Tatsächlich bietet sich der gut zweistündige Stadtrundgang, bei dem Anne Kebben, auf den Spuren der Mülheimer Nazi-Zeit als ein bedrückend lebendiger Beitrag zum Geschichtsunterricht an. Denn die gut vorbereietete Anne Kebben konfrontiert ihre Zeitreisenden im Laufe von gut zwei Stunden mit vielen Einzelschicksalen, Daten, Fakten, Zeitzeugenberichten und Bildern aus der Zeit des Dritten Reiches.
Eigentlich soll der Rundgang der MST zu den „Stolpersteinen“ führen, die in der Innenstadt an Menschen erinnern, die von den Nationalsozialisten ermordet worden sind, die zum Beispiel Juden oder politische Gegner der NS-Diktatur waren. Da überrascht es, dass der Stadtrundgang mit Anne Kebben ausgerechnet auf dem Rathausmarkt beginnt, wo kein Stolperstein liegt. Doch Kebben macht schnell deutlich, warum sie gerade diesen Platz als Ausgangspunkt für die Zeitreise in das Mülheim des Dritten Reiches ausgewählt hat.Sie zeigt ein Bild, das diesen Ort im Jahre 1933 zeigt. Man sieht Hakenkreuzfahnen am Rathaus und begeisterte Menschen davor.Kebben erzählt vom Aufstieg der Mülheimer NSDAP, die 1925 in Anwesenheit von Joseph Goebbels gegründet wurde und bei den Reichstagswahlen 1930 bereits 21 Prozent der Stimmen errang, ehe sie nach den letzten freien Kommunalwahlen vom März 1933 mit 23 Stadtverordneten die stärkste Fraktion im Rat stellte und ihre Macht sofort dazu nutze, ihre politischen Gegner auszuschalten.
Unter den Bürgern, die sich an diesem Nachmittag auf den Weg in die dunkelste Zeit der Stadtgeschichte machen, sind mit Hartmut Mäurer (SPD) und Ursula Schröder (CDU) auch zwei Stadtverordnete: „Ich interessiere mich für die Mülheimer Stadtgeschichte, über die ich ein profundes Halbwissen habe, das ich immer wieder durch wichtige Details ergänzen möchte“, erklärt Mäurer, Und seine Kollegin Schröder sagt: „Da ich erst 1979 nach Mülheim gezogen bin, ist es mir besonders wichtig auch etwas über die frühere Zeitgeschichte der Stadt zu erfahren, um Gästen, mit denen ich durch die Stadt gehe, auch davon berichten zu können.“
Die MST-Stadtführerin berichtet zum Beispiel vom Baudezernenten Artur Brocke und den Stadtverordneten Willi Müller (SPD), Fritz Terres und Otto Gaudig (beide KPD), die ihre Gegnerschaft zu den Nazis mit dem Leben bezahlen mussten oder vom neuen NS-Oberbürgermeister Maerz, der die Stadt in seiner dreijährigen Amtszeit finanziell vollständig ruinierte.Gleich gegenüber dem Rathausturm macht Kebben noch einmal kurz Halt, um zu erzählen, dass das unscheinbare Haus an der Friedrich-Ebert-Straße, in dem heute die Mülheimer Klimaschutzinitative sitzt, bis 1945 die Parteizentrale der NSDAP, das Horst-Wessel-Haus war. Die Nähe von Rat- und Parteihaus sprach für sich. Und auch das erfahren die Zeitreisenden, dass der Vater von Horst Wessel, der die Nazis zu ihrem vielleicht bekanntesten Kampflied "Die Reihen fest geschlossen. SA marschiert" inspirierte, zeitweise als Petrkirchen-Pfarrer in Mülheim an der Heißner Straße wohnte, die damals bezeichnenderweise Horst-Wessel-Straße hieß.Weiter geht es zum Synagogenplatz.
Der Name ist Programm. Dort, wo heute das Medienhaus steht, stand früher die Synagoge. Kebben zeigt unter anderem ein Foto, das das jüdische Gotteshaus in den Flammen der Reichspogromnacht vom November 1938 zeigt. Kebben berichtet unter anderem von der Grundsteinurkunde der Synagoge aus dem Jahr 1905, die heute in einer Vitrine im Medienhaus ausgestellt ist und von dem damals in Mülheim sehr angesehenen Rabbiner Otto Kaiser. Der hatte bei der Grundsteinlegung die symbolhafte Nähe von Synagoge, Petri- und Marienkirche als Hoffnungssymbol dafür beschworen, dass sich die Religion friedlich die Hände reichten und dafür sorgten, „dass nie mehr die Flammen des Hasses aufzüngeln“ würden. Den Tod seiner Frau Eleonore und die Flucht seiner vier Kinder musste der 1925 gestorbene Kaiser Gott sei Dank nicht mehr miterleben.
Wie wichtig und wie gut integriert die jüdischen Mülheimer bis 1933 waren, wird vor allem mit Blick auf die großbürgerlichen Jugendstilhäuser an der Bahnstraße deutlich. „Hier haben viele jüdische Ärzte, Rechtsanwälte und Beamte gewohnt“, erzählt Kebben. Vor dem heutigen Schulverwaltungsamt erfahren die Geschichtsgänger, dass hier seinerzeit das jüdische Bankhaus Hanau seinen Sitz hatte. Staunend hören sie vom eigenen Bahnanschluss des Bankhauses, mit dem die Hanaus ihre Rennpferde nach Baden Baden transportieren konnten und dass einer ihrer Vorfahren im 18. Jahrhundert, Salomon Gombe, Mülheims erste Ruhrschleuse finanzierte.
Gleich gegenüber, an der Bahnstraße 44, wird es trauriger. „Hier befand sich ein sogenanntes Judenhaus“, sagt Kebben und erklärt dessen Funktion als letzten Wohnort, in dem jüdische Bürger interniert wurden, ehe sie irgendwann im Morgengrauen mit einem Zug vom nahen Bahnhof in die Vernichtungslager abtransportiert wurden. Sie berichtet von den Repressalien, denen Bewohner ausgesetzt waren, etwa das sie kein Telefon haben und keine Haustiere halten, aber auch nicht zur Arbeit oder zur Schule gehen durften. Doch sie berichtet auch von einem Bäcker, der sie nachts heimlich und gegen das Verbot der Nazis nachts mit Brot belieferte.
Vor dem Rosenhof an der Kaiserplatzkreuzung, wo Kebben von dem Schicksal des NS-Gegners Karl Briel berichtet, der noch wenige Tage vor dem Einmarsch der Amerikaner verhaftet wurde und dessen Schicksal bis heute ungeklärt ist, kommt ein Mann vorbei und ruft „Heil Hitler.“ Der Zwischenfall geht im Straßenlärm fast unter, und die Zeitreisenden ignorieren ihn. Auf dem Kirchenhügel erfahren sie zum Beispiel vom katholischen Pfarrer Heinrichsbauer, der regelmäßig die von der Partei befohlene Beflaggung der Marienkirche vergaß oder vom evangelischen Pastor Barnstein, der in der Petrikirche regimekritische Predigten hielt, aber immer wieder vom Gestapo-Mann Kolk gewarnt wurde, der ihn bespitzeln sollte. An den vielen Stolperstein-Lebensgeschichten, die Kebben im Stadtkern auf Schritt und Tritt erzählen kann, wird der mörderische Wahnsinn des NS-Systems deutlich. „Das Ausgeschlossen sein macht einen kaputt“, zitiert sie zum Beispiel den katholischen Alfred Zsigmond, der nur deshalb drangsaliert wurde, weil seine Mutter Jüdin war. Und so erzählt Kebben zum Beispiel an der Althof- und der Leineweberstraße auch von vormals jüdischen Mitbürgern, die sich auch durch ihren Übertrittt zum Christentum nicht vor Deportation und Tod retten konnten.
Sie zeigt Bilder von der beim großen Luftangriff vom 22./23. Juni 1943 zu 80 Prozent zerstörten Innenstadt und eine Todesanzeige aus der Mülheimer Zeitung, in der eine Familie acht Angehörige beklagt, die im Bombenhagel ums Leben gekommen sind. Am Ende des Zweiten Weltkrieges werden in Mülheim mehr als 1100 Menschen dem Luftkrieg zum Opfer gefallen sein.
Am Schluss des gut zweistündigen Rundgangs, der am Mahnmal für die NS-Opfer im Luisental zu Ende geht, sagt der 1935 in Mülheim geborene Wilfried Hausmann, der Diktatur und Krieg noch als Kind miterlebt hat: „Die vielen bewegenden Einzelschicksale zeigen eine systematische Verfolgung, von der man als Kind gar keine Vorstellung hatte und die einem noch heute die Schamesröte ins Gesicht treiben kann.“
Weitere Informationen zu den Themen-Stadtrundgängen der MST gibt es unter 960 96 42 oder im Internet unter: http://www.muelheim-ruhr.de/
Ein Beitrag zu diesem Thema erschien am 23. Oktober 2010 in der NRZ
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