Donnerstag, 17. August 2023

DENK ICH AN 1998

Gerne bin ich beim jüngsten Meeting des Rotary Clubs Mülheim Uhlenhorst mit meinem interessierten und angenehm aufmerksamen Auditorium auf eine Zeitreise ins Jahr 1998 gegangen. Als sich der Club vor 25 Jahren gründete, stand Deutschland vor einem Regierungswechsel. 

16 Jahre der Kanzlerschaft Helmut Kohls gingen zu Ende. Die 7 Jahre der Kanzlerschaft Gerhard Schröders begannen. Der Sozialdemokrat, bis dato niedersächsischer Ministerpräsident, stand jetzt an der Spitze der ersten rotgrünen Bundesregierung. Deren Außenminister wurde der ehemalige hessische Umweltminister, Joschka Fischer. Anders, als bei seiner ersten Minister-Vereidigung 1985, trat Fischer diesmal nicht in Jeans und Turnschuhen, sondern im staatsmännischen Anzug an. Auch der Mülheimer Sozialdemokrat Bodo Hombach wurde als Bundeskanzleramtsminister im Oktober 1998 Teil der neuen Bundesregierung.

Ironie der Geschichte: Ausgerechnet die erste rotgrüne Bundesregierung musste 1999 im Kosovo die erste deutsche Kriegsbeteiligung seit 1945 gegen ihre in Teilen pazifistische Basis und Stammwählerschaft durchsetzen. Die Parallele zum Krieg in der Ukraine und den von der Ampel-Koalition beschlossenen Waffenlieferungen an die Ukraine liegt auf der Hand.

Zweite Ironie der Geschichte: Ausgerechnet die 1998 ins Amt gewählte rotgrüne Bundesregierung musste 2001 eine sozial schmerzhafte, aber wirtschaftspolitisch wirkungsvolle Agenda-2010 in Gang setzen, die doe Wirtschaft belebte, aber auch die Zahl der prekären Arbeitsverhältnisse steigen ließ und längerfristig viele linke Sozialdemokraten in die Linkspartei trieb, allen voran der 1999 zurückgetretene SPD-Chef und Bundesfinanzminister Oskar Lafontaine.

Wirtschafts- und finanzpolitisch geben die Regierungschefs der Europäischen Union im Mai 1998 mit der Gründung der Europäischen Zentralbank mit Sitz in Frankfurt am Main den Startschuss zur Einführung des Zahlungsmittels Euros am 1. Januar 2002. Zum ersten Präsidenten der EZB wählen sie den Niederländer Wim Deusenberg.

Auch in Mülheim wurden vor 25 Jahren wichtige politische Weichen gestellt. Wie heute, gab es damals eine schwarzgrüne Ratsmehrheit. Anders, als heute, war es damals die bundesweit erste schwarzgrüne Zusammenarbeit, die 1998, unter der Führung des CDU-Oberbürgermeister Hans-Georg Specht und des Grünen Bürgermeisters, Dr. Wilhelm Knabe in ihr viertes Jahr ging.

Die Schließung des 1912 von der Familie Thyssen gestifteten Stadtbades an der Ruhrpromenade und die Eröffnung des für 250 Millionen D-Mark gebauten Ruhrbahntunnels, durch den bis heute die Straßenbahnlinien 102 und 901 die Ruhr auf gut zwei Kilometern unterqueren beherrschten 1998 ebenso die lokalen Schlagzeilen, wie die zunehmenden Ladenleerstände in der City und die Neupflasterung der seit 1974 fußläufigen Schloßstraße.

Nicht nur im Einzelhandel, sondern auch bei der Mülheimer WAZ, die am 3. April 1998 ihr 50-jähriges Erscheinen feiern konnte, war Online vor 25 Jahren noch kein Thema. Zum Thema wurde 1998 dagegen die Fertigstellung des ersten Blockheizkraftwerkes in Broich durch die mit einer Fusion der Rheinischen Energie- und der Mülheimer Fernwärmegesellschaft neugebildeten und von Hans-Gerd Bachmann geführten Mülheimer Energiedienstleistungsgesellschaft Medl. Apropos Einzelhandel: Das damals vom Centermanager, Werner Rück, geführte Rhein-Ruhr-Zentrum, schenkt sich im Dezember 1998 zu seinem 25. Geburtstag die Eröffnung des Festivalgardens, in dem man nicht nur Gastronomie, sondern auch ein Multplex-Kino und eine Bowlingbahn findet.

Für Aufregung in seiner eigenen Partei sorgte am Volkstrauertag 1998 der christdemokratische Oberbürgermeister Hans-Georg Specht für Wirbel, als er aus gesundheitlichen Gründen seine Kandidatur für die erste OB-Direktwahl 1999 zurückzog. Lange standen die Christdemokraten jetzt ohne OB-Kandidat da, während die Sozialdemokraten mit ihrem Parteichef, Ratsmitglied und ehemaligen Bundestagsabgeordneten Thomas Schröer bereits im Vorjahr ihren Kandidaten für das Oberbürgermeisteramt nominiert hatten.

Doch die CDU hatte Glück im Unglück, weil sich ihr Parteimitglied Jens Baganz, das bisher kommunalpolitisch nicht in Erscheinung getreten war als Ersatzkandidat ins Gespräch brachte. Der damals 38-jährige bei der Veba tätige Jurist, der biher nur als Presbyter in der Evangelischen Kirchengemeinde Holthausen öffentlich in Erscheinung getreten war konnte als politischer Quereinsteiger nicht nur die CDU-Basis, sondern auch, dank eines vom CDU-Parteigeschäftsführer Stefan Zowislo, geschickt gemanagten Wahlkampfes, eine knappe Mehrheit der Mülheimer Wählerinnen und Wähler von sich überzeugen. Kuriosität Nummer 2: Am Wahltag wurde zunächst der Sozialdemokrat Thomas Schröer mit einem Stimmenvorsprung von 33 Stimmen zum neuen Oberbürgermeister ausgerufen. Doch eine Nachzählung ergab einen Wahlsieg von Jens Baganz, mit einem Vorsprung von 58 Stimmen.

Fußballfans verbinden das Jahr 1998 vor allem mit der Fußballweltmeisterschaft in Frankreich. Während die Gastgeber vor 25 Jahren mit einem 3:0-Finalsieg über Brasilien ihren ersten WM-Titel gewannen, platzten die Titelträume der damals von Berti Vogts trainierten deutschen Nationalmannschaft nach einer 0:3-Niederlage gegen Kroatien.

Schlimmer als das frühe WM-Aus war aber das Unglück, das sechs gewalttätige deutsche Fußballfans am Rande des WM-Spiels Deutschland-Jugoslawien am 21. Juni 1998 in Lens über den damals 43-jährigen Polizeibeamten und Familienvater Daniel Nivel brachten. Sie griffen ihn brutal an und verletzten ihn so schwer, das Nivel eine Schädelfraktur erlitt und ins Koma fiel. Er überlebte schwer gezeichnet. Bis heute sitzt er, halbseitig gelähmt und auf einem Auge blind im Rollstuhl. Die Täter wurden von eutschen und französischen Gerichten wegen Mordversuchs und schwerer Körperverletzung zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Derweil sorgten zahlreiche Spenden aus Deutschland und Frankreich zumindest für eine finanzielle Unterstützung der schwer geschädigten Familie Nivel. 

Positive Sportschlagzeilen machten im Mülheim des Jahres 1998 der 100. Geburtstag des TSV Viktoria, der damals aus 3700 Mitgliedern bestand, die in 12 Abteilungen sportlich aktiv waren. Sportlich aktiv waren am 1. Juni 1998 auch die Jockeys und Pferde, die beim damals beim 140. Derby um den Preis der Diana auf der 1910 am Raffelberg eröffneten Rennbahn am Raffelberg an den Start gingen. Einer familienfreundlichen Tradition folgend, hatten Frauen und Kinder, auch bei diesem pferdesportlichen Topereignis am Raffelberg freien Eintritt.

Drei Wochen nach dem Preis der Diana feierte die 1898 aus als Selbsthilfe aus dem Evangelischen Arbeiter- Bürgerverein hervorgegangene Mülheimer Wohnungsbaugenossenschaft MWB mit ihren Gästen in der Stadthalle ihren 100. Geburtstag. Bis heute gehört die von rund 10.000 Genossen getragene MWB mit 5000 Mietwohnungen zu den größten Wohnungsanbietern der Stadt. Damals wie heute verbindet die Genossenschaft soziales und wirtschaftliches Engagement. Davon zeugen generationsübergreifende Gemeinschaftswohnprojekte, Wohnungstauschaktionen und Arbeitsbeschaffungsprojekte für arbeitslose Jugendliche.

Positive Schlagzeilen produzierte die Mülheimer Wirtschaft, unter Mitwirkung der MWB, 1998 durch die finanzielle Unterstützung der damals notwendigen Modernisierung des Theatersaals der Stadthalle und durch die Eröffnung des Hauses der Mülheimer Wirtschaft an der Friedrichstraße. Während die Mülheimer Wirtschaft 2005 in die von der MWB umgebaute ehemalige Thyssenzentrale an der Wiesenstraße umziehen sollte, wird das ehemalige Haus der Mülheimer Wirtschaft heute von einem Moscheeverein als Gemeindezentrum genutzt, das, jeweils am Tag der Deutschen Einheit, der auch Tag der offenen Moschee ist, interessierten Gästen aller Konfessionen offensteht. Die wahrscheinlich wichtigste Mülheimer Wirtschaftsnachricht des Jahres 1998 war die Übernahme des amerikanischen Kraftwerkhersteller Westinghouse durch die seit 1969 in Mülheim ansässige Siemens-Kraftwerkunion. Vom deutschen Atomausstieg war 1998 schon die Rede. Doch dessen endgültiger Vollzug, sollte, wie wir heute wissen, noch 25 Jahre auf sich warten lassen.

Noch einmal zurück in den schon angesprochenen Theatersaal der 1926 eröffneten und 1957 vom damaligen Bundespräsidenten Theodor Heuss wiedereröffneten Stadthalle. Dort ging 1998 mit insgesamt 300 Sängerinnen und Sängern das Jubiläumskonzert des 1948 gegründeten Mülheimer Sängerkreises und mit 13 Aufführungen und insgesamt 4300 Zuschauerinnen und Zuschauern die damals 25. Mülheimer Theatertage über die Bühne. Bei den Mülheimer Theatertagen wird seit 1976 die beste aktuelle Theaterproduktion aus dem deutschsprachigen Raum mit dem Dramatiker Preis ausgezeichnet. 1998 ausgezeichnet wurde 1998 unter anderem auch der künstlerische Leiter des seit 1981 in Mülheim ansässigen und international renommierten Theaters an der Ruhr, Roberto Ciulli. Er konnte sich ebenso, wie der Mülheimer Heimatforscher Heinz Hohensee und die Gründerin der seit 1992 aktiven Mülheimer Tschernobyl-Initiative, Dagmar van Emmerich, über die Verleihung des Rheinlandtalers des Landschaftsverbandes Rheinland freuen. Während sich Hohensee um die Mülheimer Stadtgeschichtsschreibung und die Betreuung des Heimatmuseums im Tersteegenhaus verdient gemacht hat, verbindet sich der Name Dagmar von Emmerichs mit der humanitären Hilfe für die Menschen, die in Weißrussland bis heute unter den Folgen des 1986 explodierten Atomreaktors in Tschernobyl zu leiden haben.

Besonders freuen können sich die heute im Selbecker Golfclub tagenden Rotarier aus dem Club Uhlenhorst über die Ergebnisse ihrer Unterstützung eines Schulgartenprojekts der Astrid-Lindgren-Grundschule an der Mellinghofer Straße. Da passt es gut, dass deren Schulgebäude ebenso 1998 bezogen werden konnte, wie die ehemaligen Hauptschulgebäude am Springweg. Dort konnte die damals von Wilhelm Schröder geleitete Wilhelm-Busch-Schule einziehen. Unter anderem mit einer Schülerfirma sorgten Schröder und sein Kollegium dafür, dass die zuvor am Wenderfeld ansässige Dümptener Förderschule ihrem Namen auch mit Blick auf die praktische Berufsvorbereitung gerecht werden konnte.

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