Freitag, 19. Mai 2017

Der Mann an der Orgel

Der Kaiser hätte an Otto seine Freude. Otto ist ein Mann in den besten Jahren und hat eine Pickelhaube auf dem Kopf. Der Mann, der in einer alten Polizeiuniform auf der Schloßstraße steht, um die Passanten mit seiner Musik aus der Drehorgel und einer Trompete zu erfreuen, ist zwar nicht so alt, dass er den Kaiser noch gekannt hätte, aber doch schon so alt, dass er in Ehren ergraut und im Ruhestand angekommen ist. „Ich habe gerade kein Geld“, entschuldigt sich der eilige Journalist, der dem reifen Musikanten in seiner Uniform aus Urgroßvaters Zeiten gerne ein oder zwei Münzen für seine schwungvollen Rhythmen auf seinen Teller gelegt hätte. „Ich auch nicht!“, sagt der Mann an der Drehorgel. Er macht aus der Not eine Tugend. In dem er den Passanten auf der Schloßstraße mit seiner Musik und seiner sehenswerten Erscheinung eine Freude macht, bessert er seine karge Rente auf. Gut, dass Otto noch Luft und Töne hat. Da macht Wiedersehen und Wiederhören Freude. Der nächste Euro kommt bestimmt.

Und doch würde sich der Zuhörer und Zuschauer dieses bewundernswerten Ein-Mann-Straßen-Musiktheaters wünschen, dass Otto und seine Leidensgenossen, die als Rentner nicht rasten dürfen, weil bei ihnen auch nach einem langen Arbeitsleben die Rentenkasse nicht klingelt, so manchem großtönenden Großverdiener, der als Staaten- und Wirtschaftslenker weniger für Harmonie als für Misstöne sorgt, den Marsch blasen. So dass ihnen Hören und Sehen verginge. 

Dieser Beitrag erschien am 16. Mai 2017 in der Neuen Ruhr Zeitung

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