„Er war ein guter Liberaler, einer von der Art, wie sie später nicht mehr an der Tagesordnung waren.“ So erinnert sich der Mülheimer Alt-Liberale Paul Gerhard Bethge (91) an den ehemaligen Außenminister und FDP-Bundesvorsitzenden Hans-Dietrich Genscher, der gestern im Alter von 89 Jahren gestorben ist.
„Genscher war in den 70er- und 80er-Jahren als Wahlkämpfer oft in Mülheim, als die Stadt als liberale Hochburg an der Ruhr galt. In einigen Stadtvierteln konnten wir damals bis zu 14 Prozent der Stimmen erringen“, berichtet der Alt-Bürgermeister. Bethge fand bereits in den frühen 50er-Jahren zur FDP, die er später 22 Jahre lang als Stadtverordneter (davon 15 Jahre lang als Fraktionsvorsitzender) im Rat der Stadt vertreten hat. Unvergessen bleibt ihm eine Begegnung, die er 1974 mit dem damaligen Bundesinnenminister Genscher im Handelshof hatte. „Das war damals auf dem Höhepunkt der Guillaume-Affäre und Genscher hat den Mitgliedern des FDP-Kreisvorstandes unter dem Siegel der Verschwiegenheit mitgeteilt, dass wir damit rechnen müssten, dass Willy Brandt in acht Tagen vom Amt des Bundeskanzlers zurücktreten werde.“
Für die frühere FDP-Fraktionsvorsitzende Brigitte Mangen steht nach Genschers Tod fest, „dass wir eine große Persönlichkeit verloren haben“. In den 70er- und 80er-Jahren, als noch ihr verstorbener Mann Rolf für die FDP im Rat der Stadt saß, so Brigitte Mangen, „war Genscher für uns die FDP.“ Oft hat sie ihn bei seinen Auftritten im Hotel Handelshof oder auf dem vom Volksmund so genannten FDP-Platz zwischen Kohlenkamp, Wallstraße und Löhberg erlebt. „Er war kein lauter Politiker, sondern einer, der ganz pragmatisch immer überlegt hat, wie etwas funktionieren könnte“, würdigt Mangen den Mit-Architekten der Deutschen Einheit. Sein Auftritt auf dem Balkon der Prager Botschaft im Herbst 1989: „Ich bin heute zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass Ihre Ausreise. . .“ hat sich in ihren Augen für immer in das kollektive Gedächtnis der Deutschen eingebrannt.
„Mir hat der aus Halle an der Saale stammende Genscher, der damals parlamentarischer Geschäftsführer der FDP-Bundestagsfraktion war, 1962 geholfen, als mir die USA aufgrund meiner früheren Mitgliedschaft in der Ost-CDU die Einreise verweigern wollten, obwohl ich damals ein Stipendiat der Fulbright-Stiftung war“, erinnert sich der ehemalige Bundestagsabgeordnete und Alt-Bürgermeister Wilhelm Knabe von den Grünen. Politisch ist Knabe dem Außenminister Genscher „dafür dankbar, dass er uns aus allen internationalen militärischen Konflikten herausgehalten hat.“
Für die ehemalige FDP-Bundestagsabgeordnete Ulrike Flach war Genscher „eine liberale Vaterfigur, die mich mit ihrer Weitsicht, aber auch mit Witz beeindruckt hat.“ Flachs ehemaliger Bundestagskollege Andreas Schmidt (CDU) hat Genscher in Bonn und Berlin „als einen sehr menschlichen und freundlichen Politiker ohne Allüren“ erlebt.
Dass Hans-Dietrich Genscher nicht nur als Wahlkämpfer den Wortwitz meisterlich beherrschte, bewies er unter anderen auch 1989, als ihn die Mülheimer Karnevalisten für seine Verdienste um das freie und offene Wort mit der Spitzen Feder auszeichneten. Drei Jahre später wurde ihm in der Stadthalle das Goldene Schlitzohr verliehen. Genscher brachte damals als Preisträger eine Rekordspende (50.000 Mark) für die Deutsche Herzstiftung auf. „Die Auszeichnung passt zu ihm. Denn Genscher war nicht nur klug, sondern auch schlitzohrig“, sagt Paul Bethge.
Dieser Text erschien am 2. April 2016 in der NRZ und in der WAZ
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