"Sechsunddreißig“, wiederholt Annette Lostermann De Nil und schreibt die
sprachlich aus 6 und 30 zusammengesetzte Zahl an die Tafel. Zwölf
Schüler-Augenpaare folgen ihr. Christopher (17), vor drei Wochen aus der
Dominikanischen Republik nach Mülheim gekommen, spricht ihr nach. Nicht nur er
staunt darüber, dass die kleinere Ziffer der großen Zahl 36 im Deutschen als
erste ausgesprochen wird.
Nicht nur Zahlen, sondern auch Ordnungszahlen,
Daten, Uhrzeiten oder das kleine Einmaleins der deutschen Grammatik stehen heute
auf dem Lehrplan der Internationalen Klasse, mit der das Karl-Ziegler-Gymnasium
zehn- bis 18-jährige Kinder und Jugendliche an den Unterricht in den
deutschsprachigen Regelklassen heranführt.
Zwischen sechs und zwölf Kinder und Jugendliche sitzen an diesem
Vormittag in der Internationalen Klasse, die ihrem Namen alle Ehre macht. Hier
lernen Schüler aus Moldawien, Rumänien, Syrien, Ghana, Kamerun, Spanien,
Bulgarien, der Türkei und Brasilien. Nur wenige von ihnen sind Flüchtlinge. Die
meisten kamen im Rahmen einer Familienzusammenführung nach Mülheim, weil hier
bereits ein Elternteil lebte und arbeitete. Einige besuchen die Schule erst seit
einigen Wochen, andere seit Monaten. Manche sprechen schon ganz gut, andere nur
ansatzweise deutsch.
Während des Unterrichtes ist die gespannte
Aufmerksamkeit zu spüren, mit der die Schüler den Ausführungen ihrer Lehrer
Annette Lostermann DeNil und Michael Wiegel folgen. Niemand will etwas
verpassen. Hier ist man erstaunlich ruhig und hilft sich bei Bedarf und so weit
man kann. „Manchmal wird es aber auch lauter und alle reden in ihrer
Muttersprache durcheinander“, geben der 13-jährige Jack und der gleichaltrige
Georgi zu. Jacks Eltern kommen aus China, während er in den Niederlanden geboren
wurde. Dort möchte er später Architektur studieren. Auch der aus Bulgarien
stammende Georgi weiß schon, was er nach dem Abitur machen möchte. „Entweder
werde ich Arzt oder Fußballstar.“ Während Annette Lostermann DeNil und ihr
Kollege Michael Wiegel, der sie seit eineinhalb Jahren regelmäßig unterstützt,
je nach Sprach- und Wissensstand mit ihren Schülern Aufgaben bearbeiten,
beschäftigen sich Jack und Georgi in einem Nebenraum mit ihren Schulatlanten und
ordnen verschiedenen Ländern ihre Hauptstädte zu. Die Lehrer wechseln immer
wieder ihre Position, sind dort, wo sie gebraucht werden und bewahren die Ruhe,
auch wenn von der Seite oder von hinten schon die nächste Frage auf sie
einprasselt.
„Man ist hier nicht nur Lehrer, sondern auch
Vertrauensperson und Helfer der Schüler und entwickelt eine intensive Beziehung
zu ihnen“, erklärt Deutsch- und Geschichtslehrer Michael Wiegel, warum er sich
neben seinen Unterrichtsverpflichtungen in den Regeklassen auch in der
internationalen Klasse engagiert.
„Im Regelunterricht lerne ich Schüler
nur punktuell kennen und kann ihren Wissenstand in einem bestimmten Fach
beobachten. Aber in der internationalen Klasse lernt man sie viel besser kennen
und hat ihren ganzen Werdegang im Blick,“ sagt seine Kollegin. Genau im Blick
hat Lostermann DeNil auch, welcher Schüler kommt oder geht. Macht hier jeder so
lange mit, wie er will? „Nein. Jeder Schüler der internationalen Klasse besucht,
je nach Sprach- und Wissenstand, auch den Regelunterricht. Wir beginnen mit
weniger sprachintensiven Fächern, wie Kunst, Sport oder Mathematik. Nach zwei
Jahren sollten die Schüler dann so weit sein alle Fächer im Regelunterrichtes
lernen zu können.“
Einige Schüler, die hörbar so gut deutsch sprechen,
dass sie nur noch in Regelklassen unterrichtet werden, kommen aber in
Freistunden weiterhin in die Internationale Klasse, „weil Frau Lostermann so
freundlich und hilfsbereit ist“, wie die aus Ghana stammende 18-jährige Kyria
und die syrischen Brüder Bisher (13) und Bader (15) versichern. „Ich habe immer
noch Probleme mit langen zusammengesetzten Wörtern“, gibt Kyria zu. Für Bader,
der, wie sie bereits in die Oberstufe versetzt worden ist, ist Interpretation
deutscher Gedichte oft ein Buch mit sieben Siegeln. Doch er weiß: „Frau
Lostermann hat für jedes Problem eine Lösung!“ Die syrischen Brüder, die wie
Kyria später Medizin studieren wollen, betonen, dass sie „es ohne Frau
Lostermann nie soweit geschafft hätten.“ Gerne erinnern sie sich daran, dass sie
mit Lostermann nach der Schule die Stadtbücherei im Medienhaus mit all ihren
Möglichkeiten entdeckt haben.
Für Bisher und Bader, die in Syrien Hunger
und Schultage mit Schießereien und Bombeneinschlägen kennen, ist nicht nur die
Stadtbücherei das reinste Wunder.
Dieser Text erschien am 2. September 2015 in NRZ & WAZ
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