Sonntag, 23. September 2018

Wohin mit den Emotionen, wenn die eigene Kirche nicht mehr Kirche ist?

Markus Potthoff (links) und Wolfgang Reuter

„Ich dachte schon, dass wird hier heute eine Randalebude“, gab Jens Oboth am Ende des Donnertagabends zu. Stattdessen bedankte sich der Dozent der katholischen Akademie bei den Tagungsteilnehmern im Kardinal-Hengsbach-Saal der Wolfsburg „für ihre sachlichen und inspirierenden Wortbeiträge. Tatsächlich hätte die Abendveranstaltung mit rund 120 interessierten Basis-Katholiken und den Podiumsgästen Markus Potthoff, im Generalvikariat Leiter der Abteilung für Pastorale Arbeit und Bildung, und dem Düsseldorfer Pastoralpsychologen und Psychotherapeuten Prof. Dr. Wolfgang Reuter auch eine hochemotionale Auseinandersetzung über die Zukunft der Pfarrgemeinden im Bistum Essen werden können.
Denn die Zahlen, die Potthoff zum Thema Pfarreientwicklungsprozess auf den Tisch legte, hatten das Zeug zum Aufreger. Seit dem Jahr 2000 sind in Deutschland 500 Kirchen profaniert worden. Im Zuge der ersten Strukturreform des Bistums Essen wurden aus 259 nur noch 43 Pfarreien. Und nur ein Drittel der heute noch im Ruhrbistum existierenden 270 Kirchen wird über das Jahr 2030 hinaus erhalten bleiben können.
Potthoff gab zu, „dass ich manchmal schlucken muss, wenn ich den Tonfall der Briefe und Gespräche lese und höre, mit denen sich der Bischof im Rahmen des Pfarreientwicklungsprozesses und seiner bisher 36 von ihm freigegebenen Pfarrgemeindevoten auseinandersetzen muss.“ Dabei zeigte der Mann aus der Bistumsverwaltung auch ein gewisses Verständnis, für die maßlose und manchmal auch nur destruktive Emotionalität, die ihm als Mitentscheider von manchem Gemeindemitglied entgegenschlägt, etwa in der Tonart: „Wenn ihr unsere Kirche zumacht, trete ich aus der Kirche aus!“
Der Theologe Potthoff räumte ein: „Auch meine Gefühle sind in dieser extremen Situation, in der wir vor einer epochalen Herausforderung stehen, ambivalent. Auch ich spüre Trauer angesichts von Kirchenschließungen und Profanierungen. Aber ich kann auch nicht die Augen vor der Tatsache verschließen, dass das Ruhrbistum seit seiner Gründung 1958 etwa die Hälfte seiner Kirchenmitglieder verloren hat und welche finanziellen Konsequenzen diese Entwicklung mit sich bringt! Denn allein ein neues Kirchendach kann schnell mehrere 10.000 Euro verschlingen.“
Der Seelsorger und Psychotherapeut Reuter machte den Katholiken im Ruhrgebiet Mut, „miteinander zu reden und auch destruktive Emotionen und Differenzen auszuhalten und zuzulassen.“ Er ist davon überzeugt, dass das Miteinander Reden und Zuhören, verbunden mit einer guten pastoralpsychologischen Schulung der Priester und Seelsorger „langfristig dazu führen wird, dass auch destruktive Emotionen in konstruktive Ideen für einen Neuanfang umgewandelt werden können und so aus der Krise eine Chance für die Kirche werden kann.“ Als Mutmacher-Beispiele führte Reuter Gemeindegründungen in der ostdeutschen Diaspora an, die sich nicht in kirchlichen, sondern in ganz profanen Räumen vollzögen. Dass auch ein Kirchenneubau in Deutschland heutzutage nicht ausgeschlossen sein muss, zeigen die 49 neuen Kirchen, die, laut Potthoff, seit dem Jahr 2000 zwischen Rhein und Oder neu errichtet und eingeweiht worden sind.
„Wir haben und als Pfarrgemeinde ganz neu erfunden“, bestätigte ein Katholik aus Lüdenscheid, dessen Pfarrgemeinde die Zahl ihrer Kirchen von 5 auf 1 reduziert hat. Und sein Gemeinde-Nachbar erinnerte daran, „dass wir uns als Christen mit unserem Auferstehungsglauben nicht an Kirchen klammern sollten.“
Allerdings gab es auch kritische Stimmen, die mahnten, Kirchen nicht vor der Zeit abzureißen und einen gemeindeinternen Konflikt zwischen Gewinnern und Verlierern der Umstrukturierung zu schüren und damit am Ende auch noch jene Menschen zu verlieren, die der Kirche noch die Treue hielten.
Reuter sagte dazu: „Es ist schmerzhaft. Aber wir müssen als katholische Christen lernen, uns angesichts der Umstrukturierungen und der Aufgabe von Kirchengebäuden nicht als Gewinner und Verlierer zu definieren. Denn wir machen schon mit unserer Geburt und der Entbindung von der Mutter als Menschen die Erfahrung, dass es für uns in unserem Leben kein Recht darauf gibt, an einem Ort zu bleiben.“ In diesem Zusammenhang machten zwei Essener Katholiken deutlich, „dass der Streit um die Aufgabe von Kirchen eigentlich nur ein Symptom die Angst vor einer weiteren Erosion der Kirche und davor ist, dass die Kirche von ihren eigenen Entscheidungsträgern abgerissen wird.“ Da gab sich auch Markus Potthoff als Vertreter der Bistumsleitung demütig, wenn er feststellte: „Ich kann Ihnen auch nicht mit letzter Sicherheit sagen, wie die Entwicklung weiter geht und ob wir heute die richtigen Entscheidungen für die Zukunft treffen. Aber ich glaube, dass wir als Kirche unsere Geschichte noch lange nicht zu Ende geschrieben haben.“
Dieser Text erschien am 15. September 2918 im Neuen Ruhrwort

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