Freitag, 24. Mai 2019

Ansichten eines Zeitzeugen


Dr. Wilhelm Knabe
Am 70. Geburtstag des Grundgesetzes blättert der Zeitzeuge Wilhelm Knabe (95) in unserer Verfassung. Als Wissenschaftler und Politiker war der Nestor der Grünen nicht nur Zeitzeuge, sondern auch eine aktive Person der Zeitgeschichte. Was fällt dem gebürtigen Sachsen, der 1967 in Mülheim seine zweite Heimat fand, ein, wenn er das Grundgesetz liest?

Artikel 1: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“

Knabe: Das ist ein Ideal, ein paradiesischer Zustand. Der Respekt vor dem Leben ist der höchste Wert, ohne den keine menschenwürdige Gesellschaft existieren kann. Ich habe als Soldat der Wehrmacht und als Sohn eines Pfarrers, der vergeblich versuchte, seelisch kranke Insassen einer Anstalt vor der Euthanasie zu bewahren und der an diesem gescheiterten Versuch zerbrochen ist, das Gegenteil von Menschenwürde erlebt.

Artikel 3: „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.“

Knabe: Ich habe erlebt, was fehlende Rechtsgleichheit bedeutet, als in während der 1960er die USA bereiste, wo Schwarze in den Südstaaten nur hinten im Bus Platz nehmen durften, während die besseren Plätze im vorderen Teil des Busses, auf denen man mehr frische Luft bekam, den Weißen vorbehalten waren. Aber ich mache mir nichts vor. Auch bei uns hängt es nicht zuletzt von den persönlichen Geldmitteln ab, ob man sein Recht nicht nur hat, sondern auch bekommt.

Artikel 4: „Die ungestörte Religionsausübung ist gewährleistet.“

Knabe: Alleine von einem Event zum nächsten zu springen. Das reicht nicht, um unsere Gesellschaft zusammenzuhalten. Aber die Religionsgemeinschaften können nur durch ihr eigenes Vorbild Menschen zu der Überzeugung bringen: Das ist eine gute Sache. Da möchte ich dabei sein und mitmachen.

Artikel 5: „Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten.“

Knabe: Vieles lässt sich nur dann ändern, wenn viele Menschen darauf bestehen, dass es sich ändert. Deshalb sehe ich die Fridays-for-Future-Bewegung als den Aufbruch einer ganzen Generation, die uns alle dazu zwingt mehr an die Zukunft unseres Planeten zu denken und unser politisches Handeln darauf hin auszurichten.

Artikel 6: „Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung.“

Knabe: Mit großem Erschrecken sehe ich, dass viele junge Leute heute keine Familien mehr gründen, weil sie keine berufliche Sicherheit, sondern nur zeitlich befristete Verträge bekommen. Auch die ständige Verfügbarkeit, die ihnen von immer mehr Arbeitgebern abverlangt wird, behindert das Ehe- und Familienleben.

Artikel 13: „Politisch Verfolgte genießen Asyl.“

Knabe: Als politischer Flüchtling aus der DDR habe ich 1959 am eigenen Leibe erlebt wie schwer es ist, wenn man ohne Arbeitsstelle ist und Einheimischen gegen die Zugezogenen zusammenhalten. Das Asylrecht ist für ein geordnetes Staatswesen von großem Nutzen, weil es Menschen zur Toleranz erzieht. Der Anspruch auf Asyl muss individuell und nach bestem Wissen und Gewissen auf der Basis von Fakten geprüft werden. Starre Regeln helfen nicht. Wenn wir Flüchtlinge in die unmenschlichen Lager nach Libyen zurückschicken, wird das auf unsere eigene Gesellschaft abfärben, in dem die Menschen dann immer skrupelloser miteinander umgehen. Nicht der Fitteste muss in unserer Gesellschaft gewinnen, sondern der, der solidarisch mit anderen zusammenarbeitet.

Artikel 21: „Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit.“

Knabe: Die Grünen haben den Umweltschutz zum politischen Thema gemacht und als eine wichtige gesellschaftliche Aufgabe in die Parlamente und Verwaltungen getragen. Aber Parteien sind kein Selbstzweck. Sie müssen ihren Kern bewahren. Die Demokratie lebt von Wahlen und vom regelmäßigen Regierungswechsel, damit keine Partei dazu verführt wird, ihre Anhänger besser zu bedienen als andere Bürger. Gute Karrieren zu machen, ist nicht ehrenrührig, wenn diese nicht durch unfaire Mittel und den Ausschluss bestimmter Menschen befördert werden.



Artikel 24: „Der Bund kann durch Gesetz Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen übertragen.“

Knabe: Ich hoffe, dass die Vernunft auf unserem Kontinent ausreicht, um die Europäische Union zu erhalten statt sie weiter zu zerstören. Eine große Staatengemeinschaft kann in unserer Welt mehr erreichen als ein einzelner Staat. Ob Umweltzerstörung oder demografischer Wandel. Wir haben viele Großbaustellen, die wir gemeinsam angehen müssen. Egoismus und Nationalismus können langfristig nur zum Zusammenbruch führen. Wir brauchen Bildung und Solidarität, um das Raumschiff Erde sicher durchs All zu steuern.

Artikel 38: Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.

Knabe: Als Bundestagsabgeordneter der Grünen trat ich 1989 und 1990 dafür ein, dass die Einheit Deutschlands ein erstrebenswertes Ziel sei. Das sahen viele Kollegen in meiner Fraktion damals anders, weil sie Angst vor einem neuen deutschen Nationalismus hatten. Doch mit Nationalismus konnte man damals in Deutschland keinen Hund hinter dem Ofen hervorlocken. Doch das ist inzwischen leider wieder anders.

Zur Person: Dr. Wilhelm Knabe ist Forst und Umweltwissenschaftler. Der Vater von vier erwachsene Kindern ist verwitwet. 1978 gehörte er zu den Mitbegründern der Grünen in Nordrhein-Westfalen. Von 1979 bis 1984 agierte er als Parteisprecher der Grünen auf Landes- und Bundesebene. Von 1987 bis 1990 gehörte er dem Deutschen Bundestag und von 1994 bis 1999 dem Rat der Stadt Mülheim an. Neben seinem Ratsmandat bekleidete er damals das Amt des 2. Bürgermeisters. Heute ist Knabe Ehrenvorsitzender der Grünen.

Dieser Text erschien am 23. Mai in NRZ und WAZ

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