Montag, 19. Mai 2014

Warum erleiden nicht nur politische Parteien heute zunehmend einen Bedeutungsverlust und wie lässt sich diesem Trend entgegenwirken? - Ein Gespräch mit dem Pfarrer von St. Barbara Manfred von Schwartzenberg


Als Pfarrer der katholischen Kirchengemeinde St. Barbara ist Manfred von Schwartzenberg Vertreter einer gesellschaftlichen Institution, die früher sehr vielen Menschen heilig war. Darüber, dass das zumindest in der Breite der Gesellschaft heute nicht mehr so ist, macht sich der ehemalige Stadtdechant, der am 20. Mai 2014 seinen 70. Geburtstag feiert, keine Illusionen.

Mit Blick auf das Bürgerbarometer der NRZ, das in seinen Zahlen und Aussagen eindrucksvoll und alarmierend zugleich einen zunehmenden Bedeutungsverlust der etablierten Parteien dokumentiert, sieht er Gemeinsamkeiten und gemeinsamen Handlungsbedarf.

"Menschen wollen das Gefühl haben, das jemand für sie da ist, ihre Sorgen ernst nimmt und ihre Interessen vertritt", beschreibt der Ehrenstadtdechant die gemeinsame Herausforderung, vor die er nicht nur politische Parteien und Kirchen, sondern auch andere gesellschaftlich relevante Akteure, wie Gewerkschaften, Vereine und auch die Medien gestellt sieht.

"Ich kenne Familien, die auch heute noch in klassischen Milieus leben, die sich in Sportvereinen, in der Gemeinde oder auch in Parteien engagieren. Aber das ist nur noch ein Bruchteil der Menschen", beschreibt von Schwartzenberg die gesellschaftliche Entwicklung. "Wir leben heute in einer sehr individualisierten und sehr mobilen Gesellschaft", erklärt der Seelsorger den sozialen Trend der Gegenwart, der klassische Institutionen und Bindungen an Bedeutung verlieren lässt. Ob zum Beispiel Ruhrbania die Stadt attraktiver macht oder nicht, ist aus seiner Sicht für die Mehrheit der Menschen "nicht ihr Ding", sondern "nur für wenige wirtschaftlich orientierte Menschen von Interesse, die sich fragen, wie sich der Standort Mülheim weiterentwickeln kann". Der eigene Arbeitsplatz und das eigene Einkommen, der Sportverein oder der Schrebergarten liegen dem klassischen Otto-Normal-Verbraucher in seinen Augen näher als große kommunalpolitische Projekte.

"Wir müssen sehen, dass die Menschen heute wesentlich mobiler geworden sind und dass sich ihr Lebensraum eben nicht mehr nur auf die Stadt begrenzt", sagt der Geistliche. Dieses Phänomen wirkt sich aus seiner Sicht nicht nur auf das Wahlverhalten, sondern auch auf den Gottesdienstbesuch, den Einkauf oder die Freizeitgestaltung aus.

Die meisten Menschen sieht er heute eher als politisch uninteressiert und auf sich selbst bezogen an, frei nach dem Motto: "Hauptsache, mir geht es gut und: Ich bin der Mittelpunkt."

Den Ausgang des Bedeutungsverlustes, den gesellschaftliche Institutionen heute erleiden, erkennt er in einem Werteverfall, der mit der Auflösung der klassischen Familienstrukturen begonnen hat. "Denn die Familien, in denen Menschen gemeinsam Verantwortung füreinander übernehmen und Leben weitergeben, ist die Keimzelle unserer Gesellschaft", betont Schwartzenberg.

In einer Zeit, in der aus seiner Sicht "immer mehr öffentlich relevante Dienstleistungen privatisiert und kapitalisiert werden und ein Ausverkauf der Gesellschaft droht", wundert es ihn nicht, dass auch Bürger sich immer stärker auf ihre individuelle und materielle Lebenswirklichkeit konzentrieren und ohne Rücksicht auf religiöse, politische oder soziale Bindungen dort hingehen, wo sie am schnellsten ihre individuellen Bedürfnisse erfühlt sehen, egal, ob es um den Konsum oder um ein politisches Anliegen geht. Einerseits den Niedergang der Innenstadt zu beklagen, aber andererseits auf der grünen Wiese einzukaufen und Einkaufszentren zu errichten. Darin sieht Schwartzenberg einen Widerspruch, in dem sich nicht nur Politiker, sondern auch Bürger und Kunden verfangen.

Sind wir also schon in der Egoismus-Hölle angekommen? Ganz so kulturpessimistisch will es Schwartzenberg dann doch nicht sehen. Allein schon die Existenz eines Centrums für bürgerschaftliches Engagement zeigt ihm, "dass es auch heute Menschen gibt, die bereit sind, sich zu engagieren und anderen Menschen, denen es vielleicht nicht so gut geht, unter die Arme zu greifen".

Nicht nur die Öffentlichkeitsarbeiter der Parteien sieht er in der Pflicht, "in einer Zeit, in der auch die Informationen immer schneller werden, neue Wege der Kommunikation zu finden und die Leute dort abzuholen, wo sie stehen".

Wie das konkret aussehen kann, zeigt er an einem Beispiel aus der Gemeinde-Caritas. Kürzlich bekam er per E-Mail den Notruf einer alleinerziehenden Altenpflegerin, die aufgrund einer familiären Notlage plötzlich ihre Stromrechnung nicht mehr bezahlen konnte. Eine ehrenamtliche Mitarbeiterin besuchte die Frau zuhause, sprach mit ihr und machte sich ein Bild von der konkreten Notlage. Am Ende konnte der Frau mit einer Finanzspritze aus den von Gemeindemitgliedern gespendeten Geldern der Caritas aus der Not herausgeholfen werden.

Ob die Frau künftig in den Gottesdienst kommt, ist von Schwartzenberg dabei nicht so wichtig wie die positive Vorbildwirkung, die eigene Botschaft - in dem Fall, die der christlichen Nächstenliebe - nicht nur verkündet, sondern auch in die Tat umgesetzt zu haben. Aus seiner Gemeinde weiß der Pfarrer: "Wo gleichgesinnte und gutwillige Menschen sich begegnen, miteinander sprechen, sich zuhören und am Ende gemeinsam aktiv werden, kann Vertrauen und noch viel mehr Gutes entstehen".

Wie politische Parteien aber auch Vertrauen verspielen und so den eigenen Bedeutungsverlust befördern können, weil sie an den Bedürfnissen der Bürger vor Ort vorbeiregieren, hat Schwartzenberg in Eppinghofen gesehen. "Dieser Stadtteil, in dem Menschen so vieler Nationen zusammenleben, bräuchte dringend ein Schul- und Bildungszentrum. Hier hat man erst mit den Leuten gesprochen und ihnen viel versprochen und dann nichts eingehalten, weil man das Geld wegschwimmen sah. Hier wurden die Bedürftigen ohne Rücksicht auf die langfristige Entwicklung des Stadtteils einfach stillgestellt", beklagt der Pfarrer der Mülheimer Nordgemeinde, zu der auch Eppinghofen gehört.

Deshalb wundert es ihn auch nicht, dass sich in diesem Stadtteil neue Bürgerbündnisse gebildet haben, auch wenn er nicht genau weiß, ob ihre Gründung die Probleme lösen kann. Als politisch denkender Mensch weiß der Pfarrer aus Dümpten aber auch: "Natürlich ist Demokratie immer auch ein Kampf der Interessen und man wird es nie allen recht machen können. Aber am Ende steht und fällt es immer mit den Menschen, die bereit sind, sich zu engagieren und mit anzupacken".
 
Dieser Text erschien am 17. Mai 2014 in der Neuen Ruhr Zeitung

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