Dienstag, 22. Juni 2010

Warum Mülheim eine Checkliste für brrierefreies Bauen braucht.Ein Gespräch mit dem AGB-Vorsitzenden Alfred Beyer


Mülheim soll barrierefrei werden. Deshalb hat der Stadtrat schon im vergangenen Jahr beschlossen, dass alle öffentlichen Bauvorhaben barrierefrei realisiert werden müssen. In Kürze werden die Arbeitsgemeinschaft der in der Behindertenarbeit aktiven Organisationen (AGB) zusammen mit der Stadtspitze und dem kommunalen Immobilienservice eine neue Checkliste für barrierefreies Bauen vorstellen. Wie barrierefrei ist Mülheim und was bringt uns barrierefreies Bauen als Stadtgesellschaft. Darüber sprach ich für die NRZ mit dem selbst beinamputierten Vorsitzenden der AGB, Alfred Beyer.

Warum brauchen wir eine Checkliste für barrierefreies Bauen?
Mit ihrer Hilfe setzen wir die Vorgaben einer entsprechenden UN-Charta und des Landesgleichstellungsgesetzes um. Es geht letztlich um eine Infrastruktur, die es jedem ermöglicht überall hingehen zu können, sei es im Sportverein oder im öffentlichen Bereich. Wenn ein Kind zum Beispiel körperbehindert ist und eine bestimmte Schule besuchen möchte, muss die Schule alle baulichen und pädagogischen Rahmenbedingungen schaffen, die dafür nötig sind. Da kommt noch viel Arbeit auf unsere Gesellschaft zu.Frage: Sind viele Gebäude noch weit von Barrierefreiheit entfernt?Antwort: Allerdings. Es geht ja nicht nur um Barrierefreiheit für Körperbehinderte, sondern auch um Mobilität und Zugang für Blinde, Sehbehinderte und Gehörlose. Und da sind wir noch ziemlich weit hinten.Frage: Welche Maßstäbe setzt die Checkliste für barrierefreies Bauen? Antwort: Da wird zum Beispiel festgelegt, wie breit eine Tür sein muss, damit sie auch für einen Rollstuhlfahrer noch passierbar ist oder welche Steigung eine Rampe nicht überschreiten darf, damit sie für Rollstühle und Rollatoren nutzbar bleibt. Es geht um optische Kontraste bei Stufen, um den Einbau von Automatiktüren oder die Einrichtung von Behindertentoiletten. Es geht um taktile und akustische Leitsysteme, etwa in Form von Handläufen, die Blinden und Sehbehinderten die Orientierung erleichtern.

Warum musste die alte Checkliste von 1992 überarbeitet werden?
Die Checkliste ist verfeinert worden. Es wurde jetzt zum Beispiel festgelegt, dass automatische Türen und automatische Seifenspender vorhanden sein müssen oder dass Behindertentoiletten über eine automatische Wasserspülung und automatisch funktionierende Wasserhähne sowie über Präsenzmelder verfügen müssen, die das Licht automatisch an- und ausschalten, sobald die Toilette genutzt oder wieder verlassen wird. Die neue Checkliste trägt dem technischen Fortschritt Richtung und nimmt auch stärker als bisher die Bedürfnisse von Schwerst- und Mehrfachbehinderten in den Blick.

Müssen auch private Bauherrn barrierefrei bauen?
Die gesetzlichen Vorgaben, die die Checkliste praktisch umsetzt, gelten in erster Linie für öffentliche Gebäude. Es gibt aber inzwischen auch Vorschriften für private Bauherren. Wer ein Haus mit mehr als vier Wohnungen errichtet, muss mindestens eine Wohnung ebenerdig bauen und mit einer größeren Nasszelle sowie breiten, also barrierefreien Türen ausstatten.

Wird die Checkliste auch beachtet?
Nachdem der Rat jetzt beschlossen hat, ihre Vorgaben bei allen städtischen Baumaßnahmen zur Pflichtauflage zu machen: Ja. Aber bei den größeren Baumaßnahmen, wie etwa im Bürgeramt, in der Stadthalle oder beim Medienhaus wurde die Checkliste auch vorher schon berücksichtigt. In den Baugesprächen bin ich als Vertreter der AGB immer dabei. Doch von der Bauplanung bis zur Bauausführung vergehen oft zwei oder drei Jahre. Und dann ändert sich auf einmal alles. Deshalb fordert die AGB auch, in die Ausführungsplanung noch mehr als bisher einbezogen zu werden.

Sind diese Gebäude also absolut barrierefrei?
In der Stadthalle hat man sich trotzdem an bestimmten Dingen vorbeigedrückt. In der Stadthalle hatten wir beispielsweise Automatiktüren angemahnt. Weil ja alles billig sein muss,hat man damals dort zu schwache Automatiktüren eingebaut, die nach wie vor nicht funktionieren. Auch im Medienhaus ist nicht alles so umgesetzt worden, wie es auf der Basis der Checkliste ursprünglich vereinbart war. So gibt es im Aufzug keine horizontalen Bedienungselemente für Rollstuhlfahrer und auch die zunächst vorgesehenen taktilen Aufmerksamkeitsfelder vor den Aufzugtüren fehlen.

Gibt es ein Paradebeispiel für barrierefreies Bauen?
Das Bürgeramt ist weitgehend barrierefrei. Dort gibt es Automatiktüren und Rampen. Es gibt taktile Handläufe mit entsprechenden Pictogrammen für Blinde und Sehbehinderte. Es gibt Behindertentoiletten und auch die Aufzüge können barrierefrei genutzt werden.

Wer hat die Checkliste erstellt?
Sie wurde auf der Grundlage des NRW-Gleichstellungsgesetzes und der Landesbauordnung nach den DIN-Normen 18024 und 18025 von der städtischen Behindertenkoordinatorin Felicitas Bütefür, von Vertretern des Immobilienservice und von mir im Auftrag der AGB zusammengestellt.Frage: Ist barrierefreies Bauen teurer?Antwort: Wenn man von vorneherein barrierefrei plant, liegen die Baukosten maximal zwei Prozent höher.

Profitieren nur Behinderte vom barrierefreien Bauen?
Auf keinen Fall. Deshalb spricht man ja auch heute nicht mehr von behindertengerechtem, sondern von barrierefreiem Bauen, weil davon nicht nur Behinderte, sondern auch Menschen mit Kinderwagen und Rollatoren oder auch kleinwüchsige Menschen und Menschen profitieren, die aus gesundheitlichen Gründen in ihrer Mobilität eingeschränkt sind.

Hintergrund Barrierefreies Bauen soll Menschen mit Handicap mobil machen und zur gleichberechtigten Teilhabe am öffentlichen Leben befähigen. Der selbst körperbehinderte Vorsitzende der AGB hat aber auch am eigenen Leibe erfahren, dass es mit der Mobilität für Menschen mit Handicap oft nicht weit her ist, wenn sie auf Taxen oder öffentlichen Personennahverkehr angewiesen sind. Von Taxiunternehmen erhielt er zum Beispiel die Auskunft, dass nach 22 Uhr keine Fahrten mit rollstuhlgerechten Taxen möglich seien. Schlechte Erfahrungen haben Beyer und seine Leidensgenossen auch mit U-Bahnhöfen ohne Aufzug und mit wenig hilfreichen Bus- und Bahnfahrern gemacht, die sich gar nicht erst bemühten, Rollstuhlfahrern beim Ein- und Ausstieg zu helfen, sondern dies tatkräftigen Fahrgästen überließen oder, wenn ihnen ihr Bus zu voll erschien, die Rampen an den Eingangstüren nicht ausklappten, sondern den Rollstuhlfahrer an der Haltestelle stehen ließen und weiterfuhre

Dieser Text erschien am 22. Juni 2010 in der NRZ

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