"Warum willst du denn ausgerechnet Hausärztin werden. Da arbeitet man doch viel und verdient vergleichsweise wenig?" Solcherlei Fragen hat die 25-jährige Medizinstudentin Christina Spangenberg immer wieder von Kommilitonen zu hören bekommen. Doch das lässt sie nicht an ihrem Entschluss zweifeln, "dass ich lieber als Hausärztin in einer Gemeinschaftspraxis als in der Hierarchie eines Krankenhauses arbeiten möchte, weil man als Hausärztin Patienten nicht nur abschnittsweise, sondern langfristig behandeln und begleiten kann." Doch nur 15 von 160 Semesterkollegen haben sich entschlossen, im letzten Drittel ihres Praktischen Jahres ein hausärztliches Praktikum zu absolvieren.Seit gut zwei Wochen geht Spangenberg nur noch mittwochs zur Universität, um an ihrer Doktorarbeit zu feilen und sich aufs Examen vorzubereiten. An den anderen Tagen ist ihr Arbeitsplatz die Praxis von Uwe Brock.
Auch an diesem Tag zieht sie sich im Aufenthaltsraum ihren weißen Kittel über. Nur das Emblemes ihrer Universität Duisburg-Essen zeigt, dass es sich hier noch nicht um die Ärztin, sondern um die Medizinstudentin Spangenberg handelt. In einer ersten Besprechung erörtert sie mit ihrem Chef, welche Blutwerte bei welchem Patienten abzunehmen sind und welche Laborwerte vom Vortrag bereits vorliegen.Patientenbriefe und Karteikarten sucht man vergebens. Alles läuft über den Computer. Jeder Patient hat seine eigene Datei. Was für den Laien auf dem Bildschirm wie die Kurven einer Statistik aussieht, ist tatsächlich die elektronische Dokumentation von Blutdruck- oder Blutzuckerwerten. "Daran muss man sich erst mal gewöhnen. Jede Praxis hat ihr eigenes System", sagt Spangenberg. Jeder ärztliche Handgriff muss im PC dokumentiert werden.Die Medizinstudentin erinnert sich noch an ihre ersten Arbeitstage in der Praxis, als sie erst mal lernen musste, wie Rezepte auszufüllen und Verordnungen zu formulieren sind.
Während Brock die ersten akuten Notfälle des Tages verarztet, schickt er seine PJ-lerin auf Hausbesuch.Die Tür öffnet sich in der Seniorenwohnung des Sommerhofes. Bei einem bettlägerigen Mann, der erst vor kurzem nach einem Schlaganfall das Krankenhaus verlassen hat, überprüft sie Blutdruck- und Blutzuckerwerte, testet mit einem kleinen Gerät, das für den Laien wie eine elektronische Wäscheklammer aussieht, den Sauerstoffgehalt des Blutes und hört die Lunge ab. Alles in Ordnung. Doch die Frau des 82-Jährigen macht sich Sorgen, weil ihr Mann nicht essen will. "Wenn Sie nichts essen wollen, kann es mit Ihren Kräften auch nicht besser werden", redet Spangenberg ihm gut zu. Noch einmal holt sie ihr Stetoskop heraus, dessen Gebrauch ihr offensichtlich schon in Fleisch und Blut übergegangen ist, um die Darmgeräusche abzuhören und organische Gründe für seine Appetitlosigkeit auszuschließen. "Der Darm ist aktiv", stellt sie fest und vermutet psychische Ursachen. Ein Thema für die nächste Besprechung mit Dr. Brock. Später wird er sie beauftragen, mit dem Neurologen des Mannes zu telefonieren. Vorläufiges Fazit: Die verordneten Antidepressiva müssen erst Mal anschlagen, um mit der Stimmung auch den Appetit wieder zu heben.Die nächste Patientin wartet im Pflegezentrum Bonifatius. Weil die an Demenz erkrankte Dame gelegentlich Herzrhythmusstörungen hat, überprüft Spangenberg mit Hilfe der vielseitigen "elektronischen Wäscheklammer" die Frequenz des Herzschlages und den Sauerstoffgehalt des Blutes. "Alles in Ordnung", stellt sie fest und fragt: "Wie ist es mit der Luft?" "Gut", antwortet die Seniorin, der das Lächeln und der aufmunternde Händedruck der Studentin sichtbar gut tut.Zurück in der Praxis muss der Computer mit den neuesten Patientendaten gefüttert werden. "Das ist noch ungewohnt für mich", sagt Spangenberg mit einem Lächeln, als sie für diese Arbeit im Behandlungszimmer auf dem Stuhl ihres Chefs Platz nimmt. Jetzt sieht sie wirklich aus wie Frau Dr. Spangenberg. Ansonsten steht sie bei Patientengesprächen meistens hinter ihrem Chef.
"Meine Aufgabe ist es, zuzuhören und zuzusehen und mir so praktisches Wissen passiv anzueignen", sagt sie bescheiden. Doch sie tut noch mehr. Sie nimmt nicht nur Blut ab oder misst den Blutdruck, sie führt auch kleinere Vorgespräche, um Symptome und erste Diagnosevermutungen aufzunehmen. Nach jeder Behandlung bespricht Brock mit ihr den Fall: "Was halten Sie davon? Welche Therapieschritte wären aus Ihrer Sicht sinnvoll?" Er genießt es, seine Motivation und sein Wissen an die Kollegin weiterzugeben und gleichzeitig auch von ihrem frischen akademischen Wissen zu profitieren. "Ich möchte mir später nicht sagen lassen: Ihr habt nichts getan", erklärt Brock mit Blick auf den prognostizierten Ärztemangel. Obwohl er selbst noch 19 Jahre von der Rente entfernt ist, denkt er jetzt schon daran, "dass ich mein Lebenswerk ja später auch einmal in gute Hände legen will."Und wie reagieren die Patienten auf die Medizinstudentin im Behandlungzimmer? "Bis jetzt hat mich noch niemand raus geschickt", sagt Spangenberg lakonisch und fügt hinzu: "Manche erkundigen sich sogar nach dem Stand meines Studiums." Ilse Fiebich spricht wohl für viele Patienten, wenn sie sagt: "Das muss ja auch sein. Irgendwo müssen die Ärzte ja ausgebildet werden. Akademiker sollten während ihres Studiums noch viel mehr in der Praxis lernen."Spangenberg hat die medizinische Praxis während ihres Studiums bereits in etlichen Monaten kennen gelernt. Sie hat in Kliniken in der Chirurgie, aber auch in der Inneren Medizin und in der Anästhesie gearbeitet. Auch in einer anderen Hausarztpraxis und in der Krankenpflege hat sie hospitiert. Was der Hauptunterschied zwischen der klinischen und der hausärztlichen Praxis ist? "In der hausärztlichen Praxis muss man die Palette seiner Diagnoseinstrumente herunterschrauben. Da arbeitet man weniger mit Geräten und muss mehr in Gesprächen herausfinden, was dem Patienten fehlt." Brock bestätigt: "Die kommunikativen Fähigkeiten sind für einen Hausarzt entscheidend, um sich in einen Patienten hineinzuversetzen und nachempfinden zu können, worauf bestimmte Symptome zurückzuführen sein könnten.
Und wie geht die angehende Ärztin mit dem täglichen Leid um, mit dem sie von Berufs wegen konfrontiert wird? "Da wächst man rein. Das muss jeder mit sich ausmachen", sagt sie und spricht von einer Balance zwischen Nähe und professioneller Distanz zwischen Arzt und Patient. Doch sie gibt zu: "Manches bleibt auch im Kopf hängen." Und dabei denkt an eine Frau, die sie während eines klinischen Praktikums kennen lernte und die mit 35 an Eierstockkrebs starb. "Dann tut es gut, wenn man Freunde und Familie hat, die einen auffangen können."
Dieser Text erschien am 27. April 2010 in der NRZ
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