Vizekanzler Sigmar Gabriel und Ruhrbischof Franz-Josef Overbeck im Gespräch mit dem Akademie-Direktor Michael Schlagheck |
Mülheim. Über eine Million Flüchtlinge werden in diesem Jahr nach Deutschland kommen. Das macht vielen Menschen Angst. Ruhrbischof Franz-Josef Overbeck und Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel versuchten am Dienstagabend Ängste zu nehmen und auch die Chancen aufzuzeigen, die mit der Zuwanderung für die alternde deutsche Gesellschaft verbunden sein können.
"Es war eine gute Idee, den Leiter der Agentur für Arbeit, Frank-Jürgen Weise, auch zum Leiter des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge zu machen, weil die Agentur für Arbeit auch die Behörde ist, die genau aufschreiben kann, welches Bildungsprofil die Flüchtlinge haben", sagte Gabriel bei einer Diskussion in der Katholischen Akademie Die Wolfsburg. Vor 350 Zuhörern wies er darauf hin, dass viele Unternehmer die Chance der Zuwanderung erkannt und entsprechend aktiv geworden seien. "Sie bieten qualifizierten Flüchtlingen Betriebspraktika und zum Teil sogar Ausbildungsplätze an und stellen Mitarbeiter für ihr ehrenamtliches Engagement in der Flüchtlingshilfe frei. Das ist nicht selbstverstädnlich", machte der SPD-Chef und Vizekanzler deutlich.
Angesichts von 80 Millionen Deutschen, so Gabriel, relativiere sich die Zahl von einer Million Flüchtlinge, wenn man wisse, dass Länder, wie Jordanien und der Libanon inzwischen so viele Flüchtlinge aufgenommen hätten, dass diese ein Fünftel oder sogar ein Viertel der Bevölkerung ausmachten. Scharf ging Gabriel mit den wohlhabenden Staaten ins Gericht, die anders, als Deutschland, Zahlungen an das Flüchtlingshilfeswerk der Vereinten Nationen nur angekündigt, aber nicht geleistet hätten. So sei das UNHCR jetzt gezwungen, Gelder zu kürzen, die bisher in die Versorgung der großen Flüchtlingslager in der Krisenregion geflossen seien. Die unerträglichen Lebensbedingungen der dort lebenden Flüchtlinge hätten die Flüchtlingsströme nach Europa verstärkt.
Einig waren sich der Sozialdemokrat und der Bischof darin, "dass wir als Deutsche nicht nur die goldenen Seiten der Globalisierung, wie etwa die Erschließung neuer Exportmärkte für uns in Anspruch nehmen können, sondern jetzt auch die Herausforderungen ihrer Schattenseiten annehmen müssen." Gabriel zitierte unter anderem den 2004 verstorbenen Bischof von Hildesheim, Josef Homeyer, mit der Maxime: "Globalisierung muss Gerechtigkeit für alle bedeuten. Sie darf nicht nur Reichtum für Wenige bringen." Dem stimmte Ruhrbischof Overbeck zu und bekannte sich zur "Aufklärung als dem Instrument, das uns helfen kann mit den Flüchtlingen und Zuwanderern ins Gespräch zu kommen, mit denen wir keine gemeinsame religiöse Basis haben."
Das Bekenntnis zur Aufklärung hörte der SPD-Chef gerne, denn die, so Gabriel, sei Grundlage sozialdemokratischer Politik. Und mit einem Augenzwinkern fragte er den Ruhrbischof: "Sind Sie eigentlich schon Mitglied der SPD?" In diesem Sinne waren sich Overbeck und Gabriel einig, "dass die in den ersten 20 Artikeln des Grundgesetzes verankerten Menschenrechte und die Zehn Gebote" die Basis einer gemeinsamen Leitkultur in Deutschland sein müssten, um ein friedliches und am Ende sogar bereicherndes Zusammenleben der Alteingesessenen und der Neuankömmlinge zu ermöglichen.
Allerdings ging der Ruhrbischof, der zugleich auch Militär und Sozialbischof ist nicht nur auf Kuschelkurs mit der Politik. "Jetzt rächt es sich, dass die europäischen Regierungen die Europäische Union vor allem als Wirtschaftsraum betrachtet- und es dabei versäumt haben auch einen gemeinsamen Sozial- und Kulturraum Europa zu schaffen." Overbeck wies den westlichen Staaten eine Mitverantwortung für die Flüchtlingsströme aus Syrien und dem Irak zu. "Wenn man ein Regime beiseitigt, muss man auch wissen, was an seine Stelle treten soll", sagte der Bischof mit Blick auf die politischen Folgen des Irak-Krieges. Auch in Syrien, so Overbeck, "haben die westlichen Staaten viel zu lange dem massenhaften Sterben der Menschen zugesehen, statt rechtzeitig einzugreifen." Und angesichts der innenpolitischen Diskussion über Transitzonen warnte Overbeck vor einer menschenunwürdigen Unterbringung der Flüchtlinge. "Es darf nicht sein, dass Menschen, die gerade erst Krieg, Gewalt und Tod entkommen sind, sich bei uns am Ende wie in einem Konzentrationslager fühlen müssen." Für den fragwürdigen und irritierenden Vergleich zwischen Transitzonen und den Konzentrationslagern der NS-Zeit hat sich der Bischof inzwischen auf der Internetseite des Bistums entschuldigt.
Gabriel wiederholte seine Ablehnung der von den CDU und CSU geforderten Transitzonen. An der 800 Kilometer langen grünen Grenze zu Österreich exterritoriale und haftähnliche Transitzonen einzurichten sei absurd und löse das eigentliche Problem nicht. "Unser Problem ist nicht die Zahl der Flüchtlinge, sondern die kurze Zeit, in der sie jetzt massenhaft zu uns kommen. Darauf waren wir natürlich gar nicht vorbereitet", betonte Gabriel. Die notwendige Registrierung aller Flüchtlinge können die von der SPD geforderten dezentralen und in das deutsche Staatsgbiet integrierten Einreisezentren, aus Gabriels Sicht auf jeden Fall besser und humaner leisten. Er wies in diesem Zusammenhang darauf hin, "dass inzwischen nur noch 2,4 Prozent der zu uns kommenden Flüchtlinge aus den Balkanstaaten stammen, während gleichzeitig 400.000 abgelehnte Asylbewerber ohne Aufenthaltsstatus weiter in Deutschland sind und nicht in ihre Heimatländer zurückkehren." Für den Bundesminister und Parteichef steht angesichts des Flüchtlingszustroms fest: "Wir müssen auf jeden Fall wissen, wer sich wo in unserem Land aufhält." Gleichzeitig appelierte Gabriel an verunsicherte Bürger, ihre Ängste nicht bei Pegida, sondern bei Parteien, Gewerkschaften und Kirchen zu äußern. "Wir dürfen keine gesellschaftlichen Tabus aufbauen, damit der Druck im Kessel nicht zu groß wird," betonte Gabriel. Derweil warnte Bischof Overbeck vor der Illusion, Zäune, wie in Ungarn, könnten das Problem lösen. "Angesichts unserer Geschichte verbietet es sich für uns, neue Mauern aufzubauen", unterstrich der Ruhrbischof
Dieser Text erschien am 7. November 2015 im Neuen Ruhrwort
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