Samstag, 17. Juli 2010

Guter Rat muss nich teuer sein: Die Alltagsassistenz Hilfe zur Selbsthilfe für ein selbstständiges Leben im Alter


Es kann doch nicht so schwer sein, ein Bild auf- oder eine Gardine abzuhängen, einzukaufen oder mit dem Bus von A nach B zu fahren? So denkt man, wenn man jung und gesund ist. Doch das einfache Alltagsleben kann ganz schön schwer werden, wenn mit dem Alter die Gebrechen kommen und das Portemonnaie am Ende des Monats nicht durch eine gute Rente aufgefüllt wird, mit der man sich die eine oder andere Hilfestellung einkaufen kann.

Hier setzt die Alltagsassistenz der Paritätischen Initiative für Arbeit (Pia) an. "Wir wollen, dass alte Menschen möglichst lange selbstständig in ihren eigenen vier Wänden leben können. Und wir wissen, dass eine zweite Hand dabei sehr hilfreich sein kann", beschreibt ihre Leiterin, Sabine Dams, die Aufgabe. Annemarie Kirchenbauer (87) und Karin Zimmermann (62) wissen, wovon Dams spricht. Die Seniorinnen, die mit großen Handicaps und kleinen Renten zu kämpfen haben, bekommen von ihrer Alltagsassistentin Vesna Jovanovic Besuch (49). Sie nimmt sich drei bis vier Stunden Zeit, um mit den Damen zu kochen, Einkäufe zu erledigen oder sie zum Arzt zu begleiten. Gemeinsame Spaziergänge, Konzert- oder Friedhofsbesuche können auch zur Alltagsassistenz gehören. "Ich fühle mich sicherer, wenn sie bei mir ist," sagt Zimmermann über ihre Assistentin. Mit Jovanovic an ihrer Seite kann sie auch wieder Bus und Bahn fahren, was der an Parkinson leidenden Frau sonst nicht mehr möglich wäre. "Ich nehme wieder am Leben teil, aber es ist nicht leicht, Hilfe anzunehmen, wenn man sie nicht bezahlen kann," weiß Kirchenbauer. Das ist die Hemmschwelle, die auch in Dams Augen viele Ältere und hilfsbedürftige Menschen davon abhält, den Weg zur Alltagsassistenz zu finden.

Kirchenbauer selbst ist froh, dass sie ihre eigene Hemmschwelle überwunden hat. "Ich bin glücklich, dass es so etwas in Mülheim gibt", sagt die 87-Jährige, die selbst früher ehrenamtlich tätig war und als Arzthelferin gearbeitet hat. Sie genießt die Besuche ihrer Alltagsassistentin nicht nur, weil sie ihr zum Beispiel beim Beziehen der Betten hilft oder mit ihr das Mittagessen kocht, sondern weil sie sich in ihrer Gesellschaft nicht mehr einsam fühlt: "Ich kann mich unterhalten und an der einen oder anderen Stelle auch mein Wissen noch weitergeben," freut sich Kirchenbauer.

Und Jovanovic, die ihre Arbeit "als sehr vielseitig" empfindet, sieht sich keineswegs nur als Dienstleisterin. "Manchmal fühle ich mich, als wenn ich eine nette Großmutter besuche. Man bekommt auch viel zurück. In den Gesprächen kann ich immer wieder von der Lebenserfahrung profitieren und erleben, dass man seinen Kopf nicht hängen lassen muss, wenn es im Leben mal nicht so gut lauft. Die alleinerziehende Mutter, die ihren Beruf als Sozialpädagogin aus gesundheitlichen Gründen aufgeben musste und jetzt als Arbeitslosengeld-II-Bezieherin zu der mit 2,50 Euro pro Stunde entlohnten Arbeitsgelegenheit kam, weiß, wie es sich anfühlt, wenn es im Leben nicht rund lauft. Doch jetzt strahlt sie über das ganze Gesicht, wenn sie von den Begegnungen mit den Menschen berichtet, die ihre Hilfe brauchen.

"Der Bedarf ist da," weiß Dams, die die Alltagsassistenten in einer Schulung auf die sozialen, medizinischen, kommunikativen und rechtlichen Aspekte ihrer Arbeit vorbereitet hat. "Wir legen Wert darauf, dass hier immer mehr als eine oder zwei Hände im Spiel sind," unterstreicht sie den Assistenzcharakter, der für die Kunden kostenlosen Dienstleistung. Die Alltagsassistenten sollen nicht alleine für ihre Klienten, sondern immer mit ihnen daheim und unterwegs arbeiten.

Jovanovic könnte sich auch vorstellen, dauerhaft und hauptberuflich als Alltagsassistentin zu arbeiten. Doch ihre jetzige Arbeitsgelegenheit, die von der Sozialagentur finanziert wird, bleibt ein Intermezzo. Nach zwölf Monaten ist für die Alltagsassistentin Schluss.

Der Leiter der Sozialagentur, Matthias Spies, hält die Alltagsassistenz zwar für sinnvoll, aber derzeit nicht für ausbaubar, weil sie keine Arbeitsplätze bei kommerziellen Dienstleistern gefährden soll. Auch wenn Spies sich vorstellen kann, dass sich das im Zuge des demografischen Wandels eines Tages ändern wird, sieht er für diese Alltagsdienstleistung derzeit noch keinen sich selbst tragenden Markt. Was deren Leiterin Mut macht, ist die Tatsache, dass die Arbeitsgelegenheit als Alltagsassistent immerhin in sieben von bisher 40 Fällen zu einem Sprungbrett in eine soziale Tätigkeit auf dem ersten Arbeitsmarkt geworden ist.
Lesen Sie weiter: Hintergrund: Was die Alltagsassistenz leistet
Dieser Text erschien am 17. Juli 2010 in der NRZ

1 Kommentar:

  1. Artikel wie dieser sind sehr, sehr wichtig um zu zeigen, was für tolle Arbeit in der Pflege und Assistenz geleistet wird. Alltagsassistenten wie die von „Pia“ kann man sich als rüstiger Rentner nur wünschen, wenn man selbst nicht mehr so gut zuwege ist und auch der Partner einen vielleicht nicht mehr unterstützen kann. Toll!

    AntwortenLöschen

Trüber November

 Für den Evangelischen Kirchenkreis an der Ruhr und seine sechs Gemeinden ist der November nicht nur klimatisch trübe. Superintendent Michae...