Sonntag, 12. Mai 2019

Auf gutem Grund

"Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt." Diesen Satz haben die 61 Väter und 4 Mütter des Grundgesetzes bewusst an den Anfang unserer Verfassung gestellt, die am 23. Mai 2019 ihren 70. Geburtstag feiert. Nicht von ungefähr haben sie den Artikel 1 ebenso wie den Artikel 20 des Grundgesetzes, der unser Land zum demokratischen und sozialen Rechtsstaat erklärt mit der sogenannten Ewigkeitsklausel des Artikel 79 der Verfügbarkeit des Gesetzgebers entzogen.

Die Männer und Frauen, die vor 70 Jahren das Grundgesetz für die damals noch westdeutsche Bundesrepublik in Kraft setzten, hatten am eigenen Leibe erlebt wozu politischer Extremismus führen konnte. Der Christdemokrat Konrad Adenauer, der Sozialdemokrat Kurt Schumacher und der Freidemokrat Theodor Heuss, nach denen auch in Mülheim eine Brücke und zwei Plätze benannt sind, hatten die Verfolgung durch die Nationalsozialisten selbst erlitten. Sie waren durch die moralische Katastrophe von Diktatur, Krieg und Holocaust gezeichnet, aber auch motiviert ein neues, besseres und freieres Deutschland aufzubauen.

Der Sozialdemokrat Schumacher hatte als Reichstagsabgeordneter 1933 gegen Hitlers Ermächtigungsgesetz gestimmt. Der Christdemokrat Adenauer war von den Nazis als Oberbürgermeister Kölns seines Amtes enthoben und später inhaftiert worden. Der Liberale Heuss musste mit der Scham leben, als Reichstagsabgeordneter der Deutschen Staatspartei im März 1933 für das Ermächtigungsgesetz gestimmt zu haben, dass die Weimarer Reichsverfassung von 1919 außer Kraft setzte und den Weg in die Diktatur geebnet hatte.

Mit Blick auf die Verbrechen der NS-Herrschaft sprach Heuss als erster Bundespräsident später davon, dass es keine deutsche Kollektivschuld geben könne, aber das es eine deutsche Kollektivscham geben müsse. Es sollte bis zum 8. Mai 1985 dauern, ehe der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker den Tag, an dem der 2. Weltkrieg mit der Kapitulation der deutschen Wehrmacht zu Ende ging, auch für die Deutschen als "Tag der Befreiung" deklarierte und aus den Erfahrungen vor und nach 1933 die historische Lehre zog: "Ehren wir die Freiheit!"

Wer das heutige politische Geschehen betrachtet, weiß: Weizsäckers Forderung ist so aktuell wie damals. Die Tatsache, dass wir den 70. Geburtstag des Grundgesetzes feiern können, ist ein Anlass zur Freude und zur Dankbarkeit. Seinen Verfassungsvorgängern von 1849, 1871 und 1919 war keine so lange Zeitspanne beschieden. Es spricht für die Weitsichtigkeit und Qualität des Grundgesetzes, dass es auch nach der deutschen Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 als gesamtdeutsche Verfassung Bestand hatte und nicht durch eine neue Verfassung abgelöst werden musste.

70 Jahre Grundgesetz erinnern uns aber auch schmerzhaft daran, dass Deutschland, die historischen Chancen auf eine friedliche Demokratisierung und Parlamentarisierung vertan hat und zwei Weltkriege und eine Diktatur brauchte, ehe sich auch bei uns unter dem Druck der äußeren Verhältnisse eine parlamentarische Demokratie etablieren konnte. Auch heute müssen wir anerkennen, dass die verfassungsrechtlich verbrieften Grundrechte der Grundgesetz-Artikel 1-19 keine Selbstläufer sind, sondern immer wieder auf ihre soziale Wirklichkeit überprüft werden müssen. Sie bleiben so eine dauerhafte Herausforderung und Bewährungsprobe für unsere Demokratie, die täglich neu gestaltet und auch verteidigt werden muss. In diesem Zusammenhang muss man daran erinnern, dass das von der sozialdemokratischen Juristin Elisabeth Selbert gegen erhebliche Widerstände durchgesetzte Gleichberechtigungsgebot des Grundgesetz-Artikels 3 in der sozialen Wirklichkeit bis heute immer wieder neu durchgesetzt werden muss. Rückblickend erscheint es zum Beispiel unfassbar, dass es bis in die 1970er Jahre hinein dauerte, ehe Ehefrauen, ohne die Zustimmung ihres Ehemannes einen Arbeitsvertrag unterschreiben und ein Konto eröffnen konnten.

Und die Tatsache, dass sich Bundestag und Bundestag in der Gesetzgebung zuweilen gegenseitig blockieren, was der Präsident des Parlamentarischen Rates und erste Bundeskanzler Konrad Adenauer vorausgesehen hatte, zeigt ebenso wie die Tatsache eines durch Ausgleichs- und Überhangmandate aufgeblähten Bundestages, dass auch das Grundgesetz seine strukturellen und reformbedürftigen Schwächen hat. Auch in diesem Punkt hatte Konrad Adenauer Weitsicht bewiesen, in dem er vor 70 Jahren die Einführung des wahlkreisbezogenen Mehrheitswahlrechtes, einen auf 250 Abgeordnete begrenzten Bundestag und als Bundesvertretung der Länder einen Senat nach amerikanischen Vorbild gefordert hatte, sich damit aber leider nicht durchsetzen konnte.

Aus meine Vortrag beim Rotary Club Mülheim an der Ruhr vom 6. Mai 2019



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