Mittwoch, 25. August 2010

Vor 65 Jahren wurde der von den Nazis entlassene Schulleiter Josef Brüggemann vom Bürgerausschuss wieder eingesetzt: Ein Schulbeispiel


Mein NRZ-Beitrag über den ersten Nachkriegsschultag am 6. August 1945 weckte bei Klaus Möltgen Erinnerungen an seinen Großvater Joseph Brüggemann. Denn der wurde am 21. September 1945 vom Bürgerausschuss, der von der britischen Militärregierung ernannten Stadtvertretung zum Leiter des staatlichen und des städtischen Gymnasiums bestellt, die man heute als Otto-Pankok- und Karl-Ziegler-Schule kennt.


Weil das staatliche Gymnasium damals noch weitgehend vom Krieg zerstört war, lernten die Schüler beider Gymnasien im ersten Nachkriegsschuljahr unter der Leitung Brüggemanns im städtischen Gymnasium an der Schulstraße. Dass die Schulleiterwahl auf Brüggemann fiel, obwohl der damals 66-jährige Pädagoge bereits pensioniert war, hatte nicht nur mit seinem guten Pädagogenruf, sondern auch mit seiner allgemein bekannten Gegnerschaft zum NS-Regime zu tun. Brüggemann, den sein Enkel Möltgen als "gütigen Großvater" in Erinnerung behalten hat, der ihm in seiner Wohnung am Kassenberg lieber Geschichten von Homer als deutsche Märchen erzählte, war ein christlicher Konservativer, dem das menschenverachtende Weltbild der Nazis von Anfang an zu wider war, was ihn nach 1933 immer wieder in Bedrängnis brachte und am 1. April 1944 in seiner Zwangspensionierung gipfelte.


Nach insgesamt 31 Schulleiterjahren, davon 19 am staatlichen Gymnasium, wurde er ohne die sonst obligatorische Dankesurkunde aus dem Dienst entlassen. Als Vorwand diente den braunen Machthabern eine "Schülermeuterei" in einem Erntelager. Um die Ernährung der Bevölkerung sicherzustellen, schickten die Nazis Schüler ab 1940 in den Ernteeinsatz. So mussten auch Zehntklässler des staatlichen Gymnasiums im September 1942 bei der Kartoffelernte im norddeutschen Landkreis Falllingbostel helfen. Als sie sich dort gegen ihre menschenunwürdigen Lebens- und Arbeitsbedingungen (feuchte Unterkünfte, zu lange Arbeitszeiten und zu wenig und schlechte Nahrung) auflehnten und auf ihre Rückkehr nach Mülheim pochten, kam es zum Eklat. Brüggemann ließ die Schüler in Aufsätzen ihre Sicht der Dinge darstellen. Obwohl die örtliche Leitung der Hitlerjugend sich vor Ort ein eigenes Bild machte und die Schilderungen der Jungen bestätigte, wurden sie zur Teilnahme an einem Wehrertüchtigungslager verurteilt, bei dem ein Schüler wegen unterlassener medizinischer Hilfe an den Folgen einer Darmverschlingung starb.


Weil sich der in seiner Ehre gekränkte Lehrer, der für das Desaster im Ernteeinsatz mitverantwortlich war, an die Schulaufsichtsbehörden wandte, wurde der Fall erneut aufgerollt und nun politisch gegen Brüggemann instrumentalisiert. Tatsächlich wollten die Machthaber den Pädagogen treffen, der sich immer wieder geweigert hatte, der NSDAP beizutreten und statt auf das Führerprinzip auf sein humanistisches Bildungsideal sowie auf mündige und mitbestimmende Schüler setzte. Seine aufgeklärten pädagogischen Ideen waren seiner Zeit viel zu weit voraus.


Ganz im Sinne der NS-Ideologie war aus dem staatlichen Gymnasium die Langemarckschule geworden, deren Name an eine Schlacht des Ersten Weltkrieges erinnerte. Obwohl Brüggemann in dem Industriellen Hugo Stinnes junior einen einflussreichen Fürsprecher hatte, der sich in einem Brief an den Reichserziehungsminister Rust für ihn und die beschuldigten Schüler einsetzte, wurde er gezwungen, im Oktober 1943 seine vorzeitige Pensionierung zu beantragen.

Die Wortführer der "Schülermeuterei" wurden der Schule verwiesen.


Immerhin war seine zweite Schulleiterernennung in Mülheim eine späte Genugtuung und Rehabilitation, die Brüggemann aber nur relativ kurz genießen konnte, da er bereits im März 1946 seinen Schulleiterdienst aus gesundheitlichen Gründen aufgeben musste und im November des selben Jahres an den Folgen einer Krebserkrankung starb. Zufall der Geschichte: Im Sterbemonat Brüggemanns, der zu den Mitgründern der Mülheimer CDU gehörte, konstituierte sich in der noch erhaltenen Aula des staatlichen Gymnasiums der erste frei gewählte Stadtrat der Nachkriegszeit. Und die Geschichte sollte weitergehen. Brüggemanns Enkel Klaus Möltgen sollte 1959 am ehemaligen Gymnasiums seines Großvaters das Abitur machen, wie dieser Pädagoge und später unter anderem als Kreispartei- und Fraktionsvorsitzender in der CDU politisch aktiv werden.


Dieser Text erschien am 19. August 2010 in der NRZ

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