Sonntag, 12. Juli 2015

Ein Mann mit Aussicht: Dustin Radde

Dustin Radde ist ein angenehm entspannter Zeitgenosse. Seine Freundlichkeit ist nicht aufgesetzt, sondern kommt ganz natürlich rüber. Da ist es gleichgültig, ob er gerade mit dem Mann von der NRZ über seine Arbeit spricht oder zwischendurch mal eben kleine und große Badegäste mit Bällen, Schwimmbrettern oder Liegen versorgt.

Sein Arbeitsplatz ist das Naturbad in Styrum. Seit vier Jahren ist der gelernte Sport- und Fitnesskaufmann hier Schwimmmeister. „Es ist schon schön, hier arbeiten zu können“, sagt der 22-Jährige, während er von einem Holzturm aus seinen Blick über die rund 1000 Quadratmeter Wasserfläche schweifen lässt. Auch wenn hier zwischen planschenden Kindern und sich langsam füllenden Liegewiesen alles nach Urlaub aussieht, spürt man sofort, dass dieser bei Sonnenschein paradiesische Ort nur deshalb so angenehm ist, weil hier ganz irdisch engagierte Mitarbeiter ihre Augen überall haben und überall mit anpacken.

„Man muss einen Blick für Kleinigkeiten entwickeln und sehr konzentriert sein“, beschreibt Radde seine Arbeit auf dem Holzturm und am Beckenrand. Wohin läuft das von seinen Eltern unbeobachtete Kleinkind? Ist die kleine Rangelei da hinten ein fröhliches Spiel oder ein ernster Streit, in den man eingreifen muss. Wird auch niemand ins Schwimmbecken geschubst oder springt von der Seite rein? Und rutscht auf der Wasserrutsche wirklich jeder einzeln und nacheinander in die Fluten oder besteht Verletzungsgefahr?

„Wir mussten hier schon mal eine junge Frau aus dem Wasser holen, die beim Sprung vom 10 Meter-Turm auf dem Rücken aufkam, sich aber trotz anfänglich großer Schmerzen Gott sei Dank nicht verletzt hatte“, erinnert sich Radde an einen Einsatz. Ein anderes Mal musste er einen Jungen aus dem Sprungbecken holen, der vom Turm gesprungen war, obwohl er gar nicht schwimmen konnte. Oder er hat einen Mann verarztet, der versucht hatte, sein Eintrittsgeld zu sparen, in dem er über den Zaun des Naturbades kletterte und sich dabei den Arm aufriss.

„Kein Tag ist wie der andere und man kommt immer mit ganz unterschiedlichen Menschen zusammen“, erklärt Radde, was ihn an seiner Arbeit für die PIA-Stiftung fasziniert. Denn die Paritätische Initiative betreibt das völlig chlorfreie Naturbad im Auftrag des Mülheimer Sportservice (MSS). Ein Mitarbeiter der PIA, der regelmäßig das Mülheimer Fitnessstudio besuchte, in dem Radde früher lernte und arbeitete, war es auch, der ihn davon überzeugte vom überdachten Trainingsraum ins Freibad zu wechseln.

Radde, der erst mal einen Rettungsschwimmschein bei der Deutschen Lebensrettungsgesellschaft (DLRG) machen musste, hat diesen Wechsel nicht bereut. „Die Trainingsabläufe in einem Fitnessstudio sind auf die Dauer doch auch etwas monoton und man hat es in der Regel immer mit den Besuchern zu tun“, findet er. Das kann er von seinem heutigen Arbeitsplatz nicht unbedingt sagen. In der Schwimm-Saison zwischen Mai und September planschen hier Kinder und Jugendliche. Studenten und Rentner ziehen ihre Bahnen. Oder ganze Familien genießen zwischen Wasser und Wiese die Leichtigkeit des Seins.

„Ich weiß nicht, ob ich diese körperlich sehr fordernde Arbeit bis zur Rente machen kann, aber im Moment kann ich mir nichts schöneres vorstellen. Und alles andere entscheide ich, wenn es so weit ist“, sagt der Mann, dessen rotes T-Shirt den Schriftzug „Aufsicht“ trägt. Wenn der 22-Jährige keine Shorts, T-Shirt und Sonnenbrille trägt, sondern in ganz normalem Straßen-Zivil durch die Stadt geht, wird er öfter mal angesprochen: „Sie kenne ich doch, aber woher?“ Kein Wunder. Denn je nach Wetterlage kommen in einer Saison zwischen 36 000 und 50 000 Menschen zum Schwimmen, Entspannen oder Feiern ins Styrumer Naturbad.

Doch sie sehen nur, was Radde am Schwimmbecken oder auf seinem Holzturm tut. Das, was er als wirtschaftlicher Leiter des Naturbades in Sachen Buchhaltung, Statistik, Personalplanung und Materialbeschaffung leistet, wenn das Freibad um 19 oder 20 Uhr geschlossen hat, sehen sie nicht.

Auch wenn seine Kollegen und er morgens ab 5.30 Uhr die Schwimmbecken reinigen oder im Herbst und Winter diverse Reparaturen erledigen, ist kein Badegast dabei. In der Saison arbeitet Radde an sieben Tagen in der Woche. Dann hat er nur selten Zeit, um seine geliebten Großeltern zu besuchen oder mit seinem Großvater als Youngster in einer Alt-Herren-Mannschaft zu kicken. Auch der Urlaub kann nur im Herbst und Winter stattfinden. Zuletzt zog es ihn im letzten Dezember zum Bade- und Kultururlaub ins sonnige Mexiko. Und dort konnte er dann mal ganz entspannt am Wasser liegen, sich bedienen lassen und die Sonne genießen, ohne mal eben irgendwo eingreifen oder mit anfassen zu müssen.


Dieser Text erschien am 4. Juli in der Neuen Ruhr Zeitung

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