Lloyd Thurairaj |
Thurairaj kann nicht alle Menschen kennen, die er täglich als Straßenbahnfahrer auf den Linien 104, 112 und U18 sieht. Es sind wohl mehrere Tausend. „Ich habe eine gute Familie und eine schöne Arbeit“, sagt der Tamile, der vor 26 Jahren vor dem damaligen Bürgerkrieg aus seiner Heimat Sri Lanka floh und in Mülheim landete. In seiner Tasche hatte er nur das Abschlusszeugnis des Gymnasiums, das er in der sri-lankischen Hauptstadt Colombo besucht hatte. „Ich wollte mich hier schnell integrieren und im öffentlichen Dienst arbeiten“, erinnert sich Thurairaj an das Ziel, mit dem er in Mülheim ankam. „Mein erster Weg führte mich zur Volkshochschule, wo ich mich für einen Deutsch- und einen Englisch-Kurs anmeldete“, erzählt er. Gerne erinnert er sich an einen deutschen Kollegen im Englisch-Kurs, der ihn partout mit dem Auto nach Hause bringen wollte, obwohl ihm Thurairaj damals noch gar nicht genau erklären konnte, wo er eigentlich wohnte. Die Folge war eine Irrfahrt durch die Stadt, die am Ende aber mit vereinten Kräften und mit Hilfe ortskundiger Passanten doch zum Ziel führte.
Nicht nur in dieser Episode erlebte Thurairaj die Bürger seiner zweiten Heimat „als gastfreundlich und hilfsbereit“. Auch wenn mancher Fahrgast verdutzt aus der Wäsche schaut, wenn er den dunkelhäutigen Straßenbahnfahrer sieht, hat Thurairaj, so sagt er, noch keine Diskriminierung in Deutschland erlebt.
Besonders freut es ihn, wenn ihm Kinder vom Straßenrand zuwinken oder der eng getaktete Fahrplan eine Minute übrig hat, in der Thurairaj neugierigen kleinen Fahrgästen seinen Führerstand in der Straßenbahn zeigen kann. Dort sieht man heute keine Kurbel mehr, sondern nur noch einen Bremshebel und Monitore, die als Touchscreens nur mit viel Fingerspitzengefühl bedient werden können. Wenn sich Kinder für seinen Beruf und seinen Arbeitsplatz interessieren, steht er ihnen gerne Rede und Antwort. Denn er weiß: „Das könnten die Straßenbahnfahrer von morgen sein!“
Hochgearbeitet
Doch sein Berufsleben in Deutschland begann Thurairaj 2001 nicht als Straßenbahnfahrer bei der Mülheimer Verkehrsgesellschaft, sondern als Reinigungskraft bei den Betrieben der Stadt. 2011 machte er dann den Straßenbahnführerschein und wurde MVG-Fahrer. „Es war für mich anfangs gewöhnungsbedürftig, so hoch zu sitzen und auf den Straßenverkehr hinunterzuschauen und zu erleben, dass die Lenkwirkung in Kurven aufgrund der Länge des Fahrzeugs und seiner Achsen leicht zeitverzögert einsetzt“, erzählt Thurairaj. Als Autofahrer ist er seit 25 Jahren unfallfrei auf Mülheims Straßen unterwegs.
Als Straßenbahnfahrer musste er im dichten Verkehr in vier Jahren zwei Blechschäden erleben. „Ich war schuldlos, weil mir die Autofahrer in die Bahn gefahren sind, aber so ein Unfall lässt einen nicht unberührt“, sagt der Bahnfahrer. Er ist froh, dass bei beiden Unfällen „keine Personen zu Schaden kamen.“
Während er im Tunnel der U18 nur auf die Leuchtsignale achten muss, die ihm die Höchstgeschwindigkeit auf dem jeweiligen Streckenabschnitt anzeigen, muss er auf dem Fahrersitz der bis zu 50 Tonnen schweren Straßenbahnen seine Augen überall haben. „Autofahrer und Fußgänger unterschätzen den langen Bremsweg von 50 Metern und mehr,“ weiß Thurairaj.
Er freut sich, dass die neuen Niederflurbahnen dafür gesorgt haben, dass Fahrer und Fahrgäste auch dann entspannter unterwegs sind, wenn Fahrgäste mit Rollstuhl oder Rollator in die Bahn einsteigen müssen. „Wenn es darauf ankommt, helfen Fahrgäste oder auch ich selbst Fahrgästen mit Handicap beim Ein- und Aussteigen!“ Der Dank der in ihrer Mobilität eingeschränkten Fahrgäste ist ihm sicher. Andere ärgern sich jedoch: „Die Fahrgäste, die an der nächsten Haltestelle auf die Uhr schauen, haben in der Regel kein Verständnis für die daraus resultierende Verspätung.“
Thurairaj liebt seinen aus seiner Sicht gut bezahlten Beruf als Straßenbahnfahrer, auch wenn er ihm einen Wechselschichtdienst abverlangt. „Die Frühschicht fällt mir besonders schwer, weil ich dann um drei Uhr nachts aufstehen muss“, gibt Thurairaj zu. Doch das ist vergessen, wenn er an einem seiner freien Tage mit seiner Familie ganz gemütlich zu Hause frühstücken kann.
Dieser Text erschien am 12. Dezember 2015 in der Neuen Ruhr Zeitung
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