Freitag, 16. Juli 2021

Wahl zu Kaisers Zeiten

Am 26. September haben wählen auch die Mülheimer den Deutschen Bundestag und seine Abgeordneten. Vor 150 Jahren wählten die Mülheimer (am 3. März 1871) den ersten Deutschen Reichstag des neu gegründeten Kaiserreiches.

Auf einer Woge des nationalen Hochgefühls stimmte Mülheim, wie im reichsweiten Trend mehrheitlich für die Nationalliberalen und ihren damals 38-jährigen Kandidaten Richard Dove. Die entschiedensten Anhänger des neuen Kaiserreiches unter preußischer Führung und seines ersten Kanzlers Otto von Bismarck, sammelten sich in der 1867 gegründeten Nationalliberalen Partei. Sie nannte sich in den Anzeigen der Rhein-Ruhr-Zeitung „die Nationale Partei“ und: „die Verfassungspartei“.

Einer der 382 Abgeordneten des ersten Deutschen Reichstags wurde der für Mülheim, Duisburg, Oberhausen und Dinslaken gewählte Göttinger Kirchenrechtsprofessor Richard Wilhelm Dove. Obwohl er nicht aus dem Reichstagswahlkreis kam, hatte ihn das lokale Wahlkomitee der Nationalliberalen Partei als Kandidaten nominiert.

Nicht zum ersten und nicht zum letzten Mal sollte ein importierter Kandidat zum Mülheimer Abgeordneten gewählt werden. 1871, hatten die Mülheimer nur eine Stimme, die sie abgeben konnten. Denn der Reichstag wurde nach einem Mehrheitswahlrecht gewählt, wie es heute noch in Großbritannien, Frankreich und in den USA praktiziert wird.

Dieses Wahlrecht gewährt nur Kandidaten den Einzug ins Parlament, die in einem Wahlkreis die Stimmenmehrheit auf sich vereinigen. Obwohl neben dem Nationalliberalen Richard Wilhelm Dove auch der Richter Heinrich Grütering von der katholischen Zentrumspartei und der Journalist Wilhelm Hasenclever von der Sozialistischen Deutschen Arbeiterpartei, die später zur Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) werden sollte, zur ersten Reichstagswahl antraten, hatten die Nationalliberalen und ihr Kandidat die Gunst der Stunde auf ihrer Seite und trugen mit ihrem auswärtigen Kandidaten einen beachtlichen Wahlsieg davon.

Walberechtigt waren 24.473 Bürger. 15.484 Stimmen wurden abgegeben. Richard Wilhelm Dove erhielt 10.461 Stimmen, Richter Grütering 3245 Stimmen und Wilhelm Hasenclever 1633 Stimmen.

Mit diesem Wahlergebnis lag Mühlheim im nationalen Trend. Denn die Nationalliberalen wurden im Deutschen Reich zur stärksten Partei, gefolgt vom katholischen Zentrum und den Konservativen. Die Sozialdemokraten gewannen mit nur 0,5% der Stimmen  2 Mandate im 1. Reichstag.

Auch in Mülheim konkurrierten Sozialdemokraten und Zentrumspartei um die Stimmen der Arbeiter. Der Zentrumskandidat Grütering hatte in einer Wahlanzeige der Rhein-Ruhr-Zeitung angekündigt: „mit nationaler Gesinnung für konfessionelle Schulen, die Freiheit der christlichen Kirchen und das Wohl der Arbeiter eintreten“ zu wollen. Durch die Aufteilung der Arbeiterstimmen hatte der Sozialdemokrat Hasenclever keine Chance, den Ruhr-Wahlkreis mit einer Mehrheit der Stimmen zu gewinnen.

Die erste Wahl zum Deutschen Reichstag war nicht wirklich demokratisch. Wahlberechtigt waren nur Männer ab 25. Frauen durften erst nach dem Ende des Kaiserreiches wählen und gewählt werden. So repräsentierte der 1871 gewählte Reichstag nur 20% der Bevölkerung. Immerhin wurde der Reichstag des Kaiserreiches demokratischer gewählt, als der preußische Landtag und die Stadträte. Für ihre Wahl galt bis 1918 das Drei-Klassen-Wahlrecht. Es teilte die Wähler, abhängig von ihrer Steuerkraft in drei Wählerklassen ein. So stellten ¾ der Bevölkerung nur 1/3 der Stimmen. Und eine Stimme der 1. Klasse war 17mal mehr wert als eine aus der 3. Klasse.

Allerdings konnten sich nur gutsituierte Bürger während des Kaiserreiches eine Wahl in den Reichstag leisten, da sie als Abgeordnete bis 1906 keine Diäten bekamen. Auch die Rechte des Reichstags waren begrenzt. Er konnte Gesetze und Haushaltspläne der Regierung billigen oder ablehnen, aber keine Regierung oder abwählen. Der Reichskanzler wurde vom Kaiser ernannt und war deshalb von seinem Vertrauen abhängig. 

Mülheimer im Reichstag und im Bundestag:

Richard Wilhelm Dove, Jurist, Nationalliberal 1871-1875

Johann Friedrich Schulte, Jurist, Nationalliberal, 1874-1881

Friedrich Hammacher. Jurist, Nationalliberal, 1881-1898

Theodor Möller, Unternehmer, Nationalliberal1898-1903

Wilhelm Beumer, Lehrer, Nationalliberal, 1903-1907

Klemens Hengsbach, Tischler, Sozialdemokratie, 1907-1912

Hugo Böttger, Publizist, Nationalliberal, 1912-1918

Joseph Allekotte, Postbeamter, Zentrum, 1920-1928

Fritz Thyssen, Großindustrieller, NSDAP, 1933-1939 (nicht gewählt)

Otto Striebeck, Redakteur, SPD, 1949-1953 & 1958-1965

Gisela Prätorius, Pädagogin, CDU, 1953-1957

Max Vehar, Unternehmer, CDU, 1957-1961 & 1969-1976

Willi Müller, Verwaltungsoberinspektor, SPD, 1965-1980

Helga Wex, Philosophin, CDU, 1967-1969 & 1972-1986

Thomas Schröer, Lehrer, SPD, 1980-1990

Wilhelm Knabe, Forstwissenschaftler, Grüne, 1987-1990

Andreas Schmidt, Jurist, CDU, 1990-2009

Ulrike Flach, Übersetzerin, FDP 1998-2013

Astrid Timmermann-Fechter, Geschäftsführerin/Referentin CDU 2013-2017

Anton Schaaf, Arbeiter/Betriebsrat, SPD (2002-2013)

Armo Klare, Lehrer, SPD (2013-2021)


NRZ/WAZ, 15.07.2021


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