Mittwoch, 31. Juli 2019

Aufklärung im Wartezimmer

Als ein Grundschulkind der 1970er Jahre kam ich schon erheblich früher In den Genuss von Aufklärungsunterricht als meine älteren Schwestern und deren Freundinnen. Umso spannender fanden sie, welche zumindest theoretischen Detailkenntnisse über das Liebesleben ihr kleiner Bruder für Details aus seinem anschaulich vermittelten Aufklärungsunterricht in der aufgeklärten Schule der 1970er Jahre mit nach Hause brachte. Später, im Gymnasium , lernte ich den Begriff der Aufklärung dann noch einmal von seiner philosophischen Seite kennen. Die Frage: „Was ist Aufklärung?“, so las und hörte ich, hatte der Königsberger Philosoph Immanuel Kant 1784 mit der Aufforderung beantwortet: „Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.“ Gestern , im Wartezimmer meines Zahnarztes wurde mir wieder einmal klar, wie Recht der alte Kant hatte. Die Arzthelferinnen hatten es gut gemeint mit den Patienten und das Fenster zur Straße weit geöffnet. Doch gut gemeint, ist nicht immer gut gemacht. Denn plötzlich wehte eine so steife Brise durch das Wartezimmer, dass die Patienten im Durchzug saßen und neben ihren Zahnschmerzen auch noch einen steifen Hals zu bekommen drohten. Doch wir alle ertrugen unser Leid still und duldsam. Bis ich auf die Idee kam, dass ich ja auch selbständig in der Lage sei, das weit geöffnete Fenster zu schließen und auf Kippe zu stellen, so dass der Durchzug abgeschaltet wurde. „Das ist wirklich eine gute Idee“, waren sich meine Mit-Insassen im Wartezimmer einig. Da fiel mir der alte Kant wieder ein, der seinen Zeitgenossen schon so manchen Zahn gezogen hatte. Und mir wurde klar, was er damit gemeint hatte: „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.“ Ich weiß zwar nicht, welchen Zahnarzt Immanuel Kant hatte, aber er seine Erkenntnis kann auch heute für uns heilsam sein. Die beste Idee nutzt nichts, solange sie niemand in die Tat umsetzt.

Dieser Text erschien am 31. Juli 2019 in der Neuen Ruhrzeitung

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