Sonntag, 8. August 2010

Rückblick: Als Mülheim seinen ersten Nachkriegsschultag erlebte


Zurzeit genießen Mülheims 20 000 Schüler ihre Sommerferien. Vor 65 Jahren haben ihre Großeltern ihren ersten Nachkriegsschultag erlebt. Am 6. August 1945 nehmen die 22 Volksschulen Mülheims mit rund 9400 Schülern ihren Lehrbetrieb wieder auf. Die Kinder der ersten bis sechsten Klasse machen den Anfang. Ihre Mitschüler aus den Volksschulklassen 7 und 8 haben, ebenso wie die Schüler der Mülheimer Mittelschule an der Oberstraße und der Mülheimer Gymnasien, noch bis Anfang Oktober schulfrei.


"Das waren Zeiten", möchte man da als heutiger Schüler denken, sollte sich aber nicht zu früh in die Schulzeiten seiner Großeltern zurück wünschen.Nachdem die Mülheimer Schulen kriegsbedingt im Oktober 1944 ihren Lehrbetrieb eingestellt hatten, weil Bomben fielen und die meisten Schüler ohnehin in der Kinderlandverschickung waren, während viele Lehrer zu Hause oder an der Front zum Kriegseinsatz abkommandiert worden waren, konnte der Schulbetrieb wenige Monate nach Kriegsende nur schrittweise begonnen werden, weil viele Schulen, in Mülheim alleine elf, zerstört waren. Und selbst die Schulen, die den Krieg heil oder zumindest nur teilweise beschädigt überstanden hatten, konnten oft nicht vollständig für den Unterricht genutzt werden, weil sie, aus der Not heraus, als Verwaltungsdiensstelle, als Wohnraum oder auch, wie im Fall der heutigen Karl-Ziegler-Schule, als Hilfskrankenhaus genutzt wurden.


Der akuten Raumnot versuchte man mit Schichtunterricht und Klassenstärken von mehr als 60 Schüler pro Lehrer Herr zu werden. Heute werden schon Klassenstärken von 30 Schülern als pädagogisch bedenklich eingestuft. Als die Mülheimer Schulkinder vor 65 Jahren noch buchstäblich die Schulbank drücken und ihren Griffel herausholen, treibt sie nicht nur Wissensdurst, sondern auch der Hunger um. Das städtische Ernährungs- und Wirtschaftsamt ist auf humanitäre Hilfe angewiesen. Die kommt zum Beispiel im Form amerikanischer Care-Pakte oder einer Schulspeisung durch das Schwedische Rote Kreuz dem Mülheimer Nachwuchs zugute. Jungen und Mädchen nehmen 1945 nicht nur einen Ranzen, sondern auch einen Henkelmann mit zur Schule, wo der Hausmeister die Milch- und Suppenkelle schwingt. Neben Milch stehen auch Biskuit- und Erbsmehlsuppe auf dem Schulspeiseplan.


Was man nicht aufisst, wird mit nach Hause mitgenommen.Aber nicht nur der knurrende Magen, sondern auch der Mangel an Kohlen- und Brennstoff, macht den Unterricht damals schwer. Wenn die Kohlen fehlen, gibt es im Herbst und Winter 1945 kältefrei.Ganz anders eingeheizt wird dagegen den Lehrern, die in der NSDAP und ihren Organisationen eine führende Rolle gespielt haben. Ihnen verweigert die britische Militärregierung die Wiedereinstellung und schickt auch die als politisch unbelastet eingestuften Lehrer für sechs Wochen in einen Schulungskurs, "damit sie den jungen Menschen den Blick für die neue Welt klar und weit öffnen können," wie es am 11. August 1945 in einem Bericht der von der Militärregierung herausgegebenen Ruhrzeitung heißt. Insbesondere Geschichte und Pädagogik müssen die Lehrer bei von den Briten ausgewählten Hochschullehrern neu lernen.Nicht nur politisch belastete Pädagogen, sondern auch ideologisch eingefärbte Schulbücher aus der NS-Zeit werden ausgemustert.


Und weil man deshalb nur noch ganz wenige alte Schulbücher nutzen kann, die neuen aber noch nicht da sind, muss das Amtsblatt der Stadt regelmäßig Texte für den Schulunterricht veröffentlichen. Und so erscheinen dort neben offiziellen Bekanntmachungen regelmäßig auch literarische Texte von den Gebrüdern Grimm bis zu Goethe, die in den Schulen vorerst das Lesebuch ersetzen.

Der Zeitzeuge Hans Fischer erinnert sich: Die "Sommerferien" 1945 begannen für den damals 13-jährigen Hans Fischer am 11. Juni mit der Rückkehr aus der Kinderlandverschickung in Mähren und endeten nicht schon am 6. August, sondern erst am 1. Oktober 1945. Denn er besuchte das städtische Gymnasium, das er vor der Kinderlandverschickung noch als Emil-Kirdorf-Schule gekannt hatte und das heute den Namen des Mülheimer Chemie-Nobelpreisträgers Karl Ziegler trägt. Viele Lehrer, die er als aktive Nazis kannte, sah er nicht wieder. Andere, die als Mitläufer eingestuft wurden, kehrten nach einer Übergangsfrist an die Schule zurück. Fischer und seine Klassenkameraden wurden zum Teil aber auch von alten Lehrern unterrichtet, die eigentlich schon pensioniert werden sollten, aber aufgrund des Lehrermangels reaktiviert wurden. Fischer erinnert sich: "Die Lehrer unterrichteten damals von einem Pult aus, das auf einem Podium stand. Geschichte und Politik waren anfangs im Unterricht kein Thema. Erst später hat uns unser Deutschlehrer etwas über Demokratie und Verfassungsgeschichte erzählt, während unser Englischlehrer, der auch als Dolmetscher eingesetzt war, uns berichtete, wie in England gewählt wird und wie das Schulsystem dort funktioniert." Weil es noch keine Schulbücher gab, mussten Fischer und seine Klassenkameraden anfangs "alles von der Tafel abschreiben". Statt in Schulhefte schrieb er mit einem Bleistift auf die Rückseite alter Rechnungsblöcke, die sein Vater von seinem Arbeitsplatz bei Tengelmann-mit nach Hause gebracht hatte. Die Biskuit-Erbsmehlsuppe, die sie als Schulspeisung empfingen, wurde von Fischer und seinen Mitschülern ob ihrer Konsistenz auch schon mal gerne als "Dübelmasse" verspottet, aber trotzdem hungrig verschlungen. Im Schuljahr 45/46 lernen die Schüler des städtischen und des noch beschädigten staatlichen Gymnasiums, das später nach dem Mülheimer Maler Otto Pankok benannt werden sollte, unter einem Dach im heutigen Karl-Ziegler-Gymnasium.
Das Foto zeigt August Weilandt in dem von ihm betreuten Historischen Klassenzimmer an der Schlägelstraße in Styrum mit ehemaligen Schülerinnen der Realschule Stadtmitte
Dieser Text erschien am 6. August 2010 in der NRZ

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