Sonntag, 27. Dezember 2009

Wenn Geschichte lebendig wird: Broicher Realschüler erforschten und dokumentierten das Schicksal eines NS-Opfers


Zweiter Weltkrieg und Nationalsozialismus. Davon hat in Deutschland jeder schon mal gehört. Auch Lisa Gawrich, Anna-Lena-Hell, Lars Kühn, Jessica Ochwat, Denis Peters und Larissa Steiner kennen die Geschichte von rund 60 Millionen Kriegstoten und sechs Millionen Holocaust-Opfern aus dem Geschichtsunterricht ihres Lehrer Markus Vorpeil. Doch die ehemaligen Zehntklässler der Realschule Broich, die inzwischen alle die Oberstufe besuchen und auf dem Weg zum Abitur sind, kennen einen Teil dieser dunklen Geschichte Deutschlands jetzt nicht nur aus dem Schulbuch. Und das kam so: Anfang des Jahres wurden sie durch einen Film auf den Künstler Gunter Demnig und sein Projekt Stolpersteine aufmerksam. Die Idee, Opfer-Biografien aus der eigenen Stadt zu recherchieren, fanden sie spannend.

Um weitere Informationen über NS-Opfer in Mülheim zu bekommen, suchten sie und ihre Klassenkameraden das Gespräch mit Helmut Hermann vom Bund der Verfolgten des Nazi-Regimes (VVN), der regelmäßig historische Stadtrundfahrten auf den Spuren von Verfolgung und Widerstand im Dritten Reich anbietet und mit Friedrich-Wilhelm von Gehlen von der Mülheimer Initiative für Toleranz. Der hat seit 2007 mit seinen Mitstreitern im Arbeitskreis Stolpersteine selbst zahlreiche Lebensläufe von Mülheimer NS-Opfern erforscht. Das Thema ließ die Schüler nicht los. Sie gingen auf die Straße, zum Beispiel in Speldorf und Stadtmitte. An Stellen, wo in den letzten fünf Jahren bereits Stolpersteine als kleine Opfer-Mahnmale ins Straßenpflaster versenkt worden waren, fragten sie im April Passanten nach ihrer Meinung zu dieser Form der Erinnerungsarbeit. Ergebnis: 65 Prozent der Befragten waren die Stolpersteine schon ein Begriff. 85 Prozent begrüßten das Projekt der lokalen Geschichtsaufarbeitung. Nur 15 Prozent hielten nichts davon.

Während für ihre Klassenkameraden das Thema Stolpersteine mit der Straßenumfrage erst mal abgeschlossen war, wollten Lisa, Anna Lena, Lars, Jessica, Denis und Larissa weiter machen und gründeten eine eigene Arbeitsgemeinschaft Stolpersteine. Die jungen Nachwuchshistoriker von der Realschule Broich kamen dem Stadtarchivar Jens Roepstorff, der selbst auch im Mülheimer Arbeitskreis Stolpersteine NS-Opfer-Biografien recherchiert, gerade recht. Den Schülern aus Broich wies er die Aufgabe zu, die Biografie von Karl Briel aufzuarbeiten, eines von 21 NS-Opfern, für die Gunter Demnig am 7. Dezember einen Stolperstein verlegen wird. Das Stadtarchiv und die Recherche in alten Akten, Urkunden und Zeitungen waren für die sechs Jugendlichen Neuland. „Wenn man sich näher mit einem Einzelfall befasst, kann man sich auf einmal bildlich vorstellen, was mit Verfolgten des NS-Regimes passiert ist", sind sich Lars, Lisa und Denis einig. „Wenn man die historischen Originalunterlagen in der Hand hat, wird das Schicksal eines NS-Opfer plötzlich viel lebendiger", schildern Jesseica, Larissa und Anna Lena ihre Erinnerung an das Quellenstudium über Karl Briel.

Über den Großonkel der Oberbürgermeisterin Dagmar Mühlenfeld, der 1900 in Mülheim geboren wurde und später eine Kaufmannslehre absolvierte, fanden sie zum Beispiel heraus, das er privat schon früh Kritik an Hitler äußerte und 1935 erstmals mit der NSDAP in Konflikt geriet, als er sich weigerte, der Partei ein Ladenlokal mietfrei zu überlassen. Danach zogen vor seinem Haus an der damaligen Bachstraße 47, wo am 7. Dezember der Stolperstein für ihn verlegt wurde, SA-Leute zu einer Protestkundgebung auf.

Briel wurde unter dem Vorwand von Mieterbeschwerden von der Gestapo in Schutzhaft genommen. 1943 bekam der parteilose Briel wieder Ärger mit der NSDAP, als er sich über Mietrückstände von Parteimitgliedern beschwerte. Kurz vor dem Einmarsch amerikanischer Truppen wurde er im April 1945 von einem Denunzianten bezichtigt, eine Untergrundbewegung ins Leben gerufen zu haben. Die Gestapo verhaftete ihn, inhaftierte ihn im Polizeigefängnis und verwüstete seine Wohnung. 1947 für tot erklärt, gilt er bis heute als verschollen. Sein Schicksal bleibt ungeklärt.

Weitere Informationen im Internet unter: www. stolpersteine-mh.de

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