Samstag, 3. November 2018

Reisen bildet

Der kleine Mann neben mir in der S-Bahn erlebt ein großes Abenteuer. Er kommt gerade aus dem Kindergarten, wie er mir erzählt, und macht mit seiner Mutter einen Ausflug in die Nachbarstadt. „Fahren wir schnell?“ fragt der Knirps seine Mama. „Ja, wir fahren schnell“ antwortet sie. „Ganz schnell?“ will es der kleine Fahrgast genau wissen. „Der Regionalexpress, der uns eben überholt hat, fährt noch etwas schneller“, bremst die Frau das fantastische Geschwindigkeitsgefühl ihres kleinen Sohnemannes. „Aber warum halten wir immer an?“, hakt der eilige Steppke nach. „Weil andere Leute auch auf die S-Bahn warten und einsteigen wollen, so wie wir eben!“ erklärt die Mutter dem Ungeduldigen mit aller Seelengeduld die Mitnahmeeffekte des öffentlichen Personennahverkehrs. „Das ist ja nett von der Bahn“, findet der kleine Ausflügler. Nach drei weiteren Haltestellen fühlt sich der kleine Mann schon wie auf einer Weltreise und fragt seine Mama: „Jetzt sind wir schon so lange gefahren. Sind wir denn immer noch in Deutschland?“ Die Mutter lässt ihren neugierigen Nachwuchs wissen: „Natürlich. Deutschland ist doch groß!“ Daraufhin setzt der kleine Mann mit Mütze seine Fragestunde fort: „Ist denn auf der ganzen Welt Deutschland?“ Die mütterliche Lehrmeisterin gibt alles und holt zum globalen Rundumschlag aus: „Nein, so groß ist Deutschland auch wieder nicht. Die Welt ist noch viel größer. Und auf ihr gibt es ganz viele unterschiedliche Länder“, öffnet sie den Horizont ihres Sohnes und beeindruckt ihn nachhaltig. Das macht dieser mit seinem Kommentar: „Das ist ja echt cool!“ deutlich. Seine Erkenntnis zeigt, dass er als kleiner Mann auf seiner kleinen S-Bahn-Weltreise in die Nachbarstadt mehr verstanden hat als so manche Erwachsenen, die weniger fragen und erfahren wollen als er und deshalb halbgescheit durch die Weltgeschichte reisen.

Dieser Text erschien am 3. November 2018 in der NRZ

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