Sonntag, 13. Juli 2014

Doppelpass mit der Wirklichkeit oder: Als wir wieder wer waren: Mülheimer erinnern sich an das Fußballwunder von Bern


Das Fußball-Wunder von Belo Horizonte, der deutsche 7:1-Sieg über Brasilien, weckt bei manchem älteren Mülheimer die Erinnerungen an das Fußballwunder von Bern. „Jubel über 3:2-Triumph - Die Sensation von Bern: Deutschland ist Fußballweltmeister“, titelte die Neue Ruhr Zeitung fast auf den Tag genau vor 60 Jahren, nach dem ersten Titelgewinn, dem mit Hilfe eines kleineren oder größeren Fußballwunders am kommenden Sonntag der vierte deutsche WM-Titel folgen könnte.

„Wir haben auch damals gesagt: Das kann doch nicht wahr sein. Denn im Jahr 1954 waren die Ungarn das, was heute die Brasilianer sind und die deutsche Mannschaft hatte in der Vorrunde mit 3:8 gegen die damals seit langer Zeit ungeschlagenen Ungarn verloren“, beschreibt Pfarrer und Religionspädagoge Gerhard Bennertz (damals 16 Jahre junger Schüler) die Reaktionen in seiner Familie, die das Wunder von Bern am Radio verfolgte. „Auch meine Mutter war fußballverrückt und hat sich später fast alle Länderspiele im Fernsehen angeschaut. Doch das kam erst 1958 ins Haus. 1954 hatten wir nur ein Radio. Und ich habe noch heute das TOR! TOR! TOR! des legendären Rundfunkkommentators Herbert Zimmermann im Ohr“, erzählt Bennertz.

„Neun Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges war der Weltmeistertitel für die Deutschen, wie ein helles Licht, das ihnen mit den Helden von Bern zeigte: Es lohnt sich wieder, sich für etwas einzusetzen“, beschreibt er die mentale Wirkung des ersten WM-Titels.

Auch Alt-Bürgermeister Günter Weber (damals 19 Jahre junger Angestellter bei Siemens), der das Berner WM-Finale vom 4. Juli 1954 mit seinen Freunden vom sozialdemokratischen Jugendverband der Falken bei einem Tagesauflug in einer Gaststätte am Radio verfolgte, wird Herbert Zimmermanns „Aus dem Hintergrund kommt Rahn. Rahn müsste schießen. Rahn schießt. Tor!“ nie vergessen. „Der Sieg über Brasilien war eine Überraschung ersten Ranges. Aber der Sieg in Bern war ein echtes Wunder. Das passte in die damalige Aufbruchstimmung und war ein wichtiger Baustein für das Selbstbewusstsein der Deutschen, die die Ruinenhäuser in ihren Städten noch vor Augen hatten“, erinnert sich Weber. Rückblickend hat er das Gefühl, dass die damaligen Fußballhelden ihren Fans näher waren, „weil sie noch keine hochbezahlten Stars waren und mit ihren Heimatclubs eng verbunden blieben.“

„Wir sind damals bis an die Decke gesprungen“, beschreibt der damals 13-jährige MBI-Ratsherr Hans Georg Hötger, wie sein zwölf Jahre älterer Bruder Werner und er auf den 3:2-Sieg-Treffer Helmut Rahns reagierten. „Das hat sich in mein Gedächtnis eingebrannt. Wir saßen mit 30 Leuten aus der Nachbarschaft, bei meiner Tante Hermine, die damals schon ein Fernsehgerät hatte“, berichtet Hötger, der in der Jugendmannschaft des VFB Speldorf kickte. „Wir haben damals noch Monate darüber gesprochen und hatten nach der WM ‘54 viele Neuanmeldungen“, erinnert sich Hötger und meint: „Nachdem Deutschland noch 1950 von der Fußball-WM ausgeschlossen war, hat der WM-Gewinn 1954 viele Brücken in die internationale Sportgemeinschaft gebaut und Deutschland neue Anerkennung gebracht.“ Seine persönliche Anerkennung für die Helden von Bern ist auch deshalb so groß, „weil damals noch mehr Idealismus im Spiel war, ohne den der Sport nicht überleben kann.“

„An jeder Ecke wurde darüber gesprochen. Die Euphorie war groß. Denn die Anerkennung tat den Deutschen nach dem verlorenen Krieg gut. Und man hatte das Gefühl, wieder auf etwas stolz sein zu können“, erinnert sich Bezirksbürgermeister Arnold Fessen an die psychologische Aufbauhilfe, die die Helden von Bern geleistet haben. Einen kannte der damals 13-jährige Volksschüler besonders gut. Denn der Ersatztorwart Fritz Herkenrath unterrichtete damals als Referendar an seiner Schule.

„Das war die erste Fernsehsendung meines Lebens und ich bin fast in die Bildröhre hineingekrochen“, erinnert sich der Künstler Peter Torsten Schulz an sein Wunder von Bern. Als zehnjähriger Schüler erlebte er frisch gescheitelt und mit weißem Hemd und dunkler Hose das WM-Finale ‘54 im illustren Kreis der Verlegerfamilie Giradet. Denn sein Vater war damals Chefredakteur der Essener Allgemeinen Zeitung. „Noch spannender als das Spiel fand ich, dass gestandene Herrn in dunklen Anzügen so laut jubeln und sich umarmen konnten“, erzählt Schulz.

SPD-Fraktionschef Dieter Wiechering (damals 12) und als linker Läufer fußballerisch aktiv, erlebte der Fußballer das Fernseh-Finale ‘54 mit seinem Vater in einer norddeutschen Dorfkneipe. „Damals schauten dort nur Männer zu. Und nach dem Spiel war man sehr stolz und das Echo in den Zeitungen lautete: Wir sind wieder wer“, erinnert sich Wiechering.


Dieser Text erschien am 11. Juli 2014 in der Neuen Ruhr Zeitung

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