Dr. Stefan Thierse (33) lehrt seit 2013 als Politikwissenschaftler an der Universität Duisburg-Essen |
Die 54 Ratsmandate verteilen sich derzeit auf SPD, CDU, FDP, Grüne, MBI, Piraten, Bündnis für Bildung, Wir aus Mülheim, den Bürgerlichen Aufbruch, die Linke und die aus der AfD hervorgegangene Allianz für den Fortschritt (Alfa). Folgt man dem seit 2013 an der Universität Duisburg-Essen lehrenden Politikwissenschaftler Stefan Thierse, der sich als Forscher mit Parteien und Verfassungssystemen beschäftigt, wird es in Zukunft noch weniger Parteimitglieder, dafür aber mehr in Bürgerinitiativen und -bündnissen politisch aktive Bürger geben. „Es gibt keinen Vetrauensvorschuss mehr, nach dem Motto ,Die Politiker werden schon in meinem Sinne handeln.’ Hinzu kommt das Internet, das den Zugang zu Informationen erleichtert“, erklärt Thierse die Entwicklung. Der demografische Wandel tue sein Übriges. „Denn mit der zunehmenden Alterung der Gesellschaft und einem damit wachsenden Anteil von Menschen, die im Ruhestand sind, wird die Zahl der Bürger zunehmen, die Zeit, Engagement und Expertise für gesellschaftliche Belange aufwenden können.“ Auch wenn es künftig weniger Parteimitglieder und weniger Stammwähler geben wird, glaubt Thierse, dass das Modell der kompromiss- und koalitionsfähigen Volksparteien auch in Zukunft gebraucht wird. Er ist überzeugt: „Die Unionsparteien und die SPD sind ein Stabilitätsanker: Wenn man gegenseitige Koalitionsfähigkeit und die Fähigkeit zu vernünftigen Kompromissen erwarten kann, dann von diesen Parteien. Der Anspruch von Volksparteien, Politik nicht nur für eine spezielle Klientel, sondern für alle Bürger zu machen, ist unverändert aktuell.“
Doch wie erklärt er sich dann den aktuellen Sinkflug der alten SPD und den plötzlichen Aufstieg der noch jungen AfD. In seiner Analyse zeigt das Beispiel der AfD, „dass Zugangshürden, wie eine 2,5- oder 5-Prozent-Sperrklausel, mühelos überwunden werden können, wenn Newcomer mit ihren Themen auf eine Nachfrage in der Wählerschaft reagieren, die etablierte Parteien nicht (mehr) bedienen.“ Auch wenn Thierse einräumt, dass die technische Entwicklung der neuen Medien die politische Kommunikation verändert, sieht er die klassischen Formen der persönlichen Ansprache keineswegs als überholt an.
Denn Thierse sieht auch eine Kehrseite der digitalen und beschleunigten Kommunikation und Information. „Durch die digitalen Medien wird die Tendenz einer Aufregungsdemokratie verstärkt. Dies zeigt sich exemplarisch an der Debatte um die Asyl- und Flüchtlingspolitik oder den Ereignissen der Silvesternacht in Köln. Sachentscheidungen, die Analyse und das Abwägen von Alternativen kosten Zeit, im Unterschied zu Scheinlösungen und emotionalisierter Reaktion“, beschreibt der Politikwissenschaftler die Herausforderung, vor der die politischen Parteien künftig stehen werden. Doch es gibt auch eine ermutigende Nachricht. Denn Thierse sagt allen politisch aktiven Bürgern, dass sinkende Wahlbeteiligung, die Zersplitterung der Räte und Parteienverdrossenheit kein Naturgesetz sind.
Denn die Ergebnisse seiner Wahlforschung zeigen: „Wenn es aus Sicht der Wähler über etwas Relevantes zu entscheiden gilt, gehen auch mehr Wähler an die Urne. Auch als glaubwürdig eingeschätzte Kandidaten oder ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen zwei starken Kandidaten können mobilisierend wirken."
Dieser Text erschien am 11. Mai 2016 in der Neuen Ruhr Zeitung
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