Mittwoch, 27. September 2023

Bleibende Mahnung

Warum gibt es in Speldorf eine Arthur Brocke-Allee? Und warum nahm sich Arthur Brocke vor 90 Jahren das Leben? Ein Rückblick in das deutsche Schicksalsjahr 1933.

Am 19. September 1933 berichtet die Lokalpresse über den Tod des langjährigen Baudezernent en Arthur Brocke. Von einem Freitod ist die Rede.

Doch der fünffache Familienvater, der sich am 18. September 1933 in seinem Haus an der Bismarckstraße 31 erhängt hat, ist nicht freiwillig aus dem Leben geschieden. Seine Witwe Wilhelmina, die seit dem 18. September 1933 wider Willen alleinerziehende Mutter von fünf Kindern ist, berichtet 20 Jahre später in ihrem Wiedergutmachungsverfahren von einer „nervlichen Zerrüttung, die ihren pflichtbewussten und lebensfrohen Mann in den Tod getrieben habe, weil er die Schande des ihm angetanen Unrechts nicht verwinden konnte.“ Auch ihre Kinder, so berichtet Wilhelmina Brocke im gleichen Zusammenhang, „sind in ihrem Schul- und Berufsleben durch den Tod ihres Vaters benachteiligt worden“. Das Unrecht, von dem Frau Brocke berichtet, geht 1933 von der NSDAP aus, Sie stellt seit der Kommunalwahl am 12. März 1933 mit Wilhelm März den Oberbürgermeister. Den politischen Ton gibt aber Karl Camphausen an. Er residiert als hauptamtlicher Kreisleiter der NSDAP vis-a-vis des Rathausturmeingangs im Horst-Wessel-Haus an der Hindenburgstraße, die wir heute als Friedrich-Ebert-Straße kennen.

Die NSDAP stellt eine Schwarze Liste auf. Auf ihr stehen 22 republiktreue Mitarbeitende, die sie umgehend aus ihren Ämtern entlassen sehen wollen. Einer von ihnen ist der parteilose Baudezernent Arthur Brocke.

Gegen Brocke, den der Stadtrat 1919 und 1931 für jeweils zwölf Jahre im Amt bestätigt hat erheben die Nationalsozialisten den Vorwurf der Veruntreuung von Steuergeld. Die Staatsanwaltschaft stellt das Ermittlungsverfahren schon bald ein und ordnet die Freilassung des zwischenzeitlich verhafteten Beigeordneten an. Denn sie kann keine Beweise für seine Untreue findet. Dennoch erreicht die NSDAP, die mit der Deutschnationalen Volkspartei die Ratsmehrheit stellt, dass der an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen ausgebildete Bauingenieur Brocke, zwangspensioniert wird und ein Viertel seiner Pension verliert. Außerdem wird Brocke vor und in seinem Haus „von SS-Trupps bedroht“, wie seine Witwe später aussagen wird. Möglich wird diese Rufmordkampagne gegen einen bis dahin hoch angesehenen Baumeister der Stadt, weil die NSDAP seit dem 30. Januar 1933 mit Hermann Göring den preußischen Ministerpräsidenten und Innenminister, dem die Kommunalverwaltung untersteht.

Brocke hat Mülheim unter anderem den Bau des Styrumer Ruhrstadions, des Flughafens, der heutigen Realschule Stadtmitte sowie der Wohnsiedlungen Witthausbusch und Salierstraße zu verdanken. Schon 1919 hat der 1884 in Achen geborene Brocke sein Credo als Bauchdezernent formuliert: „Sparsame Verwendung der Mittel bei Beachtung von Schönheit und Gesundheit.“

Das Brockes Leistungen und Verdienste um die Stadt nicht vergessen sind, zeigen ein positiver Nachruf in der Mülheimer Zeitung und die von der NSDAP-nahen Nationalzeitung ebenso heftig kritisierte Trauerpredigt des evangelischen Altstadtpfarrers Harry Lepper.

Lepper und die defacto bereits gleichgeschaltete Mülheimer Zeitung nennen die Verdienste des verstorbenen Beigeordneten weisen darauf hin, „dass man die Verdienste Brockes in ruhigeren Zeiten als diesen besser und umfassender zu würdigen wissen wird.“ Lepper geht in seiner Predigt vor einer großen Trauergemeinde, die sich am 21. September 1933 in der Kapelle des Hauptfriedhofes versammelt hat, noch weiter, wenn er Brocke als einen „starken, klaren und sicheren Mann“ beschreibt, dem die „kalten und harten Dinge unserer gegenwärtigen Welt sein Lebensfundament zerstört haben.“ Lepper betont, „dass der barmherzige und gnädige Gott Brocke verzeihen werde, dass er dem auf ihn ausgeübten Druck nicht standgehalten habe.“ Er warnt seine Zuhörer, sich nicht vom „oberflächlichen Zeitgeist dazu verleiten zu lassen, aus Neid heraus Menschen zu verleumden und zu quälen“.

NSDAP und Nationalzeitung erkennen ein Misstrauensvotum gegen die NS-Führung. Deshalb raten sie dem „Mann im Priesterkleid“, sich „zukünftig besser zurückzuhalten“ und über den Selbstmord des „trübsinnigen“ Beigeordneten „pietätvoll in den Mantel des Schweigens“ zu hüllen. Nach 28 Jahren wird Pfarrer Lepper die evangelische Altstadtgemeinde verlassen. Arthur Brockes Witwe erhält 1953 eine finanzielle Wiedergutmachung und zwei Jahre später wird es in Speldorf eine Arthur-Brocke-Allee geben. Und seit 2007 erinnert ein „Stolperstein“ vor seinem ehemaligen Wohnhaus an der Bismarckstraße 31 an das NS-Opfer Arthur Brocke.


Mülheimer Presse & Stadtarchiv Mülheim

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