Samstag, 5. September 2015

Mit dem Deutsch-Mobil in die Zukunft: Ein Besuch in der Internationalen Klasse der Karl-Ziegler-Schule

"Sechsunddreißig“, wiederholt Annette Lostermann De Nil und schreibt die sprachlich aus 6 und 30 zusammengesetzte Zahl an die Tafel. Zwölf Schüler-Augenpaare folgen ihr. Christopher (17), vor drei Wochen aus der Dominikanischen Republik nach Mülheim gekommen, spricht ihr nach. Nicht nur er staunt darüber, dass die kleinere Ziffer der großen Zahl 36 im Deutschen als erste ausgesprochen wird.

Nicht nur Zahlen, sondern auch Ordnungszahlen, Daten, Uhrzeiten oder das kleine Einmaleins der deutschen Grammatik stehen heute auf dem Lehrplan der Internationalen Klasse, mit der das Karl-Ziegler-Gymnasium zehn- bis 18-jährige Kinder und Jugendliche an den Unterricht in den deutschsprachigen Regelklassen heranführt.

Zwischen sechs und zwölf Kinder und Jugendliche sitzen an diesem Vormittag in der Internationalen Klasse, die ihrem Namen alle Ehre macht. Hier lernen Schüler aus Moldawien, Rumänien, Syrien, Ghana, Kamerun, Spanien, Bulgarien, der Türkei und Brasilien. Nur wenige von ihnen sind Flüchtlinge. Die meisten kamen im Rahmen einer Familienzusammenführung nach Mülheim, weil hier bereits ein Elternteil lebte und arbeitete. Einige besuchen die Schule erst seit einigen Wochen, andere seit Monaten. Manche sprechen schon ganz gut, andere nur ansatzweise deutsch.


Während des Unterrichtes ist die gespannte Aufmerksamkeit zu spüren, mit der die Schüler den Ausführungen ihrer Lehrer Annette Lostermann DeNil und Michael Wiegel folgen. Niemand will etwas verpassen. Hier ist man erstaunlich ruhig und hilft sich bei Bedarf und so weit man kann. „Manchmal wird es aber auch lauter und alle reden in ihrer Muttersprache durcheinander“, geben der 13-jährige Jack und der gleichaltrige Georgi zu. Jacks Eltern kommen aus China, während er in den Niederlanden geboren wurde. Dort möchte er später Architektur studieren. Auch der aus Bulgarien stammende Georgi weiß schon, was er nach dem Abitur machen möchte. „Entweder werde ich Arzt oder Fußballstar.“ Während Annette Lostermann DeNil und ihr Kollege Michael Wiegel, der sie seit eineinhalb Jahren regelmäßig unterstützt, je nach Sprach- und Wissensstand mit ihren Schülern Aufgaben bearbeiten, beschäftigen sich Jack und Georgi in einem Nebenraum mit ihren Schulatlanten und ordnen verschiedenen Ländern ihre Hauptstädte zu. Die Lehrer wechseln immer wieder ihre Position, sind dort, wo sie gebraucht werden und bewahren die Ruhe, auch wenn von der Seite oder von hinten schon die nächste Frage auf sie einprasselt.

„Man ist hier nicht nur Lehrer, sondern auch Vertrauensperson und Helfer der Schüler und entwickelt eine intensive Beziehung zu ihnen“, erklärt Deutsch- und Geschichtslehrer Michael Wiegel, warum er sich neben seinen Unterrichtsverpflichtungen in den Regeklassen auch in der internationalen Klasse engagiert.

„Im Regelunterricht lerne ich Schüler nur punktuell kennen und kann ihren Wissenstand in einem bestimmten Fach beobachten. Aber in der internationalen Klasse lernt man sie viel besser kennen und hat ihren ganzen Werdegang im Blick,“ sagt seine Kollegin. Genau im Blick hat Lostermann DeNil auch, welcher Schüler kommt oder geht. Macht hier jeder so lange mit, wie er will? „Nein. Jeder Schüler der internationalen Klasse besucht, je nach Sprach- und Wissenstand, auch den Regelunterricht. Wir beginnen mit weniger sprachintensiven Fächern, wie Kunst, Sport oder Mathematik. Nach zwei Jahren sollten die Schüler dann so weit sein alle Fächer im Regelunterrichtes lernen zu können.“

Einige Schüler, die hörbar so gut deutsch sprechen, dass sie nur noch in Regelklassen unterrichtet werden, kommen aber in Freistunden weiterhin in die Internationale Klasse, „weil Frau Lostermann so freundlich und hilfsbereit ist“, wie die aus Ghana stammende 18-jährige Kyria und die syrischen Brüder Bisher (13) und Bader (15) versichern. „Ich habe immer noch Probleme mit langen zusammengesetzten Wörtern“, gibt Kyria zu. Für Bader, der, wie sie bereits in die Oberstufe versetzt worden ist, ist Interpretation deutscher Gedichte oft ein Buch mit sieben Siegeln. Doch er weiß: „Frau Lostermann hat für jedes Problem eine Lösung!“ Die syrischen Brüder, die wie Kyria später Medizin studieren wollen, betonen, dass sie „es ohne Frau Lostermann nie soweit geschafft hätten.“ Gerne erinnern sie sich daran, dass sie mit Lostermann nach der Schule die Stadtbücherei im Medienhaus mit all ihren Möglichkeiten entdeckt haben.

Für Bisher und Bader, die in Syrien Hunger und Schultage mit Schießereien und Bombeneinschlägen kennen, ist nicht nur die Stadtbücherei das reinste Wunder.


Dieser Text erschien am 2. September 2015 in NRZ & WAZ

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