Ricarda Jörißen beim Anziehen der Stützstrümpfe |
Die meisten Patienten, die sie zwischen 6 und 13 Uhr aufsucht, sind zwischen 80 und 90. Doch an diesem Tag ist ihr erster Kunde ein geistig behinderter junger Mann, der mit regelmäßiger Betreuung, ansonsten aber selbstständig, in einer kleinen Wohnung an der Paul-Essers-Straße lebt. Bevor er mit der Straßenbahn zur Arbeit in eine beschützende Werkstatt der Fliednerstiftung fährt, verabreicht ihm Schwester Ricarda Medikamente. Schnell schaut sie sich noch eine kleine Verletzung an seinem Fuß an, die sie schon am Vortag mit einem Pflaster versorgt hat.
"Ich würde es ja gerne selbst machen"
Und dann geht es auch schon weiter zu einer älteren Dame. Ihr und einigen weiteren Senioren zieht die Mitarbeiterin des von Andrea und Martin Behmenburg betriebenen Pflegedienstes Kompressionsstrümpfe an. „Ich würde es ja gerne selber machen. Aber durch das Rheuma in meinen Fingern habe ich nicht mehr die Kraft dazu“, erzählt die aus Schlesien stammende Frau, ehe sie sich wieder ihrer Zeitungslektüre zuwendet und Schwester Ricarada schon auf dem Weg zur nächsten Patientin ist. Die Dame, die in einem alten Haus auf einem Reiterhof in Menden lebt, ist noch gar nicht so alt und geistig fit, aber durch eine Augenkrankheit fast blind. Schwester Ricarda und ihre Kollegen kommen dreimal täglich vorbei, um ihr Augentropfen zu geben.
"Ziehen Sie sich bloß warm an"
„Ziehen Sie sich bloß warm an und trinken sie viel, damit Sie sich bei diesem Wetter durch das ständige Raus und Rein nicht erkälten“, rät ihr nicht nur eine hochbetagte Frau, die Ricarda Jörißen an der Tilsiter Straße besucht, um ihren Blutzucker zu messen und Insulin zu spritzen. Weil die Dame schwerhörig ist, hat Schwester Ricarda den Schlüssel für ihre Wohnungstür. Dennoch schellt sie an, bevor sie die Wohnung betritt. Jörißen hat viele Wohnungstürschlüssel an ihrem Schlüsselbund. „Viele Menschen leben allein und fühlen sich sicherer, wenn sie wissen, dass wir ihren Wohnungsschlüssel haben und im Notfall nach dem rechten schauen können“, erzählt sie. Wer Hilfe braucht, muss Menschen vertrauen.
Die 25-jährige Altenpflegerin, die ursprünglich mal Tischlerin werden wollte, dann aber während eines Freiwilligen Sozialen Jahres beim Rettungsdienst des Deutschen Roten Kreuzes merkte, „dass es mir Freude macht, mit und für Menschen zu arbeiten, die meine Hilfe brauchen“, strahlt mit ihrer ruhigen und freundlichen Art dieses Vertrauen aus.
Auch von dem etwas ärgerlichen alten Herrn, den sie heute außerplanmäßig von einer Kollegin übernommen hat, lässt sie sich nicht aus ihrer Ruhe bringen, als sie ihm den schmerzenden Rücken einreibt. „Ich kann den Mann verstehen. Er hatte uns früher erwartet und ärgert sich jetzt darüber, dass er so lange auf mich warten musste“, sagt die Altenpflegerin verständnisvoll.
Wer mit Ricarda Jörißen unterwegs ist, muss sich an einen flotten Schritt gewöhnen. Rund 10 bis 20 Patienten mit ganz unterschiedlichem Pflegebedarf wollen in einer Schicht versorgt und etwa 60 Kilometer gefahren werden. „Einen Parkplatz zu finden, ist manchmal das größte Problem“, weiß Schwester Ricarda.
"Haben Sie gut geschlafen?"
Nächste Haustür. Ein pensionierter Studienrat mit Wasser in den Beinen bekommt Kompressionsstrümpfe angezogen. „Haben Sie gut geschlafen?“ fragt Jörißen. „Ja, das habe ich. Gut schlafen ist eines der Dinge, die noch sehr gut kann“, antwortet der Mann mit einem Anflug von Galgenhumor.
Die nächste alte Dame, die gleiche Dienstleistung und ihre Lebensweisheit: „Egal, wie es kommt, man darf seinen Humor nie verlieren!“ Mit dieser moralischen Schubkraft aufgerüstet, kann der nächste Auftrag kommen. Ricarda Jörißen wäscht eine Mittachtzigerin und kleidet sie an. Dann ein geübter griff unter die Achseln. Und schon sitzt die alte Dame in ihrem Rollstuhl und darf sich auf das Frühstück freuen, dass ihr Sohn zubereitet hat. So kann der Tag anfangen und weitergehen. Weiter geht es für Schwester Ricarda mit dem Anlegen von Kompressionsstrümpfen, einer Medikamentengabe, einer Wundversorgung, dem Anlegen eines Verbandes und dem Austausch eines Urinbeutels. Menschen, die aufgrund einer Blasenkrebs-Erkrankung einen künstlichen Blasenausgang benötigen, sind für Schwester Ricarda ebenso Alltag, wie Gespräche über Krankheits- und Lebensgeschichten. Die Altenpflegerin muss manchmal lachen, wenn sie an die oft gegensätzlichen Ratschläge denkt, die ihre manche Senioren mit auf den Weg geben: „Heiraten Sie bloß nicht.“ oder: „Heiraten Sie bloß und bekommen Sie Kinder, damit Sie im Alter nicht allein sind!“ Natürlich erlebt Schwester Ricarda auch Situationen, in denen ihr das Lachen vergeht.
Bewusster leben
Es sind Hausbesuche, wie die bei einem 37-jährigen Mann, der nach einem Verkehrsunfall querschnittsgelähmt ist oder bei einem hochbetagten und pflegebedürftigen Ehepaar, das ihr unter Tränen von der Krebserkrankung ihrer 49-jährigen Tochter erzählt, die Jörißen eines zeigen: „Man muss seine Lebenszeit nutzen. Denn schon morgen kann alles ganz anders sein.“
Ganz anders wurde das Leben auch für den 81-jährigen ehemaligen Personalleiter eines Industrieunternehmens. Erst erlitt er einen Schlaganfall, der ihn halbseitig lähmte und dann verlor er seine treu sorgende Ehefrau an den Krebs. „Wenn man früher alles selbst gemacht hat, muss man sich erst daran gewöhnen, dass man plötzlich auch für alltägliche Dinge Hilfe braucht“, sagt der Senior. Heute gehören die mit dem Besuch des Pflegedienstes verbundenen sozialen Kontakte und die noch mobile Freunde, die ihn hier oder dorthin mitnehmen, zu den Höhepunkten im Alltag des klassik-begeisterten Ex-Managers, der früher gerne im Kirchenchor seiner Heimatgemeinde St. Mariae Geburt gesungen hat.
Dieser Text erschien am 19, März 2016 in der Neuen Ruhr Zeitung
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