verständnis, für die maßlose und manchmal auch nur destruktive Emotionalität, die ihm als Mitentscheider von manchem Gemeindemitglied entgegenschlägt, etwa in der Tonart: „Wenn ihr unsere Kirche zumacht, trete ich aus der Kirche aus!“
Der Theologe Potthoff räumte ein: „Auch meine Gefühle sind in dieser extremen Situation, in der wir vor einer epochalen Herausforderung stehen, ambivalent. Auch ich spüre Trauer angesichts von Kirchenschließungen und Profanierungen. Aber ich kann auch nicht die Augen vor der Tatsache verschließen, dass das Ruhrbistum seit seiner Gründung 1958 etwa die Hälfte seiner Kirchenmitglieder verloren hat und welche finanziellen Konsequenzen diese Entwicklung mit sich bringt! Denn allein ein neues Kirchendach kann schnell mehrere 10.000 Euro verschlingen.“
Der Seelsorger und Psychotherapeut Reuter machte den Katholiken im Ruhrgebiet Mut, „miteinander zu reden und auch destruktive Emotionen und Differenzen auszuhalten und zuzulassen.“ Er ist davon überzeugt, dass das Miteinander Reden und Zuhören, verbunden mit einer guten pastoralpsychologischen Schulung der Priester und Seelsorger „langfristig dazu führen wird, dass auch destruktive Emotionen in konstruktive Ideen für einen Neuanfang umgewandelt werden können und so aus der Krise eine Chance für die Kirche werden kann.“ Als Mutmacher-Beispiele führte Reuter Gemeindegründungen in der ostdeutschen Diaspora an, die sich nicht in kirchlichen, sondern in ganz profanen Räumen vollzögen. Dass auch ein Kirchenneubau in Deutschland heutzutage nicht ausgeschlossen sein muss, zeigen die 49 neuen Kirchen, die, laut Potthoff, seit dem Jahr 2000 zwischen Rhein und Oder neu errichtet und eingeweiht worden sind.
„Wir haben und als Pfarrgemeinde ganz neu erfunden“, bestätigte ein Katholik aus Lüdenscheid, dessen Pfarrgemeinde die Zahl ihrer Kirchen von 5 auf 1 reduziert hat. Und sein Gemeinde-Nachbar erinnerte daran, „dass wir uns als Christen mit unserem Auferstehungsglauben nicht an Kirchen klammern sollten.“
Allerdings gab es auch kritische Stimmen, die mahnten, Kirchen nicht vor der Zeit abzureißen und einen gemeindeinternen Konflikt zwischen Gewinnern und Verlierern der Umstrukturierung zu schüren und damit am Ende auch noch jene Menschen zu verlieren, die der Kirche noch die Treue hielten.
Reuter sagte dazu: „Es ist schmerzhaft. Aber wir müssen als katholische Christen lernen, uns angesichts der Umstrukturierungen und der Aufgabe von Kirchengebäuden nicht als Gewinner und Verlierer zu definieren. Denn wir machen schon mit unserer Geburt und der Entbindung von der Mutter als Menschen die Erfahrung, dass es für uns in unserem Leben kein Recht darauf gibt, an einem Ort zu bleiben.“ In diesem Zusammenhang machten zwei Essener Katholiken deutlich, „dass der Streit um die Aufgabe von Kirchen eigentlich nur ein Symptom die Angst vor einer weiteren Erosion der Kirche und davor ist, dass die Kirche von ihren eigenen Entscheidungsträgern abgerissen wird.“ Da gab sich auch Markus Potthoff als Vertreter der Bistumsleitung demütig, wenn er feststellte: „Ich kann Ihnen auch nicht mit letzter Sicherheit sagen, wie die Entwicklung weiter geht und ob wir heute die richtigen Entscheidungen für die Zukunft treffen. Aber ich glaube, dass wir als Kirche unsere Geschichte noch lange nicht zu Ende geschrieben haben.“
Dieser Text erschien am 15. September 2918 im Neuen Ruhrwort

Samstag, 22. September 2018

Bundesverdienstmedaille für Manfred von Schwartzenberg: Bundespräsident zeichnet Dümptener Pfarrer aus



Manfred von Schwartzenberh in der Barbarakirche
Mülheim. Der katholische Ehrenstadtdechant und Pfarrer von St. Barbara, Manfred von Schwartzenberg, hat vom Bundespräsidenten die Verdienstmedaille der Bundesrepublik Deutschland verliehen bekommen. Die Auszeichnung würdigt von Schwartzenbergs außergewöhnliches Engagement in Kirche und Gesellschaft. Seine Arbeit am 1998 uraufgeführten Nikolaus-Groß-Musical wird in der Begründung ebenso genannt, wie sein Einsatz in der lokalen Flüchtlingshilfe, seine Initiative zur Gemeinde-Partnerschaft zwischen St. Barbara und der St.-Josef-Gemeinde im kroatischen Razine-Sibenik oder seine Mit-Initiative zur Stiftung und Aufführung der Mülheimer Festouvertüre im Mülheimer Stadt-Jubiläums-Jahr 2008. Der ehemalige Stadt-Katholikenrats-Vorsitzende Wolfgang Feldmann, der Gemeinderatsvorsitzende von St. Barbara Ulrich Schweda und der Sohn des 1945 ermordeten Widerstandskämpfers, Nikolaus Groß, Diakon Bernhard Groß hatten sich seit 2015 um eine entsprechende Auszeichnung des katholischen Priester bemüht. „Ich freue mich darüber, dass damit vor allem die Menschen gewürdigt werden, die durch ihre Mitarbeit all das ermöglicht haben, was ich anstoßen und zusammen mit anderen organisieren durfte“, kommentiert der 74-jährige Manfred von Schwartzenberg die Verleihung der 1951 vom ersten Bundespräsidenten, Theodor Heuss, eingeführte Bundesverdienstmedaille. Der katholische Priester steht seit 1992 als Pfarrer an der Spitze der Gemeinde St. Barbara. 

Freitag, 21. September 2018

Katholische Rebellion: Der Essener Katholikentag 1968


Kirche ist immer die Kirche ihrer Zeit. So war es auch 1968, als Essen und sein Bischof Franz Hengsbach Gastgeber des 82. Katholikentages waren. Damals rebellierten die Studenten gegen den „Muff unter den Talaren“ und gegen den Krieg in Vietnam. Mit dem katholischen US-Senator Robert Kennedy und dem schwarzen US-Bürgerrechtler Martin Luther King fielen 1968 zwei politische Hoffnungsträger Mordanschlägen zum Opfer. Der deutsche Studentenführer Rudi Dutschke überlebte ein Attentat schwer verletzt. Und mit dem sowjetischen Einmarsch in der CSSR starben 1968 auch die politischen Hoffnungen, die sich mit dem Prager Frühling und dem Reformer Alfred Dubcek verbanden.
Das katholische Deutschland stand 1968 noch unter dem Eindruck des Zweiten Vatikanischen Konzils und der von Papst Paul VI. 1968 verkündeten Enzyklika Humane Vitae. Das päpstliche Verbot der Antibabypille, das ihm Volksmund den Namen „Pillen-Paul“ einbrachte, enttäuschte viele katholische Laien. Sie sahen den 1962 von Papst Johannes XXIII. eingeleiteten konziliaren Aufbruch der katholischen Kirche in die Moderne ins Stocken geraten.
Vor diesem Hintergrund trafen sich vom 4. Bis zum 8. September 1968 mehrere 10.000 Katholiken, 36 Jahre nach dem ersten Essener Katholikentag, wieder in der Ruhr-Metropole.
Aus den Leitartikeln, mit denen die Essener Bistumszeitung Ruhrwort dieses Treffen der leidenschaftlich und manchmal auch unerbittlich geführten Diskussionen begleitete, lässt sich sehr gut herauslesen, wie zwiespältig der Ruhrbischof und Konzilsteilnehmer Franz Hengsbach den Katholikentag in seiner zehn Jahre zuvor gegründeten Diözese betrachtete.
Einerseits zitierte das Ruhrwort mit Blick auf den Katholikentag den Konzilspapst Johannes XXIII. mit seiner Warnung „vor den Untergangspropheten“, die jede Annährung der Kirche an die moderne Welt ablehnten und die Vergangenheit der Kirche undifferenziert „als gut und sauber“ verklärten. Andererseits verwies Hengsbach als Herausgeber des Ruhrwortes auf eine Rede, die Papst Paul VI. vor Bischöfen in Bogota gehalten hatte. In den Zitaten aus der Papstrede wurden die Vorbehalte gegenüber der revolutionären lateinamerikanischen Befreiungstheologie deutlich. Paul VI. billigte in seiner Rede den katholischen Theologen Diskussion und Meinungsvielfalt zu, forderte sie aber auch auf, „eifrige Schüler des kirchlichen Lehramtes“ und des „kirchlichen Charismas“ zu bleiben und nicht dem Irrglauben zu verfallen, „dass heute jeder lehren und glauben kann, was er will.“
Ruhrbischof Hengsbach, damals 58 Jahre alt, appellierte in seiner Wochenzeitung an die Teilnehmer des Essener Katholikentages, „einander zuzuhören und sich die eigenen Meinungen nicht um die Ohren zu hauen.“ Mit Blick auf die damalige linke außerparlamentarische Opposition wies Hengsbach darauf hin, dass es in der katholischen Kirche nur eine konstruktive und von Sachverstand getragene innerkirchliche Opposition gegeben dürfe. In der Nachbetrachtung des Essener Katholikentages ließ Hengsbach im Ruhrwort „die Breite unseres Gespräches, das zeigte, das der Geist Gottes um uns war“, loben. Gleichzeitig wurden die Kontroversen des Katholikentages mit einem „Sturm“ und einem „Unwetter“ verglichen, „dass die Hoffnung auf neuen Sonnenschein“ hervorgebracht habe. „Wer andere hinterfragt, muss auch sich selbst hinterfragen“, mahnte Hengsbach angesichts der Kritik, der sich das kirchliche Lehramt, das kirchliche Erscheinungsbild und die gesellschaftspolitische Positionierung der katholischen Amtskirche, in Essen tausendfach ausgesetzt sah. Allerdings verbuchte Hengsbach den Katholikentag auch als Erfolg, wenn er im abschließenden Leitartikel des Ruhrwortes feststellen ließ: „Der Katholikentag von Essen hat gezeigt, dass unsere Kirche, die oft als erstarrt oder sogar als tot bezeichnet wird, tatsächlich jung und lebendig ist.“
Dass die Diskussionen und Initiativen, etwa zur deutschen Bischofssynode, die von Essen ausgingen, nicht nur in der katholischen Kirche ein breites Echo fand, zeigten die Kommentare und Sonderseiten, die die außerkirchliche Presse dem 82. Deutschen Katholikentag widmete. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung kritisierte die scharfen Debatten des Essener Katholikentages als „einen Hexenkessel der virulenten Besserwisserei“. Die Hamburger Wochenzeitung Die Zeit beschrieb den Kirchentag an der Ruhr als „Treffen protestantischer Katholiken“. Das ebenfalls in Hamburg herausgegebene Nachrichtenmagazin Der Spiegel stellte mit Blick auf die Kontroversen des Essener Katholikentages fest: „Nicht nur die Linken begehrten gegen den weltfremden Papst auf!“ Plakativ zitierte das Blatt Aussagen, wie: „Wir reden nicht über die Pille. Wir nehmen sie!“
Die in Dortmund herausgegebenen Ruhrnachrichten stellten fest: „Die Zeit der schönen und erbaulichen Kirchentage ist vorbei, auch wenn hier und dort noch Zierrate vergangener Umwelten zu sehen waren. Der Kirchentag zeigte, dass heute keine nationale Kirchenversammlung mehr zu denken ist, auf der die Laien nicht alles kritisch hinterfragen und auf den Prüfstand stellen. Der Kirchentag zeigte aber auch, dass die Kirche nicht tot ist, sondern, dass sie an allen Orten tagt und ihr Samen aufgegangen ist.“
Für den Kommentator der in Essen herausgegebenen Neuen Ruhrzeitung war der 82. Katholikentag ein Sieg: „der radikalen Frömmigkeit“ über „die fromme Heerschau“ früher Katholikentreffen. Dabei lobte der Kommentator der NRZ ausdrücklich den katholischen Mut zur Diskussion und zur Meinungsvielfalt. Denn so habe der Essener Katholikentag das Vorurteil widerlegt, „dass die katholische Kirche ein monolithischer Block“ sei. Damit habe der Katholikentag die Weichen dafür gestellt, dass die katholische Kirche auch „in der Welt von morgen und übermorgen ihren Platz“ haben werde, weil ihre „geistig aktiven Mitglieder keinen Umsturz der heiligen Glaubensweisheiten, sondern eine neue Gestalt ihrer Kirche und mehr Mitbestimmung erreichen wollen.“ Thomas Emons
INFO: Viel beachtet wurde die Abschlussrede des Essener Katholikentages, in der der Essener Psychiater Professor Dr. Max Engelmeier am 8. September 1968 vor 100.000 Zuhörern in der Gruga feststellte, dass die fortdauernde konfessionelle Spaltung der Christen: „ein Skandal“ sei und das die christlichen Kirchen einer „Nüchterung der Situation, einer Verbesserung unserer Glaubwürdigkeit und Handlungsfähigkeit und einer vorurteilsfreien Zusammenarbeit bedürfen, wo es um ihren Erhalt oder um ihre Wiederbelebung geht.“ Große Beachtung fand auch der Jesuitenpater, Priester und Publizist Mario von Galli mit seiner Rede, die er beim Essener Katholikentag vor 20.000 Zuhörern auf dem Burgplatz hielt und in der er sagte:
„Der öffentliche Zusammenprall der Meinungen hat gezeigt, dass Christen auf vielen Wegen das gleiche suchen. Auftretende Spannungen sollten zum Wachstum der brüderlichen Gesinnung führen. Das kann aber nur gelingen, wenn häufiger, freimütiger und freundschaftlicher miteinander sprechen, als bisher.“

Dieser Text erschien am 8. September 2018 im Neuen Ruhrwort

Wild West vor der Haustür

Früher sah ich gerne Westernfilme, in denen John Wayne als Marshall die bösen Jungs zur Strecke brachte. Heute habe ich als Innenstadtbewohner das Gefühl, dass der Wilde Westen vor der Haustür beginnt. Die bösen Jungs kommen in der Beton-Prärie nicht mehr als Reiter, sondern als rasende Radfahrer daher.

Gestern wäre ich um Haaresbreite um meine grundgesetzlich garantierte körperliche Unversehrtheit gebracht worden, weil zwei halbstarke und halbgescheite Radrowdys nur ihre freie Fahrt, aber nicht die Bewegungsfreiheit ihrer Mitbürger schätzen, die ohne akute Lebensgefahr in ihrer Innenstadt unterwegs sein möchten. Erst hätte mich beinahe ein Radfahrer, der offensichtlich für die nächste Tour de France trainierte, am Baustellenzaun an der Leineweberstraße, erwischt. Und dann kam mir bei tief stehender Herbstsonne ein freihändig rasender Radcowboy auf der Schloßstraße entgegen. Der Erhalt meiner Gesundheit war eine Frage von Millimetern. 

Leider kamen die Marshalls der Polizei, nicht so pünktlich wie ihre Kollege John Wayne, um die bösen Jungs aus ihrem Sattel zu holen. Denn auch wenn uns Alltag manchmal filmreif ist, können wir uns in der Wirklichkeit keines Happy Ends sicher sein.  

Dieser Text erschien am 22. September 2018 in der NRZ

Donnerstag, 20. September 2018

Ein Zeitsprung am Kohlenkamp ider: "Es war noch nie so schön, in Mülheim einzukaufen!"

Hanns Holthaus lässt uns mit seinem Foto, das in der 1968 in der November-Ausgabe des Illustrierten Stadtspiegels erschien auf den Kohlenkamp zwischen Schloß- und Leineweberstraße schauen. Das Bild diente damals der Illustration eines Beitrages, den der Journalist Franz Rolf Krapp über die "neue Einkaufsstadt Mülheim" geschrieben hat. Damals machte sich Mülheim auf, in seiner Stadtmitte eine autofreie Fußgängerzone, samt neuer Beleuchtung, neuer Blumenkübel und Blumenbeete und einer Tiefgarage einzurichten.

Es sei kaum vorstellbar, dass die Fußgänger, "eine ganze Straße von einem Schaufenster zum anderen" für sich hätten, meinte Krapp. Der mittelständische Einzelhandel Mülheims, so prognostizierte er damals, brauche die Konkurrenz mit den Nachbarstädten nicht zu scheuen. "Ein wahres Wort. Kaufe vor Ort!" empfahl er seinen Lesern und kam zu dem fast überschwänglichen Ergebnis: "Noch nie hat es so viel Freude gemacht, in der Mülheimer Innenstadt einzukaufen. Den Mülheimer einen Einkauf in der Innenstadt zu empfehlen hieße: Wasser in die Ruhr zu gießen!"

Tatsächlich kannten die Einzelhändler in der Mülheimer Innenstadt des Jahres 1968 weder große Einkaufszentren mit kostenfreien Parkplätzen, noch leerstehende Ladenlokale oder die virtuelle und zugleich reale Konkurrenz eines Internethandels. "Auch mit dem Auto kann man fast vor die Ladentheke fahren. Denn neben der geplanten Unterflurgarage, die am Rathausmarkt bereits im Bau ist, gibt es in der Innenstadt auch genug Parkuhren", stellte der Innenstadt vor 50 Jahren fest. Das Stadtcafé Sander und der Damen- und Herren-Wäsche-Anbieter Body & Beach, als Nachfolger von Herta Oeler hat die wirtschaftlichen und sozialen Stürme der letzten fünf Jahrzehnte am Kohlenkamp überstanden. Der Zigarrenladen Wolsdorff ist inzwischen von der Ecke Schloßstraße/Kohlenkamp ins Forum gezogen. Händler, wie der Geschirr- und Besteck-Anbieter WMF, der Uhrmacher und Augenoptiker Hemsing, Radio Neumann, das Haushaltswarengeschäft Kocks und Herstein (an der Leineweberstraße) oder die Modehäuser Lehnhoff und Zickenheiner, in denen man 1968 am Kohlenkamp einkaufen konnte, sind für die Innenstadt Vergangenheit. Der Schloßtreff, zwei neue Modeanbieter, ein Friseur und die örtliche Verbraucherzentrale (an der Leineweberstraße/Ecke Kohlenkamp sorgen heute dafür, dass sich die Ladenleerstände zumindest in diesem Teilbereich der Stadtmitte in überschaubaren Grenzen halten. Und auch heute gilt angesichts vieler engagierter Einzelhändler in der Innenstadt Franz Rolf Krapps Aufforderung: "Ein wahres Wort. Kaufe vor Ort!"  

Dieser Text erschien am 17. September 2018 in der NRZ

Mittwoch, 19. September 2018

Vorbildlicher Vierbeiner

Eine Frau sitzt in einem Straßencafé an der Schloßstraße und lässt sich ihren Kaffee munden. Neben ihr sitzt auf dem gut gepolsterten Sitzmöbel des Cafés kerzengerade ein weißer Pudel.
Der Pudel ist mindestens genauso gut frisiert, wie sein Frauchen. In unserer Stadt gibt es nämlich nicht nur Friseure für Zweibeiner, sondern auch für Vierbeiner.

Mich hätte es nicht verwundert, wenn dem Pudel der Café-Haus-Gängerin die Fell-Haare zu Berge gestanden hätten. Denn während Frauchen ihren Kaffee schlürfte, gab es für ihren Vierbeiner noch nicht mal eine Schale Wasser.

So hundsgemein können auch nur Menschen sein. Friedrich der Große wusste, was er sagte, als er meinte: „Seit ich die Menschen kenne, liebe ich die Hunde!“

Wahrscheinlich ist es beim weißen Pudel aber so, dass er auf dem Café-Haus-Polster auch deshalb ohne jedes Gejaule vornehme Abstinenz üben konnte, weil er sein Frauchen besser kennt, als der vorbeieilende Zweibeiner und deshalb genau weiß, dass seine Zeit noch kommt. Denn dort, wo das Straßencafé ist, ist auch der Metzger und mit ihm die nächste Wurst nicht weit. Der kluge Hund denkt weiter und der kluge Mensch sollte es ihm gleichtun.

Dieser Text erschien am 19. September 2018 in der NRZ

Dienstag, 18. September 2018

Wie gewonnen, so zerronnen

Gestern hatte ich Glück. Dachte ich. Denn ich wurde nach dem Ende einer Veranstaltung in der Katholischen Akademie in Speldorf von einer netten Kollegin im Auto mit in die Stadtmitte genommen.

Toll. Wir hatten noch eine schöne Unterhaltung und ich war deutlich eher zu Hause, als wenn ich mit dem Bus oder der Bahn gefahren wäre.

Doch ich hatte mich zu früh über meinen vermeintlichen Zeitgewinn gefreut. Denn kaum war ich zu Hause und hatte meine Kaffeemaschine angeworfen, da erreichte mich auch schon ein Telefonanruf aus der Katholischen Akademie: „Sie haben hier ihre Lesebrille vergessen. Wir hinterlegen sie für Sie an unserer Rezeption. Bitte, holen Sie sie zeitnah wieder ab!“

Wenn ich schon mal meine, etwas gewonnen zu haben, und sei es auch nur Zeit, dann ist es auch schon wieder zerronnen. Was man nicht im Kopf hat, muss man wohl in den Beinen haben. Einmal Prinzenhöhe und zurück.

Beim nächsten Mal lasse ich auch die schnellste und netteste Mitfahrgelegenheit lieber fahren und packe nach dem Veranstaltungsende langsam, aber sicher meine Utensilien zusammen. Denn wer sich Zeit nimmt, hat sie auch.

Dieser Text erschien am 7. September 2018 in der NRZ

Montag, 17. September 2018

Einfach mal anders herum gedacht

In Mülheim geht der Abo-Frust um. Die Rede ist nicht von sinkenden Abo-Zahlen der Zeitungen. Auch auf Bus und Bahn sind immer weniger Mülheimer abonniert. 

Das finde ich schade. Ich wünsche mir ein Bürgerticket für alle. Jeder Bürger sollte das Recht haben, eine Zeitung seiner Wahl zu lesen und in seiner Region mit Bus und Bahn unterwegs zu sein. Viel zu teuer? Illusionär? Von wegen. Politische Entscheider in Rathäusern, Staatskanzleien und Kanzleramt müssten nur mal den Mut haben, die Bürger aus ihrer Bequemlichkeitsfalle zu locken und ihnen die Wahrheit über die Sackgasse vermitteln, in die wir als politik-, bus- und bahn-frustrierte Bürger hineinsteuern.

Ich habe einen Traum. Ein Bürgerticket für Busse, Bahnen und Zeitungen, würde unsere Demokratie wieder in Fahrt und die politischen Rattenfänger aufs Abstellgleis bringen. Bürger, die gerne mit pünktlichen und preiswerten Bussen und Bahnen fahren könnten, könnten ihr Auto immer öfter stehen lassen und so die Straßen und ihre abgas- und lärmgeschädigten Anwohner ebenso entlasten, wie die Staatskassen, die dann weniger Bau,- Umwelt- und Gesundheitskosten bezahlen müssten. Das sollte uns den Preis für ein Bürgerticket wert sein.

Dieser Text erschien am 18. September 2018 in der NRZ

Es gibt sie noch, die Solidarität

Manchmal hat man das Gefühl, dass sich die Zeit gegen einen verschworen hat, weil sie einem immer schneller davon läuft. Eben fühlte man sich noch auf der Höhe der Zeit und schon kommt man zu spät und wird vom Leben bestraft. Doch manchmal wird man vom Leben belohnt, zum Beispiel  vom Fahrgast einer Bahn, der mit dem Fuß solange die Schiebetür blockiert, bis der späte und eilige Zeitgenosse die letzten Meter bis zum Einstieg geschafft hat. Das nenne ich Solidarität! Danke, Herr Nachbar, dass Sie mit einer halben Minute ihrer Lebenszeit dafür gesorgt haben, dass ich im Tageslauf den Anschluss behielt. Gemeinsam kommt man eben doch besser und schneller ins Ziel.

So lange es noch solch freundliche Mitmenschen gibt, braucht man nicht in Kulturpessimismus verfallen und mit Blick auf die Zukunft schwarz zu sehen. Die nächste Gelegenheit, mich zu revanchieren, kommt sich auch für mich schon bald. Und dann werde ich an Sie, lieber Herr Nachbar, denken und Ihnen oder einem unserer Kollegen den Weg frei machen, damit auch Sie, Er oder Sie rechtzeitig dort hin kommt, wo Er oder Sie erwartet und gebraucht werden und wir so nirgendwo in der Sackgasse landen.

Dieser Text erschien am 15. September 2018 in der NRZ

Freitag, 14. September 2018

Jung und gar nicht unpolitisch

Gestern diskutierten junge und politisch aktive Mülheimer im Gymnasium Broich mit Schülern, die nur wenig jünger sind als sie selbst, über die Frage: „Warum soll ich mich als Jugendlicher oder junger Erwachsener politisch engagieren?“ Die Diskussion war herzerfrischend und gerade für Zuhörer interessant, die sich bestenfalls zur reifen Jugend zählen können.

Denn sie zeigte allen Klageliedern über den Werteverfall in unserer materialistischen Gesellschaft und den vermeintlich unmittelbar bevorstehenden Untergang des christlichen Abendlandes zum Trotz, dass junge Leute von heute sehr wohl wissen, was politisch angesagt ist. 

Denn das diskutierte Themenspektrum reichte vom Umweltschutz und dem Ausbau der digitalen Infrastruktur über die Bekämpfung von Armut und Rechtsextremismus bis hin zur  Starthilfe für die Berufsausbildung. Auch die gemeinsame und sinnvolle Freizeitgestaltung wurde in der jungen politischen Umschau nicht vergessen. Schließlich leben wir ja nicht nur, um zu arbeiten. Dies in unserer dem Effektivitätswahn huldigenden Leistungsgesellschaft nicht außer Acht zu lassen, war nur eine Lektion aus der nicht nur jungen und politischen, sondern auch klugen Runde.

Dieser Text erschien am 13. September 2018 in der NRZ

Donnerstag, 13. September 2018

Ohne Jugend ist kein Staat zu machen

Unter der politisch aktiven Jugend Mülheims ist eines über alle Parteigrenzen hinweg politischer Konsens: „Wir brauchen in allen Schulen der Stadt einen Wlan-Zugang zum schnellen Internet.“ Das war schon mal ein guter Grund, den der Vorsitzende des Rings der politischen Jugend, Marcel Helmchen, (20) von der Jungen Union, die Vorsitzende des 18-köpfigen Jugendstadtrates, Klara Aus der Fünten (18), die Juso-Chefin, Laura Libera (24) und Franziska Ristok von der Grünen Jugend ihren 120 Zuhörern in der Broicher Schulaula nennen konnten, als es um die Frage ging: „Was bringt es mir als Jugendlicher, mich politisch zu engagieren.

„Wenn ihr keinen Bock auf Parteien habt, könnt ihr euch auch in Verbänden, Vereinen, Bürgerinitiativen und anderen Nicht-Regierungs-Organisationen engagieren“, ließ Moderator Fabian Jaskolla (21) die Zehntklässler des Gymnasiums Broich wissen. Der Student, der selbst sein Abitur an ihrer Schule gemacht hat, kam über die katholische Jugendarbeit zu den Grünen. „Was habt ihr denn schon für Jugendliche erreichen können?“ wollte ein Schüler wissen.

„Wir bereiten gerade ein Rockkonzert vor. Außerdem planen wir ein Treffen mit Schülervertretern, um von ihnen zu erfahren, wo sie der Schuh drückt. Und wir arbeiten in den Ausschüssen des Stadtrates mit und bringen dort die Sichtweise der Jugendlichen ein“, berichtet die Vorsitzende des Jugendrates.

„Wir haben zum Beispiel schon eine Disco und ein Demokratie-Seminar für Jugendliche organisiert“, erzählt der Vorsitzende des Rings der politischen Jugend. Die Jura-Studentin Laura Libera und ihre Jungsozialisten in der SPD machen sich, wie sie erklärt, bei ihrer Mutterpartei für die Errichtung eines Wohnheims für Auszubildende und für die Einführung eines dem Studententicket vergleichbaren Azubi-Tickets für Bus und Bahn stark. „Das wird aber noch länger dauern, bis wir das durchsetzen können. Denn dabei geht es auch um Geld“, weiß Libera.

„Sicher wäre es auch toll, wenn in Mülheim am Freitagabend mal mehr los wäre und Jugendliche nicht in eine andere Stadt fahren müssten, um zu feiern“, sind sich Klara Aus der Fünten und Franziska Ristok einig. Und Marcel Helmchen fände es wegweisend, wenn sich nicht nur seine Mutterpartei dem Vorschlag der Jungen Union anschließen könnte, in Mülheim eine Recyclingstation für Plastikmüll einzurichten.

Für Franziska Ristock ist es wichtig, „dass wir unsere Ideen als Jugendliche einbringen, damit sie in die politischen Entscheidungen und Programme der Parteien einfließen können..“
„Dass so viele Menschen in Armut leben müssen und Rechtsextreme wieder auf die Straße gehen“, beunruhigt nicht nur zwei Zehntklässler aus dem Auditorium.

„Das gefällt mir auch nicht. Und deshalb engagierte ich mich auch in der Partei, deren Programm mir am ehesten zusagt. Denn in so einer Welt will ich nicht leben. Die Demokratie sagt uns: ‘Entscheide dich oder ich verlasse dich!’“,  ermuntert Libera ihre nur wenige Jahre jüngeren Zuhörer dazu, ihrem Beispiel zu folgen.

„Ich bin besser informiert und habe viele interessante Menschen mit unterschiedlichen Meinungen und Lebenserfahrungen kennen gelernt“, beschreibt der junge Christdemokrat und Politik-Student Marcel Helmchen den Mehrwert seines politischen Engagements. Ähnliches hat Jugendstadträtin Klara Aus der Fünften erfahren: „Ich bin sehr positiv auf mein Engagement angesprochen worden. Außerdem habe ich gelernt, frei vor Leuten zu sprechen, Themen zu recherchieren und Veranstaltungen zu planen“, sagt sie.

Dieser Text erschien am 13. September 2018 in der NRZ

Mittwoch, 12. September 2018

Die Springmäuse ließen den Funken überspringen

Wie schnell können 90 Spielminuten vergehen, wenn die Akteure die hohe Kunst der Improvisation beherrschen. Die Rede ist nicht von Jogis Jungs, sondern von den Bonner Springmäusen Vera Passý, Paul Hombach, Ben Hartwig und Norbert Frieling, die am Freitagabend im Ringlokschuppen 370 Kleinkunst Fans zum Lachen brachten.

Wenn Lachen wirklich gesund ist, dann dürfte dieser Abend des gehobenen Blödsinns so manche Pille und so manchen Arztbesuch erspart haben. Stellen Sie sich vor, Sie werden zu einer Geburtstagsparty eingeladen und ihr Gastgeber käme auf die Idee: „Einige von uns spielen  und singen kleine Sketche und Lieder, in denen Stichworte vorkommen, die ihnen die zuschauenden Gästen zurufen.“

Sind Sie  musisch und kreativ veranlagt, werden Sie sagen: „Das kann ich. Das macht Spaß.“ Doch spätestens, wenn Ihnen die ersten Zuschauer Worte, wie Darmspiegelung oder Farblichttherapie zurufen, dürfte Ihnen der Spaß vergehen.
Ganz anders bei den Springmäusen, die bei ihrem Programm „Juke Box“ nicht nur diese skurrilen Begriffe, sondern auch so seltsame Schöpfungen, wie „Hamsterferien“ oder den Ruhrgebiets-Klassiker „Glück auf, der Steiger kommt“ in eine urkomische Ad-hoc-Show verwandelten, bei der kein Auge trocken bleiben konnte.
„Je verrückter die Stichworte aus dem Publikum, desto besser für uns, weil das unsere Phantasie herausfordert“, versicherte Schauspielerin Vera Passý, die sich als hilfsbreite Nachbarin und Tierfreundin in den Ferien um den Hamster ihrer Nachbarn, gespielt vom Diplom-Biologen Ben Hartwig, verführen lässt.

Man muss es gesehen haben, um die Situationskomik zu begreifen. Auch die vom Ex-Lehrer Paul Hombach am Klavier genre-übergreifend intonierten Variationen der Bergbau-Hymne: „Glück auf, der Steiger kommt“, klingen so unfassbar und urkomisch, dass man beim Lachen seinen Ohren nicht traut.

Dabei scheuten die Springmäuse, in Person von Norbert Frieling, nicht davor zurück, Zuschauer, wie Bianca aus Düsseldorf, auf die Bühne zu bitten, um sie ungeniert, aber liebevoll über ihre Lebens- und Liebesgeschichten zu befragen, die sie anschließend Broadway-reif als etwa 30-minütiges Musical mit Herz, Schmerz und noch mehr Witz auf die Bühne im Ringlokschuppen brachten. Eine Wiedersehen macht auf jeden Fall Freude.

Dieser Text erschien am 10. September 2018 in NRZ & WAZ 

Dienstag, 11. September 2018

Der ÖPNV ist kein Wunschkonzert

Wann kommt denn unsere Straßenbahn“, fragt das kleine Mädchen seine Mutter. „Sie kommt gleich!“, bekommt sie zur Antwort und erwidert spontan: „Ich will aber, dass unsere Bahn jetzt kommt!“ Die Erwachsenen an der Haltestelle müssen lachen. Sie haben den selben Wunsch, würden ihn aber nie so direkt äußern. Denn sie haben schon eine etwas längere Erfahrung mit den Bussen und Bahnen des Öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV). Sie wissen: Der ÖPNV hat seine ganz eigene Dynamik. Und so ist das Erstaunen auch nicht wirklich groß, als die angekündigte Bahn, die eigentlich „sofort“ kommen soll, plötzlich von der elektronischen Fahrplananzeige verschwindet.

Ein ernüchterndes Seufzen und Kopfschütteln geht durch die Reihen der Wartenden. Das bedeutet wohl, dass die Bahn ausfällt.

Während die großen Fahrgäste zum Teil ihr Handy zücken, um ihrer Zielperson ihre nahverkehrstechnisch bedingte Verspätung anzukündigen, zieht der kleine Fahrgast seine Mutter zur Rechenschaft: „Du hast aber gesagt, dass unsere Straßenbahn gleich kommt!“ Die Mutter lässt ihre Tochter entnervt wissen: „Ich weiß. Aber bei uns kommt die Bahn eben, wann sie will.“

Dieser Text erschien am 10. September 2018 in der NRZ

Montag, 10. September 2018

Steht unsere Zukunft in der Kippe?

Auch wer die aktuelle Berichterstattung zum Thema Kinderarmut verfolgt hat, wonach jedes dritte Kind in Mülheim von Armut bedroht ist, musste am Samstag schlucken, als die SPD zu eben diesem Thema in die Stadthalle eingeladen hatte. Die Kinderarmut hat in Mülheim seit 2006 um 50 Prozent zugenommen. Und in der Stadtmitte wachsen heute zwei Drittel der Kinder in Familien auf, die auf Arbeitslosengeld II angewiesen sind. „In diesen Zahlen sind die von Armut bedrohten Familien, die aber kein Arbeitsgeld II bekommen, noch gar nicht mit enthalten“, betonte der Sozialwissenschaftler Volker Kersting, den viele Mülheimer noch als Stadtforscher kennen und der inzwischen als Regionalforscher an die Ruhruniversität Bochum gewechselt ist.

Kersting stellte aber auch die andere Seite der sozialen Medaille vor. Zwischen 2013 und 2015 ist die Zahl der Mülheimer Einkommensmillionäre von 43 auf 58 angestiegen. Die Betroffenheit ob dieser Zahlen, die plakativ zeigen, wie in unserer Stadt die sozial Schere auseinandergegangen ist, war unter den Zuhörern aus Politik, Verwaltung und Sozialarbeit mit Händen zu greifen.

„Wir haben das Thema ja seit Jahren erforscht und bearbeitet. Wir waren nicht untätig, aber es hat sich verschärft und deshalb müssen wir dran bleiben“, lautete für den ehemaligen Chef der Sozialagentur, Klaus Konietzka die Konsequenz. Der als Integrationsfachkraft bei der Stadt arbeitende Murat Özdemir wies darauf hin, dass 70 Prozent der Kinder, die in Arbeitsgeld II beziehenden Familien leben, Leistungen aus dem Bildungs- und Teilhabe-Paket des Bundes in Anspruch nehmen und damit die Möglichkeit haben, von Bildungs,- Sport und Kulturangeboten zu profitieren. Özdemir machte aber auch deutlich, dass nicht nur Staat und Politik, sondern auch die Eigenverantwortung der Eltern gefordert sei, um ihre Kinder nach bestem Wissen und Gewissen aus der materiellen und geistigen Armut herauszuführen. Ihm sprang auch die Vorsitzende des Vereins Hilfe für Frauen, Nicole Weyers, bei, die beruflich als Fallmanagerin für die Sozialagentur arbeitet. Angesichts des extrem hohen Armutsrisikos, dass alleinerziehende Mütter und ihre Kinder haben, forderte Weyers mehr fordernde Förderung für junge Männer und junge Väter, die sich zu oft ihrer Verantwortung entzögen.

„Das schaffen wir als SPD nicht alleine. Dafür brauchen wir Partner im Rat und in der Bürgerschaft, aber auch mehr Unterstützung vom Land und vom Bund“, formulierte der sozialpolitische Sprecher der SPD-Fraktion, Rodion Bakum den politischen Handlungsauftrag.

Aufmerksame Zuhörer fand auch der Geschäftsführer des Deutschen Kinderhilfswerkes, Holger Hofmann, der unter anderem vom Potsdamer Projekt eines lokalen Aktionsplans gegen Kinderarmut berichtete.

Dort ist man dabei, die Vernetzung der örtlichen Akteure, die im Bereich Familien und Kinder arbeiten, voranzutreiben. Hofmann nannte unter anderem die ungewöhnliche, aber sehr erfolgreiche Zusammenarbeit zwischen einem Fußballverein und der Stadtbücherei, die gemeinsam eine viel größere Zahl von Kindern und Eltern erreicht haben und so gemeinsam an Bildung, Sprache, Sozialverhalten und Bewegung arbeiten können. Wegweisend hält er auch die in Potsdam auf den Weg gebrachte Familienkarte, die die Leistungen für Kinder und Familien vom Sportverein über die Bibliotheksnutzung bis zum öffentlichen Personennahverkehr bündelt und so die Stigmatisierung bedürftiger Eltern und Kinder minimiert und dafür sorgt, dass sie am öffentlichen Leben teilnehmen können.

Doch Hofmann sieht nicht nur die Kommunen, sondern auch den Bund in der Pflicht. Er müsse die 154 Hilfeleistungen für Kinder in einem Bundeskinderteilhabegesetz bündeln und eine steuerfinanzierte Kindergrundsicherung einführen. Für Sozialforscher Kersting ist angesichts langzeitarbeitsloser Eltern klar: „Wir brauchen einen sozialen Arbeitsmarkt!“ 

Dieser Text erschien am 10. September 2018 in NRZ/WAZ

Sonntag, 9. September 2018

In Memoriam: Werner Bungert

Mit Werner Bungert hat Mülheim einen tatkräftigen und großherzigen Menschen verloren. Der seit 1970 selbstständige Lederhändler lebte und arbeitete aus dem Bewusstsein heraus, dass Geld unter dem Strich nicht alles ist. Jetzt ist er im Alter von 81 Jahren gestorben.
Die Mülheimer werden ihn vor allem als Mitgründer des Internationalen Clubs der Schlitzohren, des Mülheimer Golfclubs und des Ledermuseums in Erinnerung behalten. Er besaß die Schlitzohrigkeit, die man im besten Sinne des Wortes braucht, um im Leben etwas zu bewegen. In eben diesem Sinne hatte den damals 26-jährigen Bungert 1963 auch die Begegnung mit dem damals 87-jährigen Alt-Kanzler Konrad Adenauer inspiriert, mit dem er in dessen Haus in Rhöndorf einen lebenserfahrenen Menschen kennen lernte, der Schlitzohrigkeit und Gradlinigkeit zu verbinden wusste.

Als welterfahrener Mensch kannte Bungert die Nöte unter denen vor allem Kinder weltweit zu leiden haben, weil sie naturgemäß das schwächste Glied in der gesellschaftlichen Kette sind und deshalb eine starke Lobby brauchen. Mit seinem Club der Schlitzohren holte er ab 1979 prominente Zeitgenossen, von Hans-Dietrich-Genscher über Peter Ustinov bis zum Mainzer Kardinal Karl Lehmann nach Mülheim, um sie als Ehrenpreisträger des Goldenen Schlitzohrs für den Kampf gegen die weltweite Not der Kinder einzuspannen. Bungert wusste, Geld ist nur so gut, wie der Zweck, dem es dient. Und so ließen er und seine "schlitzohrigen" Club-Kollegen die in Mülheim verliehenen Preisgelder und die darüber hinaus zahlreich gesammelten Spenden Projekte finanzieren, mit denen Hilfe zur Selbsthilfe ermöglicht und Lebensperspektiven geschaffen werden konnten. Für Bungert gilt, was der Theologe, Arzt, Philosoph, Organist, Musikwissenschaftler, Friedensnobelpreisträger und Menschenfreund Albert Schweitzer einmal gesagt hat: "Das schönste und größte Denkmal, das sich ein Mensch setzen kann, ist das Denkmal im Herzen seiner Mitmenschen."

Dieser Text erschien am 8. September 2018 in der Mülheimer Woche

Samstag, 8. September 2018

In Memoriam Günther Smend

"Wir haben doch nichts gewusst!" Dieser Satz war 1945 und später oft in Deutschland zu hören. Günther Smend, der heute vor 74 Jahren auf Geheiß Adolf Hitlers und seines willfährig von Roland Freisler geleiteten Volksgerichtshofes in Berlin-Plötzensee hingerichtet oder besser gesagt ermordet wurde, war einer der wenigen Deutschen seiner Zeit, die sich der grausamen Wahrheit über die Verbrechen Hitlers und seiner vielen Helfershelfer stellte und daraus die Konsequenz des aktiven Widerstandes zog.

Der 1912 in Trier geborene und in Mülheim aufgewachsene Offizier, wurde, wie seine Mitstreiter aus dem militärischen Widerstand um den Grafen Klaus Schenck von Stauffenberg, von seinem christlichen Glauben angetrieben, dem verbrecherischen Regime der Nationalsozialisten ein Ende zu setzen, und koste es das eigene Leben.

Der Widerstand gegen Hitler, den auch der in Heißen aufgewachsene Priester Otto Müller oder die Stadtverordneten Wilhelm Müller (SPD), Otto Gaudig und Fritz Terres (beide KPD) mit ihrem Leben bezahlen mussten, war der Überzeugung geschuldet, dass ein Deutschland nach Hitler nur dann vor Gott und den Menschen bestehen könne, wenn der Widerstand gegen Diktatur, Krieg und Holocaust auch aus seinen eigenen Reihen komme.

Insofern ging es Günther Smend, der vergeblich versuchte seinen Vorgesetzten im Oberkommando des Heeres, den Generaloberst Kurt Zeitzler, für den Widerstand gegen Hitler zu gewinnen, nicht nur um den Sturz des Diktators, sondern auch um ein moralisches Zeugnis für seine Landleute und für die Weltgemeinschaft. Auch wenn die Männer des militärischen Widerstandes, der von ihren Frauen mitgetragen wurde, nicht alle moderne Demokraten waren, sondern zum Teil auch ständischen und monarchischen Staatstraditionen anhingen, tut unsere heutige Demokratie angesichts ihrer extremistischen und populistischen Anfechtungen gut daran, sich an das Lebensbeispiel von Günther Smend mit 31 Jahren, seine Frau Renate und drei Kinder hinterließ, zu erinnern.

Ihr Beispiel und ihr Opfer müssen und auch heute und morgen Verpflichtung sein, Demokratie, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte und Menschenwürde zu beschützen und zu verteidigen.
Aus gutem Grund erinnert einer der inzwischen weit mehr als 100 Mülheimer Stolpersteine vor Günther Smends Elternhaus im Luisental an sein Schicksal, an das sein Sohn Axel Smend als Gast in Mülheim auch an der Schule erinnert hat, an der sein Vater 1932 sein Abitur bestanden hat, dem heutigen Otto-Pankok-Gymnasium.

Freitag, 7. September 2018

Kneippen im Engelbertus-Stift

Im katholischen Engelbertus-Stift, das zur Contilia-Gruppe gehört, hat man sich vor drei Jahren auf den Weg gemacht, eine Kneipp-Einrichtung zu werden. Jetzt konnte Einrichtungsleiter Dirk Wiegmann aus den Händen der Landesvorsitzenden, Josi Marten, das entsprechende Zertifikat des Kneipp-Bundes in Empfang nehmen. Dem Kneippbund gehören in Deutschland 160.000 Mitglieder an.

5000 Euro hat das Pflegeheim in Material und Fortbildung investiert, um, wie es Dirk Wiegmann erklärt, "unseren Bewohnern etwas Gutes zu tun und den Einsatz von Medikamenten zu reduzieren."

Jetzt gehören morgendliche Barfußgänge im hauseigenen Garten, Kneipp-Exkursionen zur Duisburger Sechs-Seen-Platte, Wassergüsse, Fußbäder, Kräutertees, Yoga, Wadenwickel und Honigbretter zum Alltag in dem Pflegeheim, in dem sich 100 Mitarbeiter um 150 Bewohner kümmern.

"Die praktische Orientierung an den Grundprinzipien des Pfarrers Sebastian Kneipp hat dazu geführt, dass Mitarbeiter und Bewohner achtsamer miteinander umgehen und dadurch mehr Lebensfreude erleben und mehr Lebensmut entwickeln", freut sich Alexander Banowski vom Aktivteam des Engelbertus-Stiftes.

Auch Bewohner, wie die 98-jährige Elisabeth Cremers und der 85-jährige Friedhelm Rettinghaus bestätigen, dass ihnen die täglichen Kneipp-Kuren gut tun, in dem sie ihnen eine bessere Durchblutung, warme Füße und ein stabiles gesundheitliche Wohlgefühl verschaffen.

"Die Natur ist die beste Apotheke. Das vom Schöpfer der Menschheit verliehene Wasser und die aus dem Pflanzenreich ausgewählten Kräuter machen das Wesentliche aus, Krankheiten zu heilen und den Körper gesund zu machen." So hat Pfarrer Sebastian Kneipp (1821-1897) die Quintessenz seiner auf den fünf Säulen Wasser, Pflanzen, Bewegung, Ernährung und seelische Balance beruhenden Erkenntnisse einmal selbst beschrieben.  

Wer sich mit den Regeln des Sebastian Kneipp weitergehend beschäftigen möchte, wird im Internet unter: www.kneipp.com fündig.

Mittwoch, 5. September 2018

Menschliche Kontinuität

Ich traue mich abends in der Innenstadt nicht mehr auf die Straße. Da sind so viele undurchsichtige Typen unterwegs“, klagt die alte Dame und fügt hinzu: Das war früher anders. Damals war die Polizei öfter auf der Straße zu sehen.“ Wie anders es war, fand ich gestern bei Recherchen im Stadtarchiv heraus, als ich in einem Bericht der Mülheimer Zeitung des Jahrgangs 1894 nachlesen konnte: „Wieder einmal hat es sich  gezeigt, dass es für Frauen nicht ratsam ist,  abends, nach Einbruch der Dunkelheit, in der Innenstadt unterwegs zu sein. Denn gestern abend wurden zwei Damen von einem verrohten Burschen, der dem Alkohol zu sehr zugesprochen hatte, unsittlich angesprochen.

Den entsetzten Damen blieb nur die Flucht. Leider blieb das unverschämte Bürschlein unerkannt. Man hätte es ihm gewünscht, dass er einmal Bekanntschaft mit der Polizei macht.“
Wahrscheinlich haben auch die bedrängten und geflohnen Frauen anno 1894 über die Verrohung der Sitten und die mangelnde Präsens der Polizei geklagt und sich nach der  „guten, alten Zeit gesehnt“! Wir wissen, dass sie sich damals, wie wir heute, geirrt haben, weil der Mensch ein Mensch war, ist und bleibt, in jeder Hinsicht.

Dieser Text erschien am 5. September 2018 in der NRZ

Dienstag, 4. September 2018

"In den besten Zeiten waren wir 40 Kollegen!"

Heute feiert Theo Henninghaus nicht nur seinen 75. Geburtstag. An diesem Tag schaut er auch auf ein 60-jähriges Berufsleben als Wochenmarkthändler in Mülheim zurück. „In den besten Zeiten waren wir 40 Kollegen. Heute sind wir nur noch zehn“, beschreibt Hellinghaus den Wandel des Wochenmarktes, der seit acht Jahren nicht mehr auf dem Rathausmarkt, sondern auf der Schloßstraße seine Stände aufbaut.

„Wir leben von unserer Stammkundschaft, nicht von der Laufkundschaft“, betont Henninghaus. Mit „Wir“ meint der leidenschaftliche Fan von Fortuna Düsseldorf und ehemalige Schützenkönig seine aus dem Schwarzwald stammende Frau Maria, seine Söhne Martin und Theo und ihre Aushilfen, die der Familie unter die Arme greifen.

Anfangs verdienten Theos Eltern, Theo und Katharina Henninghaus, ihr Geld als fahrende Obst- und Gemüsehändler. Doch dann bekamen die Düsseldorfer 1958 den Tipp, dass der Mülheimer Rathausmarkt ein gutes Pflaster für Markthändler sei. Seitdem ist die Düsseldorfer Familie auch eine Mülheimer Familie. „Der Kontakt mit den Menschen und ihre Wertschätzung für unsere frischen Produkte macht mir Freude“, sagt der Markt-Jubilar, der – allen Discountern und Internethändlern zum Trotz – an die Zukunft des Wochenmarktes glaubt, weil er seinen Kunden eine Mischung aus Frische, Qualität und Menschlichkeit biete.

An Ruhestand möchte der agile Nestor des Mülheimer Wochenmarktes, der täglich um 4 Uhr aufsteht, zum Großmarkt fährt und dann um 6 Uhr am Synagogenplatz seinen Marktstand mit Obst, Gemüse, Eiern, Kartoffeln und Blumen bestückt, nicht denken.

„Hauptsache, ich bleibe gesund. Wie lange wir das können, was wir können, bestimmt nur Er“, sagt der Ex-Meßdiener und zeigt nach oben.“ Und dann beendet Theo Henninghaus freundlich, aber bestimmt das Pressegespräch. Denn der nächste Kunde wartet schon.


Dieser Text erschien am 4. September 2018 in NRZ & WAZ

Sonntag, 2. September 2018

Sich die Last von der Seele schreiben


Der Name ist Programm. Und deshalb hat die Caritas ihrem Fachdienst für Rehabilitation und Integration jetzt auch einen neuen Namen gegeben. Ab sofort leitet Dagmar Auberg den Fachdienst für soziale Teilhabe und Integration.

„Dahinter steckt der Ansatz, dass es nicht nur darum geht Menschen durch Rehabilitation wieder fit zu machen, sondern auch dafür einzustehen und zu arbeiten, dass auch Menschen mit Einschränkungen das Recht auf soziale Teilhabe haben“, erklärt Auberg.

In ihrem Verantwortungsbereich kümmern sich derzeit 45 Mitarbeitende zum Beispiel um Langzeitarbeitslose, Flüchtlinge und Zuwanderer, psychische kranke Menschen, Menschen, die von Wohnungslosigkeit bedroht sind.

Die in ihren Fachdienst geleistete und vom Landschaftsverband Rheinland finanzierte Arbeit ist Teil des seit zehn Jahren von den Mülheimer Kontakten und der Caritas ökumenisch getragenen und im katholischen Stadthaus an der Althofstraße 8 ansässigen Sozialpsychiatrischen Zentrums Mülheim an der Ruhr.

Mit einer Tagesstätte, dem Angebot betreutes Wohnen und einer Tagesstätte erreicht das Zentrum rund 300 psychisch Menschen, die sich mit seiner Hilfe zurück ins Leben kämpfen. Ein Baustein der dort geleisteten Sozial- und Integrationsarbeit ist die dreimal im Jahr erscheinende Zeitschrift: „Datt is irre“, die auch im Katholischen Stadthaus gedruckt und mit 2000 Exemplaren kostenfrei in Bibliotheken, Arztpraxen, Apotheken und Beratungsstellen des westlichen Ruhrgebietes ausgelegt wird.

Die von psychisch kranken Menschen geschriebenen Texte sind eine Mischung aus Poesie und journalistischer Lebenshilfe. Das Themenspektrum, dass die Redaktion um Caritas-Mitarbeiterin Birgitta Becker bearbeitet, ist so bunt, wie das Leben. Einsamkeit, Liebe und Hass, Leistungsdruck, Überforderung oder die Auswirkungen von Diagnosen werden beschrieben.

Die für Interessierte offene Redaktion der Zeitschrift trifft sich montags um 15 Uhr im Katholischen Stadthaus, um ihre Texte zu lesen, zu diskutieren und abschließend in einer demokratischen Abstimmung ins Blatt zu heben oder zur Überarbeitung zurückzustellen.

Mit der Zeitschrift, die am 30. August ihr 25-jähriges Bestehen feiert, ist auch ihre Druckmaschine in die Jahre gekommen. Deshalb suchen Birgitta Becker und ihre Redaktionskollegen jetzt nach Unterstützung für die Neuanschaffung einer Druckmaschine.

„Ich finde, unsere Texte haben Tiefgang und ich wünschte mir, dass mehr Menschen den Mut hätten, sie zu lesen“, sagt einer der Autoren. Und einer seine Kolleginnen macht klar: „Depression ist längst kein Randthema mehr. Immer mehr Menschen sind betroffen. Längst ist sie zur Volkskrankheit geworden!“ Die Tatsache, dass Lehrer, Krankenschwestern und Gartenarchitekten mit am Tisch sitzen, die durch ihre Erkrankung aus dem Berufsleben gerissen worden sind und jetzt wieder auf dem Weg ins Leben sind, unterstreicht diese Tatsache. Für Dagmar Auberg steht fest, „dass hier eine sehr niederschwellige und nachhaltig wirksame Arbeit geleistet wird, von der man nur hoffen kann, dass sie Interesse von Integration und sozialer Teilhabe auch langfristig von den Landschaftsverbänden finanziert wird.“  Kontakt und Information über Birgitta Becker unter: 0208-308543 oder birgitta.becker@caritas-muelheim.de

Dieser Text erschien in NRZ/WAZ vom 30. August 2018

Ihre Wiege stand in Mülheim

  Der Mülheimer Heimatforscher Dirk von Eicken liebt Geschichte(n), die nicht jeder kennt. Eine dieser Geschichten hat er für die  Internets...