Donnerstag, 10. Juni 2021

Jüdisches Leben gestern, heute und morgen

 Jüdisches Leben gestern heute und morgen. Darüber diskutierte am Sonntagnachmittag (6. Juni) Oberbürgermeister Marc Buchholz mit seinen Amtskollegen Daniel Schranz (Oberhausen) und Sören Link (Duisburg) bei einer Online-Veranstaltung, zu der die jüdische Gemeinde Duisburg Mülheim Oberhausen eingeladen hatte. Die jüdische Politikwissenschaftlerin und Soziologin Gila Baumöl und die Präsidentin der Jüdischen Studierenden-Union in Deutschland, Anna Staroselski komplettierten die von Sabena Donath moderierte Runde.

Vor der Diskussion gab der Münchener Kabarettist Christian Springer in seiner engagierten Rede über 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland den Grundton vor, indem er sagte: „Über die historischen und politischen Ursachen des Antisemitismus sind dicke Bücher geschrieben worden. Aber was man konkret dagegen tun kann, wenn man im Alltag mit Antisemitismus konfrontiert wird, darüber gibt es nur einen schmalen Schnellhefter, wenn da überhaupt etwas drin ist. Dabei muss es heute doch egal sein, ob man katholisch, evangelisch, jüdisch, muslimisch, buddhistisch oder sonst was oder gar nichts ist, um frei und unbehelligt ins unserem Land leben zu können. So steht es in unserem Grundgesetz.“

Dazu, wie der verfassungsrechtliche Anspruch des Grundgesetzes in die soziale Wirklichkeit übersetzt werden kann, sagte Mülheims Oberbürgermeister Marc Buchholz: „Wir dürfen in unserem Zusammenleben auch heute und morgen nicht vergessen, dass es im Nationalsozialismus Deutsche waren, die Deutschen Unrecht angetan haben, als sie ihre jüdischen Mitbürger verfolgt, vertrieben und umgebracht haben. Angesichts unserer Geschichte ist es ein Geschenk, dass es heute wieder ein vitales jüdisches Leben In Mülheim und seinen Nachbarstädten gibt. Die jüdische Gemeinde ist mit ihren Veranstaltungen ein heute fester Bestandteil unseres Kulturkalenders. In unserem gesellschaftlichen Leben darf nicht die Religion im Mittelpunkt stehen. Es muss der Mensch im Mittelpunkt stehen. Ich empfinde Gotthold Ephraim Lessings „Ringparabel“ als wegweisend. Hier geht es um einen Vater, der seine 3 Söhne alle gleich liebt und ihnen deshalb 3 absolut gleiche Ringe vererbt, weil er keinen von ihnen benachteiligen will. So wissen  seine Söhne nicht, welcher der 3 Ringe der Ursprungsring ist. Diese Parabel zeigt uns, dass wir, egal ob wir Christen, Juden oder Moslems sind, alle einen Vater haben. Wir müssen begreifen, dass uns nur der Frieden in die Zukunft führen kann. Wir wissen aus unserer Vergangenheit, dass Hass, Tod und Vertreibung uns nur zurückwerfen. Unser Zusammenleben kann heute und morgen nur gelingen, wenn wir uns unabhängig von unserer kulturellen und religiösen Herkunft mit Achtung und Respekt begegnen. Durch unser eigenes Vorbild und Handeln müssen wir als Kommunalpolitiker den Menschen in unserer Städte Hoffnung geben. Dabei muss unser Ziel sein, dass sich  in der nächsten Generation auch alle Zuwanderer als Deutsche fühlen können.

Buchholz Duisburger Amtskollege, Sören Link,  betonte: „Die Jüdische Gemeinde ist heute mit ihren kulturellen Impulsen ein wohltuender Teil unserer regionalen Stadtgesellschaft. Sie schottet sich nicht ab und ihr Gemeindezentrum hat nicht von ungefähr die Form eines aufgeschlagenen Buches. Damit kommt zum Ausdruck, dass die jüdische Gemeinde trotz des in der Vergangenheit erfahrenen Leides ein neues Kapitel der Normalität aufschlagen möchte. Aber es ist eben nicht normal, wenn heute die Polizei vor Synagogen stehen muss. Und ich wünsche mir eine Gesellschaft, in der eben nicht nur jüdische Synagogen, sondern auch jüdische Friedhöfe und jüdische Kindertagesstätten ein ganz normales Angebot darstellen, das keinem Polizeischutz braucht. Ich wünsche mir für unsere Zukunft, dass wir uns im Ruhrgebiet am Geist der Kumpel im Bergbau orientieren, indem es nicht darauf ankommt, woher jemand kommt, sondern darauf, ob er ein guter Kumpel ist, auf den man sich verlassen kann und der mit anpackt, um die Arbeit zu erledigen, die wir zu tun haben. In diesem Sinne müssen wir auch Jugendlichen aus Zuwandererfamilien deutlich machen: ‚Wenn du Deutscher sein willst, musst du dich auch mit der deutschen Geschichte auseinandersetzen. Und wenn es um Antisemitismus geht, darf es keine falschen Rücksichtnahmen geben. Antisemitismus kann man nicht deeskalieren, sondern nur stoppen, und das mit allen Strafen, die unserem Rechtsstaat zur Verfügung stehen. Da dürfen wir uns als Politik und als Gesellschaft nicht weggucken.“ Oberhausens Oberbürgermeister, Daniel Schranz, machte am Beispiel der alten Synagoge im Stadtteil Holten, die in einem Begegnungs- und Erinnerungszentrum umgestaltet werden soll, deutlich „wie man in einer Stadt konkrete Anlaufpunkte für einen Dialog schaffen kann, der Vorurteilen entgegenwirkt und einen Dialog fördert, der die Gesellschaft sozial stabilisiert.

Für Moderatorin Sabena Donath, die als Bildungsreferentin beim Zentralrat der Juden In Deutschland arbeitet, kommt es darauf an, „dass in unser Zusammenleben nicht von den 2 großen Elefanten erdrückt wird, die mit dem Holocaust und dem Nahostkonflikt im Raum stehen. Sie forderte einen gesellschaftlichen Dialog, „in dem man mit uns Juden und nicht über uns spricht.“ Die Politikwissenschaftlerin Gila Baumöhl und die Präsidentin der Jüdischen Studierendenunion in Deutschland, Anna Staroselski warnten vor der Vorstellung, „dass wir es in Deutschland nur mit einem durch arabische Zuwanderung importierten Antisemitismus zu tun haben“. Beide wiesen darauf hin, dass sozialwissenschaftliche Studien zeigen, dass zwischen 25 und 40% der deutschen Bevölkerung einen latenten oder manifesten Antisemitismus hegen. Beide empfinden es als ungerecht und unangenehm, dass sie als deutsche Staatsbürgerinnen jüdischen Glaubens in privaten Gesprächen und bei Diskussionen regelmäßig die Politik Israels erklären müssen. Anna Staroselski machte ein wachsendes Interesse an der jüdischen Religion deutlich, dass viele aus der ehemaligen Sowjetunion zugewanderte Juden herausfordere, sich mit ihrer eigenen jüdischen Identität auseinanderzusetzen. Gila Baumöl lobte die wachsende Sensibilität und Solidarität, die es heute in der deutschen Öffentlichkeit gegenüber antisemitischen Anfeindungen gebe. Anna SAnna Staroselski ließ allerdings keinen Zweifel daran,  dass es bei dieser Solidarität noch viel Luft nach oben gebe. Ähnlich wie Christian Springer, wies sie darauf hin, dass oft Tausende zu Demonstrationen gegen Israel kämen, aber nur Hunderte zu Demonstrationen gegen Antisemitismus. (T.E.)

Stationen Jüdischen Lebens in Mülheim

1620: Erste urkundliche Erwähnung jüdischer Mülheimer, die eine Schutzsteuer zahlen müssen.

1750: Errichtung des Jüdischen Friedhofs an der Gracht

1870: Erste Synagoge an der heutigen Friedrich-Ebert-Straße

1907: Zweite Synagoge am Viktoriaplatz/heute Synagogenplatz

1918-1933: Die jüdische Gemeinde zählt rund 650 Mitglieder und hat ein eigenes Gemeindehaus an der Löhstraße. Außerdem gibt es einen christlich-jüdischen Fahrradclub.

1933: Der Stadtrat schließt jüdische Unternehmen von städtischen Aufträgen aus. Außerdem werden jüdische Beamte aus dem Dienst entlassen und jüdische Geschäfte mit einem Boykott belegt.

1934: Im Gemeindehaus finden die ersten Abschiedsfeiern für Gemeindemitglieder statt, die ins Exil gehen.

1935: Mit den Nürnberger Rassegesetzen werden christlich-jüdische Ehen und Liebesbeziehungen verboten. Immer mehr Vereine schließen ihre jüdischen Mitglieder aus.

1936: Jüdische Schüler werden vom Unterricht an öffentlichen Schulen geschlossen.

1938: Die an die Stadtsparkasse zwangsverkaufte Synagoge am Viktoriaplatz wird auf unter Leitung des Feuerwehrchefs Alfred Fretr in der Reichspogromnacht niedergebrannt. Jüdische Geschäfte und Wohnungen werden verwüstet. Polnische Gemeindemitglieder werden nach Polen ausgewiesen.

1941: Jüdische Bürger müssen einen „Judenstern tragen. Sie werden in „Judenhäusern“ interniert und von dort aus mit Unterstützung der Polizei und der Reichsbahn in die Vernichtungslager deportiert.

1945: Bis Kriegsende werden 270 jüdische Mülheimer im Rahmen des Holocaust ermordet

1960: 80 Mitglieder gründen die Jüdische Gemeinde neu und treffen sich in einem Betsaal an der Kampstraße

1965: Gründung einer Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit

1979: Gerhard Bennertz beginnt mit der Aufarbeitung der Jüdischen Geschichte Mülheims

1983: Erstmals besuchen ehemalige jüdische Mitbürger, die 1933 ibs Exil gingen, ihre alte Heimatstadt

1990: Mit der jüdischen Einwanderung aus der Sowjetunion steigt die Mitgliederzahl der Jüdischen Gemeinde von 100 auf mehr als 2500 an.

1999: Die Stadt Mülheim unterstützt den Neubau des Jüdischen Gemeindezentrums in Duisburg

2009: Der Viktoriaplatz wird in Platz der ehemaligen Synagoge umbenannt

2020: Die Stadt ernennt den langjährigen Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde, Jacques Marx, zu ihrem Ehrenbürger.


NRZ/WAZ, 08.06.2021


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