Dienstag, 11. Juni 2019

Mehr als ein Debattierclub


Heinz Oskar Vetter
Foto: DGB
10. Juni 1979. Auch in Mülheim sind die Menschen zum ersten Mal aufgerufen das Europäische Parlament direkt zu wählen. Die Direktwahl ist ein Demokratieversprechen. Sie soll dem Parlament, das damals eine rein beratende Funktion hat, die Macht verschaffen, die in der Demokratie vom Volke ausgeht. Bei dieser ersten Europawahl machen 65 Prozent der damals 143.000 wahlberechtigten Mülheimer Gebrauch von ihrem Stimmrecht.

40 Jahre später gehen 62,6 Prozent der jetzt noch 123.000 wahlberechtigten Mülheimer zur 9. Direktwahl des Europäischen Parlaments. Während 1979 der Spruch die Runde macht: „Hast du einen Opa, schick ihn nach Europa!“, ist das Parlament der Europäischen Union heute längst mehr als ein Debattierclub grauer Eminenzen. Keine Verordnung, keine Richtlinie, kein Haushalt der EU kann heute ohne Zustimmung des Parlaments in Kraft treten. Kein EU-Kommissar kann ohne Zustimmung der Europaparlaments sein Amt antreten. Und wenn das Parlament, das in Straßburg und Brüssel tagt, mit der Arbeit der EU-Kommissare unzufrieden ist, kann es diese zum Rücktritt zwingen.

Welch ein Unterschied zur ersten Direktwahl vor 40 Jahren, auch mit Blick auf die Wahlergebnisse.

Zog der Sozialdemokrat und damalige DGB-Chef Heinz Oskar Vetter 1979 mit 53,1 Prozent der Stimmen ins Europäische Parlament ein, so gewannen seine Mülheimer Genossen 40 Jahre später nur noch 21,2 Prozent der Wählerstimmen und wurden damit nur noch drittstärkste Kraft. Die Christdemokraten, die 1979 mit 35,6 Prozent nur auf dem zweiten Platz landeten, konnten bei der jüngsten EU-Wahl mit nur 23,9 Prozent der abgegebenen Stimmen zur stärksten Kraft avancieren. Gleichzeitig haben die Grünen, die bei der ersten Direktwahl des Europäischen Parlaments mit 3,5 Prozent unter der damals noch geltenden Fünf-Prozent-Hürde blieben, bei der Wahl am 26. Mai 2019 mit 22,9 Prozent der Stimmen ihre Platz als zweitstärksten Kraft.

Dagegen ist die FDP, die in Mülheim traditionell eine ihrer Ruhrgebiets-Hochburgen hat mit 7,6 Prozent (2019) und 6,7 Prozent (1979) vergleichsweise stabil geblieben.

Die Linke, die am 26. Mai 4,2 Prozent und die nationalkonservative AFD, die 9,7 Prozent der Stimmen gewinnen hat, hatte damals noch niemand auf dem Schirm. Man sieht im Vergleich: Die traditionellen Volksparteien haben massiv an Gewicht und politischer Integrationskraft verloren. Die Grünen könnten zur Volkspartei werden. Das politische Spektrum ist bunter und breiter geworden wie man es auch für den Rat der Stadt feststellen kann. Aus den drei Ratsfraktionen des Jahres 1979 sind inzwischen neun Fraktionen und Gruppen geworden. Vor allem die von Verfassungsrichtern zur Disposition gestellte Fünf-Prozent-Sperrklausel, die bei Bundestagswahlen noch gilt, hat den politischen Diskurs in den Parlamenten erweitert und demokratisiert, auf der anderen Seite, die Weimarer Republik lässt grüßen, die parlamentarische Mehrheitsbildung erschwert.

Standen bei der Europawahl 1979 acht Parteien auf dem Stimmzettel, so waren es diesmal 41. War das Thema Umweltschutz 1979 noch ein Randthema, das von den Themen der sozialen Sicherheit, der Arbeitnehmerrechte und der Zusammenarbeit von Arbeitgebern und Arbeitnehmern im Interesse des wirtschaftlichen Wohlstandes überlagert wurde, so hat sich der von Wissenschaftler bereits in den 1970er Jahren angemahnte Klimawandel als zentrales Thema in die politische Diskussion eingeführt. Bemerkenswert: Der erste Mülheimer Europaabgeordnete Heinz Oskar Vetter (1917-1990) kümmerte sich in seiner Parlamentszeit, die bis 1989 dauern sollte, unter anderem um eine gerechte Lastenteilung der Asylkosten in der damaligen Europäischen Gemeinschaft. Und sein Mülheimer Mitbürger Otmar Franz (CDU) wurde während seiner Zeit als Europaabgeordneter (1981-1989) zu einem parlamentarischen Wegbereiter der 1999 bis 2002 eingeführten EU-Währung Euro. Damals wie heute gilt der 1989 von Heinz-Oskar Vetter in einem Interview mit der NRZ ausgesprochene Satz: „Ein Europa ohne Grenzen wird nicht nur wirtschaftlich funktionieren.“ 


Dieser Text erschien am 11. Juni 2019 in der Neuen Ruhr Zeitung

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