Donnerstag, 5. August 2010

Rückblick: Vor 65 Jahren begann mit dem Bürgerausschuss der lange Weg zur kommunalen Selbstverwaltung


Das Rathaus ist eine Baustelle. Der Rat und seine Ausschüsse genießen derzeit bei der Rheinisch-Westfälischen Wasserwerksgesellschaft in Styrum und in der Volkshochschule an der Bergstraße in Broich Sitzungsasyl. Vor 65 Jahren ist das Rathaus auch eine Baustelle, allerdings ganz anders als heute. Damals geht es nicht um Modernisierung, sondern um Wiederaufbau.


Das Rathaus ist noch von den Bomben des Zweiten Weltkrieges gezeichnet, als der Bürgerausschuss am Nachmittag des 3. August 1945 im Trausaal zu seiner konstituierenden Sitzung zusammentritt.Der Vertreter der britischen Militärregierung, Major Green, der die Bürgerräte in ihr Amt einführt, weist in seiner Ansprache auf die Symbolik hin. Dass die nicht gewählten, sondern von der Militärregierung ernannten Ausschussmitglieder nicht im alten, noch zerstörten Ratssaal, tagen können, sondern in ein „kleines Sälchen“ ausweichen müssen, ist für ihn Ausdruck dafür, „dass in Zeit der nationalsozialistischen Diktatur jede Selbstverwaltung verloren gegangen“ sei.


Auch wenn der britische Major keinen Zweifel daran lässt, dass der Bürgerausschuss keine demokratisch legitimierte Stadtvertretung sei, weist Green bereits in die Zukunft, wenn er feststellt, „dass der Tag kommen wird, an dem ein gewähltes Stadtparlament zusammentritt.“ Bis dahin wird es noch 15 Monate dauern.In der Ruhrzeitung, dem offiziellen Organ der britischen Militärregierung, wird die Amtseinführung des Bürgerausschusses als „ein bedeutsamer Schritt zum kommunalen Aufbau Mülheims“ gewertet.Unter den zwölf Mitgliedern des Bürgerausschusses finden sich unter anderem Persönlichkeiten, wie der spätere Oberbürgermeister Heinrich Thöne, der spätere Oberstadtdirektor und Landtagsabgeordnete Bernhard Witthaus, der spätere Bundestagsabgeordnete Otto Striebeck, Bürgermeister, Landtagsabgeordneter und Kreishandwerksmeister Max Kölges oder der erste DGB-Chef Heinrich Melzer, die auch in den folgenden Jahren Mülheims Politik mitbestimmen werden.


Sie und ihre Kollegen, die vor allem den Vorzug haben, dass sie ausgewiesene Gegner des NS-Regimes waren und damit politisch unbelastet sind, sollen den ebenfalls von den Briten ernannten Oberbürgermeister Werner Hoosmann beraten und als Bindeglied zwischen Stadtverwaltung, Militärregierung und Bürgerschaft fungieren, „um Wünsche der Bürgerschaft an die Verwaltung heranzutragen, aber auch harte Maßnahmen der Bürgerschaft überzeugend zur Kenntnis zu bringen.“


OB Hoosmann spricht vom „Zusammenbruch“ und meint damit das vier Monate zurückliegende Kriegsende, aus dem dem „gesamten deutschen Volk die Aufgabe des Wiederaufbaus erwachsen ist.“ In enger und vertrauensvoller Zusammenarbeit, so hofft Hoosmann, werden Militärregierung und Bürgerausschuss „Not lindern“ und das Fundament für eine neue kommunale Arbeit schaffen. „Unsere gemeinsame Aufgabe jetzt und in der näheren Zukunft“, so betont der Oberbürgermeister, „ist, das Lebensnotwendige für unsere Bevölkerung zu beschaffen, also für Essen, Wohnen, Arbeit und ähnliche praktische Dinge zu sorgen.“ Um seine Arbeit organisieren zu können, setzt der Bürgerausschuss später auch Fachausschüsse für die Bereiche Schule, Fürsorge, Kultur und Bauen ein. Er beruft einen neuen Sparkassenvorstand, bringt ein Wohnungsnotprogramm und die Instandsetzung der örtlichen Krankenhäuser auf den Weg.


Die Not in Mülheim ist damals mit Händen zu greifen. Jede vierte Wohnung ist zerstört. 800 000 Kubikmeter Trümmerschutt liegen auf den Straßen. Die Versorgung mit den rationierten Lebensmitteln, die nur schleppend nach Mülheim kommen, weil Transportmittel und Treibstoff fehlen, beschreibt Major Green lakonisch als „knapp, aber nicht katastrophal.“ Die Finanzlage der Stadt nennt er „nicht diskutabel.“ Was das vom Krieg zerstörte Mülheim besonders belastet, ist der unaufhörliche Zustrom von ehemals Evakuierten und Flüchtlingen. Ende September 1945 leben 130 000 Menschen in der Trümmerstadt.Bürgerausschussmitglied und Sozialdezernent Ernst Tommes betont in einer Erklärung, dass die Mitglieder des Bürgerausschusses keine egoistischen, sondern nur allgemeine Interessen verfolgen würden. Neben dem materiellen Wiederaufbau sieht Tommes vor allem „die Abkehr vom Faschismus“ als die wichtigste Aufgabe. Alle aktiven Nationalsozialisten müssten aus ihren Ämtern entfernt und „die Jugend in die richtigen Bahnen“ geleitet werden.


Dieser Text erschien am 3. August 2010 in der NRZ

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