Samstag, 30. November 2019

Auf ein Wort zum Freien Wort

Seit 1984 zeichnet der Hauptausschuss Groß-Mülheimer Karneval im Rahmen seines Prinzenballs in der Stadthalle. Journalisten, Politiker und Komiker für ihre Verdienste um das freie Wort mit dem Ehrenpreis der Spitzen Feder aus. Am 30. November 2019 wird der RTL-Fernsehmoderator Wolfram Kons geehrt. Im Vorfeld der Auszeichnung ließ sich Kons von der Redaktion auf ein freies Wort ein.

Woran denken Sie, wenn Sie an Mülheim denken?
Mir fällt das schöne Kunstmuseum in der Alten Post ein, das zurzeit renoviert wird. Ich denke an Helge Schneider, den Wasserbahnhof und die Weiße Flotte. Und mir gefällt sehr gut wie grün und hügelig es in Mülheim ist.

Worüber können Sie lachen?
Kons:          Darüber, dass ich bei der Spitze Feder Nachfolger von Woozle Goozle werde. Gegen diese Puppe , alias Martin Reinl, habe ich bei meinem Jungs (5 und 7) daheim on air keine Chance.

Wo hört für Sie der Spaß auf?
Kons: Wenn die Rechte von Kindern verletzt werden.

Muss man als Fernsehmoderator eine Spitze Feder im Gepäck haben?
Kons: Immer! Und die Kunst besteht darin, mit der Spitzen Feder zu piksen, ohne dabei zu verletzen. Es gab in der öffentlichen Kommunikation noch nie so viele Verletzungen wie jetzt in der Zeit der oft asozialen Medien. Ich habe das Privileg, als Fernsehmoderator Menschen mitteilen zu können, was mir wichtig ist. Aber privat habe ich keine Lust irgendetwas über mich persönlich zu posten. Ich nutze das Internet nur als Informationsmedium für meine Sendungen, für den RTL – Spendenmarathon und Guten Morgen Deutschland , für NTV und die Kunst .

Was würden Sie wem gerne mit spitzer Feder ins Stammbuch schreiben?
Kons: Ich glaube, dass wir Deutschen oft nicht zu schätzen wissen, in welch großartigem Land wir leben, in dem wir große Freiheiten und viele Möglichkeiten haben. Ich plädiere für mehr Toleranz und Gelassenheit in unserem Land und auch für die Bereitschaft, uns auch mal Fehler zuzugestehen und zu verzeihen. Wenn wir Deutsche 98 von 100 Punkten erreichen, diskutieren wir vor allem über die zwei Punkte, die uns noch fehlen. Das macht uns manchmal dann noch perfekter, nimmt uns aber auch viel Lebensfreude. Mein Wunsch: Lasst uns nicht immer so eng und spießig denken.

Braucht man in unserer Demokratie Mut für das freie Wort?
Kons: Wir brauchen vor allem Mut zur Demokratie. Man kann nicht nur meckern und selbst nichts machen. Man muss auch selbst Verantwortung übernehmen. Das beginnt in den Kindergärten und Schulen, wenn es darum geht, wer da die Schulpflegschaft übernimmt. Ich engagiere mich sehr im und für das Ehrenamt. Ohne würde unsere Gesellschaft ärmer und kälter.

Was würden Sie durchsetzen, wenn Ihr Sender Sie zum Chefredakteur, Programmdirektor und Intendant in einer Person ernennen würde?
Kons: Ich würde jeden Monat einen Spendenmarathon starten. Letzte Woche konnten wir rund elf Millionen Euro Spenden für Kinder in Not sammeln. Ein Rekord der verpflichtet. Dabei ginge es mir nicht nur um das Geld , sondern vor allem darum das Bewusstsein für Kinder in Not zu schaffen, auch bei uns hier in Deutschland gibt. Ich möchte die Menschen motivieren, sich nicht nur um sich selbst und die eigenen Probleme zu kümmern, sondern auch ihre kleinen und großen Mitmenschen, die nicht auf der Sonnenseite des Lebens stehen.

Zur Person
Der 1964 in der Karnevalshochburg Düsseldorf geborene und heute in Neuss lebende Wolfram M. Kons moderiert das Morgenmagazin und den Spendenmarathon des Kölner Privatsenders RTL. Er engagiert sich als ehrenamtlicher Vorstand der Stiftung RTL Wir helfen Kindern e.V., die mit Hilfe des Spendenmarathons seit 1996 mehr als 182 Millionen Euro für Kinderhilfsprojekte in Deutschland und aller Welt investieren konnte. Seine journalistische Karriere begann er nach einem Jura-Studium und einem Volontariat beim Münchener Radio Gong in den 1980er Jahren als Reporter beim Südwestfunk, beim Bayerischen Rundfunk und bei Radio Luxemburg. 1991 stieg er als Redakteur und Moderator beim RTL-Morgenmagazin ein. Darüber hinaus machte er sich als Reisereporter, Autor, Moderator und Produzent  für verschiedene Sender sowie als Synchronsprecher einen Namen. 2004 wurde sein soziales Engagement mit der Verdienstmedaille des Bundesverdienstordens ausgezeichnet. Der Ehemann und zweifache Vater, der als Produzent und Moderator auch für die NTV-Kunstsendung „NTV Inside Art“ verantwortlich ist, sagt über sich selbst: „4K - TV heißt für mich: K  wie Kunst bei NTV , K wie Kinder und für Deutschland morgens Kaffee bei RTL und K wie Kons.“


Freitag, 29. November 2019

Zeitzeugen erinnern sich an die DDR

30 Jahre nach dem Mauerfall richteten die beiden Mülheimer Jutta Loose (70) und Dieter Schilling (80) als Autoren der örtlichen Zeitzeugenbörse ihren ganz eigenen Blick auf die DDR und das SED-Regime. Die gutbesuchte Lesung in der Buchhandlung am Löhberg zeigte, dass die Wiedervereinigung Deutschlands allen aktuellen Herausforderungen zum Trotz ein Glücksfall der Geschichte war.

Es waren zwei sehr unterschiedliche Perspektiven, die Jutta Loose und Dieter Schilling ihren interessierten Zuhörern eröffneten. Loose schaute von außen auf die DDR, mit der sie durch die Familie ihres Mannes verbunden war. Sie berichtete zum Beispiel vom schauderhaften Besuch an der innerdeutschen Grenze, an der sie unter anderem die Selbstschussanlagen entdeckte, die sogenannte Republikflüchtlinge töten sollten. Sie erzählte von Lebensmittelpakten an die Verwandtschaft in Meißen, von fingierten Todesnachrichten der DDR-Staatssicherheit, von ruinenhaft heruntergekommenen und trotzdem noch bewohnten Häusern im Ostteil Berlins und davon, dass ihr Schwiegervater als Angehöriger der Bundeswehr seine Eltern in der DDR nicht besuchen konnte und auch an ihrer Beerdigung nicht teilnehmen durfte.


Loose schilderte aber auch ihre positiven Erfahrungen, die sie mit den Menschen in Ostdeutschland und mit den sich nach der Wiedervereinigung angleichenden Lebensverhältnissen machen konnte. Loose: „Wir haben uns gut verstanden, weil wir auf Augenhöhe miteinander sprachen, uns füreinander interessierten und über dieselben Dinge lachen konnten.“


Als in Halle an der Saale geborener und später dort als Ingenieur für das Zentralinstitut für Schweißtechnik tätiger Ingenieur lieferte Dieter Schilling eine bemerkenswerte Innenansicht der DDR, in der ganz selbstverständlich auch ein Bevollmächtigter der Staatssicherheit zu seinen Kollegen gehörte. Der achtete nicht nur darauf, dass nur ja keine Betriebsgeheimnisse in die Hände des Klassenfeindes gerieten, sondern forderte auch Berichte über Kollegen an. „Als Ingenieur gehörte ich an unserem Institut zu den sogenannten Reisekadern, die in die Bundesrepublik und ins westliche Ausland reisen durften, was bei vielen meiner Nachbarn und Kollegen leider Misstrauen erweckte und mich in ihren Augen verdächtig machte“, erinnert sich Schilling, der selbst natürlich auch von der Staatssicherheit überprüft wurde. Unvergessen bleibt ihm ein Institutskollege, der seinen Arbeitsplatz verlor, weil die Stasi von einem ihrer westdeutschen Spitzel erfahren hatte, dass dieser Kollege bei einem dienstlichen Besuch in der Bundesrepublik einen politischen Witz über die DDR-Führung erzählt hatte. Erschreckend war auch sein Bericht darüber, dass in dem von Staatswegen atheistischen SED-Staat keine Kirchenmitglieder zum Studium zu gelassen wurden.


Die von Jutta Loose geschilderten heruntergekommenen und eigentlich unbewohnbaren Häuser in Ost-Berlin und in anderen Städten der DDR erklärte Schilling mit dem staatlichen Mietdiktat. „Ich habe Ende der 1960er Jahre für eine 80 Quadratmeter große Wohnung nur 88 Mark Miete bezahlt. Aber das führte eben auch dazu, dass Hauseigentümer keine Gewinne erwirtschaften und diese in die Renovierung ihrer Immobilien investieren konnten.“ Und so flohen auch Schilling und seine Frau 1982 aus der DDR nach Westdeutschland, weil sie die Misswirtschaft in der DDR nicht mehr aushielten. „Denn dort war das Geld nichts mehr wert und die Versorgung mit fast allen Konsumgütern allein von persönlichen Beziehungen abhängig“, erinnert sich Zeitzeuge Dieter Schilling.

Hintergrund



Allein bis zum Mauerbau am 13. August 1961 verließen mehr als zwei Millionen Menschen die DDR und sorgten damit dort für einen existenzgefährdenden Fachkräftemangel. In Mülheim bemühten sich unter anderem der Saarner Pastor Ewald Luhr und seine Frau Luise während der 1950er Jahre um DDR-Flüchtlinge, die unter anderem in einem Übergangswohnheim an der Düsseldorfer Straße untergebracht wurden. Die in den 1960er Jahren begonnene Ostpolitik erleichterte den deutsch-deutschen Reiseverkehr vor allem für Rentner. Der Mit-Initiator der Mülheimer Zeitzeugenbörse, Ralf Zabelberg, wies darauf hin, dass die zehn Milliarden D-Mark, die die Bundesrepublik jährlich als Transitgebühren an die DDR zahlte, eine wichtige Deviseneinnahme für den SED-Staat darstellte. Mehr Informationen zur Mülheimer Zeitzeugenbörse gibt es unter: zeitzeugenboerse@gmx.de und: https://unser-quartier.de/zzb-muelheim/startseite/

Dieser Text erschien am 24. November 2019 in der NRZ und in der WAZ

Donnerstag, 28. November 2019

Ganz schön menschlich

Gestern traf ich gleich drei glückliche Menschen. Der eine von ihnen ist der Mülheimer Unternehmer Sascha Preusse. Er ist glücklich, weil er mit den Zwillingsbrüdern Maximilian und Alexander Blasius zwei Mitarbeiter für seine Event- und Promotionagentur gewonnen hat, von denen er nur gutes zu berichten weiß: Motiviert, fleißig, pünktlich, zuverlässig. So beschreibt er die beiden behinderten Brüder, die von sich sagen, „dass wir „glücklich sind, weil wir endlich einen festen Arbeitsplatz haben, an dem wir als Menschen angenommen und nicht nur wie Maschinen funktionieren müssen.“ Diese Aussage lässt tief blicken und erzählt viel darüber, wie unsere Gesellschaft und ihr Arbeitsmarkt heute ticken. „Ich habe nicht auf ihre Defizite geschaut, sondern sie als Menschen betrachtet und schnell gemerkt: Das passt“, sagt Sascha Preusse über die Neuen in seinem Team, die in seinem Auftrag in diesen Tagen auf einem Weihnachtsmarkt als Lebkuchenmänner unterwegs sind. Die Erfolgsgeschichte, die die drei Mülheimer jetzt miteinander verbindet ist ein Geschichte, die Geschmack auf mehr Menschlichkeit macht und wie bestellt in die nun beginnende Adventszeit passt. Nicht nur zur Weihnachtszeit machen Menschen wie Sascha Preuse und seine Mitarbeiter Alexander und Maximilian Blasius uns allen Mut. Denn sie zeigen uns, dass das Staatsziel Menschenwürde, das zurecht im Grundgesetzartikel 1 steht, nicht nur auf dem geduldigen Papier unserer Verfassung steht, sondern auch Wirklichkeit werden kann, wenn wir uns als Menschen betrachten und erkennen, dass es Menschen und nicht Maschinen sind, die uns im doppelten Sinne des Wortes reich machen.

Dieser Text erschien am 27. November 2019 in der Neuen Ruhr Zeitung

Mittwoch, 27. November 2019

Solche Mutmacher braucht der Arbeitsmarkt


Zehn Prozent der derzeit 170.000 Mülheimer haben eine Schwerbehinderung. 6500 schwerbehinderte Mülheimer sind im erwerbsfähigen Alter. 327 von ihnen (5,3 Prozent) suchen zur Zeit einen Arbeitsplatz. 


Damit liegt der Arbeitslosenanteil unter den schwerbehinderten und erwerbsfähigen Mülheimern deutlich unter dem Landesdurchschnitt von 7,4 Prozent. Aber nur 4,9 Prozent der 296 Mülheimer Arbeitgeber erfüllen aktuell ihre gesetzliche Verpflichtung, mindestens fünf Prozent ihrer Arbeitsplätze mit schwerbehinderten Arbeitnehmern zu besetzen. Außerdem brauchen Arbeitssuchende mit Handicap im Durchschnitt deutlich länger (918 statt 800 Tage), um einen Arbeitsplatz zu finden. Die meisten Arbeitgeber zahlen lieber eine Ausgleichsabgabe von jährlich 320 Euro pro nicht besetztem Arbeitsplatz, als schwerbehinderten Arbeitssuchenden eine Chance zu geben.

Diese Zahlen nannte der Chef der für Mülheim und Oberhausen zuständigen Agentur für Arbeit, Jürgen Koch.  Im Moment mit Blick auf eine Aktionswoche, mit der die Agentur vom 2. bis 6. Dezember verstärkt die Bedürfnisse, Chancen und Potenziale von arbeitssuchenden Menschen thematisieren will.


"Man kann nicht das Fehlen von Fachkräften beklagen. Man muss auch Menschen eine Chance geben, die ein Potenzial haben, das zum gegenseitigen Vorteil entdeckt, gehoben und gefördert werden muss. Dafür brauchen wir Brückenbauer", betont Koch.

Einen solchen Brückenbauer, Sascha Preusse, hat Koch jetzt mit einem Zertifikat ausgezeichnet, das ihm bescheinigt, einen Blick für die viel zu oft ungenutzten Potenziale zu haben, die Menschen mit Handicap als Arbeitnehmer einbringen können. Der Diplom-Kaufmann Sascha Preusse, der sein Berufsleben mit 16 als Parkplatzeinweiser begonnen hat, betreibt seit 2005 eine inzwischen bundesweit aktive Promotion- und Eventagentur, zu deren Kunden unter anderem namhafte Kaufhäuser und Einkaufszentren gehören.


Nicht nur die Defizite sehen


"Der Mann ist zwar gehbehindert, Aber er kann hervorragend rechnen und telefonieren", sagt Preusse über einen schwerbehinderten Mitarbeiter.


"Ich habe nicht auf ihre Defizite geschaut, sondern sie als Menschen gesehen und schnell gemerkt: Das passt. Die sind motiviert, fleißig, flexibel, zuverlässig, pünktlich und freundlich", beschreibt Koch seine Mitarbeiter Alexander und Maximilian Blasius. Die 23-jährigen Zwillingsbrüder aus Styrum sind in diesem Jahr, wie sie selbst sagen, bei der Preusse GmbH und ihren 118 Kollegen "gut angekommen!" Trotz ihrer Lernbehinderung stehen sie heute ihren Mann, wenn sie im Auftrag ihres Chefs mit Kollegen quer durchs Land fahren, um in diesen Tagen zum Beispiel als Lebkuchenmänner auf Weihnachtsmärkten unterwegs zu sein, riesige Weihnachtsbäume aufzurichten, großformatiges Dekor auf- und abzubauen, als Parkplatzeinweiser zu agieren oder Absperrungen auf- und abzubauen.

"Wir kommen aus einer Arbeiterfamilie und wir wollen arbeiten. Deshalb sind wir sehr glücklich, dass wir jetzt einen festen Arbeitsplatz gefunden haben, an dem wir als Menschen und nicht als Maschinen behandelt werden. Und wir wollen anderen Menschen, denen es ähnlich ergeht, wie es uns ergangen ist, durch unser Beispiel Mut machen, nicht aufzugeben, sondern weiterzumachen", sagen Alexander und Maximilian Blasisus. 


Finanzielle Starthilfe


Besonders dankbar sind die beiden Männer ihren Eltern, bei denen sie noch leben, dass sie den Glauben an ihre Kinder nicht verloren haben und sie immer wieder ermutigt haben. Genau das hat auch Agentur-Beraterin Anett Schwoy getan, die sie seit dem Ende ihrer Förderschulzeit an der Dümptener Wilhelm-Busch-Schule bei ihrer Odyssee auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt begleitet hat. Trotz berufsvorbereitender Lehrgänge, etwa bei der Kurbel, in der Ruhrwerkstatt und bei der BBWE, und einer abgeschlossenen Berufsausbildung als Beikoch (Maximilian) und Maler und Lackierer (Alexander) konnten die Blasius-Brüder erst bei ihrem jetzigen Arbeitgeber dauerhaft Fuß fassen und ihre Talente entfalten.


"Es war für mich sehr hilfreich, dass ich Alexander und Maximilian Blasius durch eine von der Agentur für Arbeit finanzierte dreimonatige Probebeschäftigung kennenlernen konnte", betont Sascha Preusse.



Dienstag, 26. November 2019

Ein Glaubensbekenntnis

Wer der Frohen Botschaft des Jesus von Nazareth folgt, gewinnt die innere Freiheit, um sich aus dem Hamsterrad des Alltags zu befreien und so zu sich selbst zu finden. Wer sich als Christ bewusst nicht mehr nur um sich und den eigenen Vorteil dreht, verliert die Angst, etwas zu verpassen. Christen können viel gewinnen, weil sie bereit sind auch viel zu geben. Das gibt ihrem Leben Sinn, Halt und Ziel. Diesen Gedanken vermittelte Sven Ozera den in der Pfarr- und Klosterkirche St. Mariä Himmelfahrt versammelten Gemeindemitgliedern bei seiner ersten Predigt als geweihter Diakon.
Der 37-jährige Saarner lebt als nebenamtlicher Diakon, anders als die meisten katholischen Kleriker, nicht zölibatär. Er ist verheiratet und hat zwei Söhne. Auch nach seiner Diakonweihe durch Ruhrbischof Dr. Franz-Josef Overbeck arbeitet er hauptberuflich in der Serviceabteilung des katholischen Sankt-Martinus-Krankenhauses in Düsseldorf. "Ich weiß wie aufgeregt man als Mann ist, wenn man die Frau, die mal liebt, heiratet. Ich weiß wie sich das anfühlt, wenn man sich als junger Vater fragt, ob man das alles richtig macht mit seinen Kindern und wie sich das anfühlt, wenn man Angst um seinen Arbeitsplatz hat, weil der Arbeitgeber in wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten ist. Das sind Lebenserfahrungen, die in meine Arbeit als Seelsorger einfließen", sagt Ozera. Gerne erinnert er sich auch an eine engagierte Religionslehrerin und an einen ebenso engagierten Kaplan, die durch ihr Lebensbeispiel seine Neugier auf den christlichen Glauben und seine Frohe Botschaft geweckt hätten.
Viel Zeit und Energie hat er in sein Theologiestudium investiert, das er 2015 am Diakoneninstitut des Erzbistums Köln begonnen hat, und das er auch nach seiner Weihe zum ständigen Diakon mit dem Besuch von Pastoralkursen bis zum Juli 2021 fortsetzen wird. Jetzt, nach der Weihe, da er als Diakon taufen, trauen, beerdigen, Wortgottesdienste leiten, kirchliche Sozialarbeit leisten und Kommunionunterricht erteilen wird, stehen in den Pastoralkursen noch Themen wie das Predigen, der liturgische Gesang oder die im Gemeindealltag anfallende Organisations- und Öffentlichkeitsarbeit auf dem Programm.

Ein starkes Glaubensbekenntnis

Bei seiner ersten Heiligen Messe als Diakon in seiner Heimat-Pfarrei dankte der Pfarrgemeinderatsvorsitzende, Manuel Gatz, Sven Ozera ausdrücklich dafür, "dass Sie in einer Zeit, in der die katholische Kirche in schweren Gewässern unterwegs ist, mit ihrer Entscheidung und mit ihrem Engagement als Diakon ein Bekenntnis zum christlichen Glauben und zur Kirche ablegen."
Ozera, der den Weihespruch: "Ich bin mit dir. Ich habe dich gesandt" gewählt hat, nutzte seinen ersten Gottesdienst als Diakon dafür, um sich vor allem bei seiner Familie für ihre Unterstützung zu bedanken, die es ihm erst möglich gemacht habe, den Weg seiner geistlichen Berufung zu gehen. Auch Ozeras Arbeitgeber hat sein Theologiestudium durch eine Arbeitszeitverkürzung unterstützt.

Montag, 25. November 2019

Kortums Erben

„Es muss sich doch eine verständige Person finden lassen, die sich um die alten Akten und Urkunden der Stadt kümmert“, zitiert der scheidende Leiter des Stadtarchivs in seinem Abschiedsvortrag einen Artikel aus der Mülheimer Zeitung von Anno Dazumal. Und er fügt hinzu: „Ich hätte nicht gedacht, dass ich eines Tages diese verständige Person sein könnte.“ Als Historiker hat Kai Rawe nicht nur einen Sinn für den Blick in die Geschichte, sondern auch Humor. Das zeigt der Mann, der am 1. Dezember als Stadtarchivleiter von Mülheim nach Bochum wechselt, auch mit seinem spitzfindigen Hinweis auf den 1745 in Mülheim geborenen Arzt und Dichter der Jobsiade, Karl Arnold Kortum, den es 1770 von Mülheim nach Bochum zog. „Die Bochumer haben schon früher gute Leute aus Mülheim importiert“, sagt Rawe mit einem Augenzwinkern. Wer weiß, was wir noch von Kai Rawe zu erwarten haben. Immerhin schrieb Dr. Kortum seinen berühmten Versroman über den angehenden Pfarrer und praktizierenden Nachtwächter Hieronimus Jobs erst 1784 in seiner Bochumer Wahlheimat. Wer weiß, was Dr. Rawe noch alles in Bochum einfällt. Denn der Mann der gegenwartsbezogenen Geschichte hat in seinen Vorträgen und Aufsätzen bewiesen, dass er amüsante Geschichte(n) erzählen kann. Und wenn er dann einst hochgeehrt und durch was auch immer berühmt geworden in die Annalen der Geschichte eingegangen sein wird, können wir und unsere Nachfahren ihm einen Ehrenplatz in unserem Stadtarchiv gewähren und darauf hinweisen: Er war und ist einer von Uns. Doch bis dahin müssen wir daheimgebliebenen Mülheimer erst mal dafür sorgen, dass die Geschichte unserer Stadt mal wieder ein echtes Gedicht wird, dass es lohnt erinnert und zitiert zu werden, frei nach unserem Mitbürger Kortum: „Weil ich nun die preiswürdige Gabe zu dichten vom Sanct Apoll erhalten habe. So habe, statt dass man sonst in Prosa erzählt, dafür einen sehr schönen Reim erwählt, um euch die Erfolgsgeschichte Mülheims zu erzählen.“ 

Dieser Text erschien am 22. November 2019 in der Neuen Ruhr Zeitung

Sonntag, 24. November 2019

Ein Mann der Geschichte

Der Historiker Dr. Kai Rawe schlägt ein neues Kapitel in seiner Lebensgeschichte auf. Er bleibt Leiter eines Stadtarchivs, wechselt in dieser Funktion aber von Mülheim nach Bochum. Am 1. Dezember tritt er seine neue Stelle an. Er bleibt aber Vorsitzender des Mülheimer Geschichtsvereins und Jury-Mitglied des Ruhrpreises für Kunst und Wissenschaft.
"Ich habe in Mülheim, trotz Personal- und Budgetkürzungen, viel Wertschätzung für meine Arbeit erfahren und habe mich hier sehr wohlgefühlt. Aber es reizt mich die Leitung des größeren Stadtarchivs in meiner Wahlheimat Bochum zu übernehmen, in der ich seit 25 Jahren lebe und auch viele Menschen kenne", erklärt Rawe seinen Wechsel, der auch mit einem Gehaltssprung nach oben verbunden ist.

Attraktive Aufgabe

Die Leitung des Bochumer Stadtarchivs ist für Rawe, der in Bochum Geschichte studiert- und als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Ruhruniversität seine Doktorarbeit über die Zwangsarbeiter im Ruhrbergbau des Ersten Weltkriegs geschrieben hat, eine attraktive Aufgabe. Denn zum Stadtarchiv gehört auch das Stadthistorische Museum der Stadt und eine Kooperation mit der geschichtswissenschaftlichen Fakultät der Ruhruniversität, an der auch Mitarbeiter des Stadtarchivs lehren.
Doch die Vorfreude auf seine neue Aufgabe in Bochum, verstellt Rawe nicht den dankbaren und zufriedenen Rückblick auf seine Zeit im Mülheimer Stadtarchiv. 2006 kam Rawe als Projektmitarbeiter mit einem Zweijahresvertrag zur Vorbereitung des Stadtjubiläums (2008) ins Stadtarchiv, das damals noch in einer ehemaligen Volksschule an der Aktienstraße untergebracht war. Am 2. Januar 2008 konnte er dann die Nachfolge seines 2006 pensionierten Vorgängers Dr. Kurt Ortmanns antreten. Nach Ortmanns war Rawe erst der zweite hauptamtliche Leiter des Stadtarchivs. Zwischen 2006 und 2008 hatte die damalige stellvertretende Leiterin Eva Kniese das Stadtarchiv kommissarisch geführt.
 
Zu den bitteren Pillen seiner Amtszeit zählt Rawe, dass das Stadtarchiv, ohne personelle Aufstockung, 2009 die mit der amtlichen Auskunftspflicht verbundene Archivierung der Standesamtsregister übernehmen musste. "Dass sind mehrere 100 Anfragen, die wir jedes Jahr beantworten müssen", erklärt der scheidende Leiter des Stadtarchivs, in dem aktuell sieben Mitarbeiter tätig sind. 
Zu den Höhepunkten seiner Amtszeit zählt Rawe, der in seinem ersten Berufsleben als Verwaltungsfachangestellter in seiner Heimatstadt Altena gearbeitet hatte, den Umzug des Stadtarchivs ins neue Haus der Stadtgeschichte an der Von-Graefe-Straße. Rawe lässt keinen Zweifel daran, dass dieser Ortswechsel und die Hausgemeinschaft mit der städtischen Musikschule dem Stadtarchiv gut getan hat, Denn im Haus der Stadtgeschichte gibt es neben Magazin- und Büroräumen, nicht nur den obligatorischen Lesesaal für Archivnutzer, sondern auch einen Vortragssaal, und eine Ausstellungsfläche im Erdgeschoss sowie einen Seminarraum, der sich in der stadtgeschichtlichen Projektarbeit mit Schulklassen, stadtgeschichtlichen Arbeitskreisen und anderen Einrichtungen bewährt hat. Auch an vielbeachtete Gemeinschaftsausstellungen im Haus Ruhrnatur und im Medienhaus erinnert sich Rawe gerne.
Für die Frau oder den Mann, die seine Nachfolge an der Spitze des Stadtarchivs antreten, hat Kai Rawe übrigens schon vorgearbeitet. Die Vorträge, die 2020 im Rahmen der Reihe zur Mülheimer Stadtgeschichte gehalten werden, sind ebenso eingestielt wie zwei Ausstellungen über antisemitische Postkarten und die 25-jährige Geschichte des Fördervereins Mülheimer Städtepartnerschaften.
Dieser Text erschien am 18. November 2019 im Lokalkompass der Mülheimer Woche

Samstag, 23. November 2019

Von kleinen und großen Abschieden

„So viele Zuhörer wünscht sich mancher Geistliche, wenn er predigt“, sagt die ehrenamtliche Leiterin der Saarner Klosterbücherei, Henny Reinke. Pfarrer Christian Böckmann gibt mit Blick auf die fast überfüllte Klosterkirche St. Mariä Himmelfahrt zu: „So voll ist es hier sonst nur an Weihnachten.“ Und Buchhändlerin Ursula Hilberath freut sich als Mit-Initiatorin des Saarner Bücherherbstes: „Wir hätten auch den Kölner Dom ausverkaufen können!“ 310 Kirchenbesucher finden an diesem Abend Platz auf Bänken und Stühlen. Sie sind gekommen, um Christine Westermann zu erleben. Die Journalistin, Autorin und Moderatorin stellt ihr Buch: „Manchmal ist es federleicht“ vor. Es geht um die kleinen und großen Abschiede im Leben. Das ist ein Thema wie gemacht für eine Predigt. Wenn sie ganz gegenwärtig vor dem Altar von St. Mariä Himmelfahrt von den Abschieden und Neuanfängen ihres Lebens liest und erzählt, kommt die Botschaft an. Die Menschen im Kirchenschiff hören gespannt zu. Aber es darf und wird auch geklatscht oder gelacht. 


Vor allem als Westermann einfühlsam und glaubwürdig von ihrer frühkindlichen Flucht aus der DDR, der Scheidung ihrer Eltern und dem viel zu frühen Tod ihres kulturell und politisch engagierten Vaters oder vom Krebstod einer lebenshungrigen und lebensbejahenden Freundin berichtet, bekommt ihre Lesung eine seelsorgerische Qualität, die man sich von so mancher Predigt und Liturgie wünschen würde. „Als Menschen schwanken wir angesichts der unausweichlichen Veränderungen in unserem Leben zwischen der Furcht vor eben diesen Veränderungen und dem Mut, sie anzunehmen. Ich habe gelernt, dass es im Leben keinen Mut ohne Angst gibt, aber dass es herrlich befreiend und federleicht sein kann, wenn man den Mut findet, sich von seinen Erwartungen, Vorsätzen und Verstrickungen zu trennen und sie einfach über Bord zu werfen.“


Und auch diese Botschaft gibt Christine Westermann ihren Zuhörern, Zuschauern und Lesern mit auf den Heimweg, ehe sie ihre an einem Büchertisch reichlich verkauften Bücher signiert: „Der liebe Gott hat es gut eingerichtet, dass uns die lebendige Erinnerung an einen geliebten Menschen bleibt, von dem wir uns verabschieden mussten. Und ich selbst verteidige meinen Kinderglauben mit aller Macht, dass ich behütet und beschützt werde.“ 


Nach der Lesung steht für Pfarrer Christinan Böckmann fest: „Das Kloster Saarn war und ist ein Ort der starken Frauen!“ Die Zisterzienserinnen haben hier gewirkt. Und jetzt sind die ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen der 1849 gegründeten Klosterbücherei ebenso in ihre Fußstapfen getreten wie etwa ihre Kolleginnen von der Gemeinde-Caritas, die tatkräftigen Saarner Buchhändlerinnen Ursula Hilberath und Brigitta Lange oder jetzt auch Christine Westermann. 

Dieser Text erschien am 27. Oktober 2019 im Neuen Ruhrwort

Freitag, 22. November 2019

Auch ein Stück Wiedergutmachung


 Am Wochenende haben 25 Frauen und Männer der seit 1992 aktiven Initiative Tschernobyl-Kinder im ehemaligen Gemeindezentrum an der Parsevalstraße gut 900 Päckchen und Pakete transportfertig gemacht. Ihr Ziel ist die etwa 2000 Kilometer entfernte Tschernobyl-Region.


Zu den gespendeten Hilfsgütern, die jetzt in die weißrussischen Städte Zhodino und Dobryn geschickt wurden, gehören Rollstühle, Rollatoren, Sportgeräte, LED-Leuchten, Hygieneartikel, Schreibutensilien für den Schulunterricht, Kleidung und haltbare Lebensmittel. „Wir unterstützen in der Tschernobyl-Region zwei Schulen, eine Sozialstation, ein Jugendzentrum und ein Zentrum, in dem Menschen mit Behinderung betreut werden“, erklärt Norbert Flör. Er leitet die Initiative Tschernobyl-Kinder, die unter dem Eindruck der Reaktor-Katastrophe des Jahres 1986 von den Mülheimern Dagmar und Horst van Emmerich ins Leben gerufen wurde. 


„Die Folgen des Atomkraft-Gaus kann man in Dobryn und Zhodino bis heute an einer hohen Zahl von Krebserkrankungen ablesen“, berichtet Flör. „Nach dem es durch die Flüchtlingswelle vor einigen Jahren bei den Spenden einen Einbruch gab, hat die Spendenbereitschaft der Mülheimer Bürger und Unternehmen wieder ihren alten Stand erreicht“, freut sich Flörs Stellvertreter Jürgen Skotschke. „Unser Engagement für die Menschen in der Tschernobyl-Region, mit denen wir auch persönlich verbunden sind, ist für uns eine angenehme Pflicht“, sagt Brigitte Biermanns. Sie ist seit 2003 nicht nur im Secondhandladen (Kohlenkamp 2) der Initiative ein Aktivposten. Sie hat auch den aktuellen Hilfstransport organisiert.


„In der Sozialarbeit vor Ort hat es in den vergangenen Jahren Fortschritte gegeben. Die entsprechenden Einrichtungen sind personell besser ausgestattet. Aber darüber hinaus sind sie in der praktischen Alltagsarbeit weitgehend auf sich alleine gestellt“, schildert Norbert Flör die Lage. Gerne hätte er einen gebrauchten Kleinbus mit auf die Reise geschickt, der in der Sozialstation für Fahrdienste dringend gebraucht wird. Doch bisher hat sich dafür kein Spender gefunden.

Für Flör und seine Mitstreiter von der Initiative Tachernobyl-Kinder ist die humanitäre Hilfe für die Menschen in Weißrussland auch deshalb eine Verpflichtung, weil sie wissen, dass dieses Land unter Stalin und Hitler ein Drittel seiner Bevölkerung verloren hat. Weitere Informationen gibt es im Internet unter: www.tschernobl-muelheim.org 

Dieser Text erschien am 18. November 2019 in der NRZ und in der WAZ

Mittwoch, 20. November 2019

Ganz schön ausgekocht

Auch das Private ist politisch. Das lehrte mich jetzt die Historikerin Daniela Rüther mit ihrem Vortrag zur Reihe der Mülheimer Geschichte. Im Haus der Stadtgeschichte war ihr Thema der Eintopfsonntag. Alte Mülheimer werden sich erinnern. Unter den Nazis mussten die Volksgenossen, die froh waren, wenn sie was zu beißen hatten, an Sonntagen im Herbst und Winter ihren Eintopf löffeln und die vermeintliche Ersparnis für den ausgefallenen Sonntagsbraten der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt spenden. Doch das so eingenommene Volksvermögen wurde von den Satansbraten an der damaligen Staatsspitze eben nicht nur für die armen Volksgenossen, sondern auch für die aufzurüstende Wehrmacht verwendet. Jeder weiß heute wie diese Geschichte ist geendet. Deshalb tun wir nicht nur am Vorabend des Volkstrauertages gut daran, auf keinen Fall anzubeißen, wenn uns politisch  extrem scharfe Rattenfänger den süßen Apfel der vermeintliche leichten politischen Erkenntnis als angeblich schmackhafte Alternative zum vermeintlichen Einheitsbrei der Demokratie anbieten, um damit ihr ganz eigenes Süppchen zu kochen. Ja. Die Demokratie ist, wie schon der Feinschmecker und britische Premierminister Winston Churchill wusste, die schlechteste Staatsform außer aller anderen. Sie ist kein Zuckerschlecken und lässt uns manch bittere Pille schlucken, um dafür zu sorgen, dass am Ende alle ein Stück vom Kuchen abbekommen. 

Dieser Text erschien in der NRZ vom 16. November 2019

Dienstag, 19. November 2019

Als es sonntags Eintopf gab


Das Winterhilfswerk und der Eintopfsonntag war keine uneingeschränkte Erfolgsgeschichte der nationalsozialistischen Sozialpolitik. Die zur Schau gestellte Solidarität der Volksgemeinschaft kam nur unter massivem Druck zustande und hatte ihre Risse. Das zeigte die Duisburger Historikerin Dr. Daniela Rüther mit ihrem Vortrag im Rahmen der Reihe zur Mülheimer Geschichte.


Daniela Rüther hat sich in ihrer bisherigen Forschungsarbeit unter anderem mit der NS-Geschichte der Firma Tengelmann beschäftigt. Dabei ist sie in der gleichgeschalteten Mülheimer Lokalpresse auch auf das Winterhilfswerk und den Eintopfsonntag gestoßen. Vor 50 Zuhörern beleuchtete Rüther die Motivation für das Propagandafeuerwerk, mit dem die Nationalsozialisten und ihre Reichspropagandaminister Joseph Goebbels 1933 das Winterhilfswerk und die in den Herbst- und Wintermonaten verordneten Eintopfsonntage ins Leben riefen.


„Die Nationalsozialisten standen 1933 unter politischem Erfolgsdruck. Denn damals lebten infolge der Weltwirtschaftskrise immer noch mehr als 15.000 der damals insgesamt 130.000 Mülheimer von staatlichen Hilfsleistungen. In dieser Situation wollten die Nationalsozialisten ihre Macht konsolidieren und den Staat von Sozialausgaben entlasten“, erklärte Rüther.


Die Nationalsozialisten gründeten 1933 die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt (NSV), die in den Herbst- und Wintermonaten Geld „für bedürftige Volksgenossen und gegen Hunger und Kälte“ sammelte. Durch den eingesparten Sonntagsbraten sollte der Eintopfsonntag Geld in die Kassen der NSV bringen, das von Blockwarten und NSV-Mitarbeitern an der Haustür eingesammelt wurde. Wer nicht spenden wollte und deshalb keine Spendenplakette erhielt, kam auf eine schwarze Liste und wurde gesellschaftlich geächtet. Nur so ist es für Rüther zu erklären, dass die Nothilfesammlungen nach 1933 ein Vielfaches von dem einbrachten, was Spendensammlungen der Wohlfahrtsverbände vor der der Machtübernahme der Nationalsozialisten eingebracht hatten. Kamen durch die Nothilfesammlungen im Winter 1932/33 rund 100 Millionen Reichsmark zusammen, waren es im Winter 1933/34 schon 350 Millionen Reichsmark. Später sorgten auch Zwangsabzüge bei der Lohnsteuerzahlung dafür, dass die zum Teil auch für die Wehrmacht zweckentfremdeten Spendeneinnahmen des Winterhilfswerkes rapide anstiegen und im Kriegswinter 1941/42 einen Rekordwert von 5 Milliarden Reichsmark erreichten.


Welchen propagandistischen Aufwand die Nationalsozialisten betrieben, um für das Winterhilfswerk zu werben, zeigte Rüther an einer öffentlichen Eintopfsonntagsveranstaltung, zu der das damals in Mülheim stationierte 2. Infanterieregiment 39 am 10. Oktober 1937 eingeladen hatte. 30.000 Mülheimer kamen damals zur Rennbahn Raffelberg. Ihre Motivation war aber weniger die Teilnahme am öffentlichen Eintopfessen als viel mehr der Besuch des am Raffelberg ausgetragenen Fußballspiels einer Regimentsauswahl gegen die Mannschaft des damaligen Deutschen Meisters Schalke 04. Dieser Werbeclou wurde möglich, weil einige Schalke-Spieler damals im Mülheimer Infanterieregiment ihren Wehrdienst ableisteten. Neben dem Schalke-Spiel wurden an der Rennbahn Raffelberg im Oktober 1937 auch „launige Alarmvorführungen“ und musikalisch untermalte „Gefechtsübungen“ präsentiert, die schon zwei Jahre später grausame Realität werden sollten. 


Hintergrund


Am kommenden Mittwoch, 20. November, hält der scheidende und nach Bochum wechselnde Leiter des Stadtarchivs, Dr. Kai Rawe, um 19 Uhr im Haus der Stadtgeschichte an der Von-Graefe-Straße 37 seinen Abschiedsvortrag. Unter dem Titel: „Wiedersehen macht Freude, unternimmt Rawe einen Streifzug durch die Mülheimer Geschichte.


Am gleichen Ort und zur gleichen Uhrzeit, beleuchtet der Heidelberger Historiker Prof. Dr. Bernd Braun am Donnerstag, 28. November, das in der NS-Zeit erlittene Schicksal der Familie des sozialdemokratischen Reichskanzlers Hermann Müller. Dieser Vortrag ist Teil der bis zum 23. Dezember  im Haus der Stadtgeschichte gezeigten Ausstellung über die Reichskanzler der Weimarer Republik. Alle genannten Veranstaltungen sind eintrittsfrei.

Dieser Text erschien am 17. November 2019 in NRZ und WAZ


Montag, 18. November 2019

Mahnung zum Frieden ist aktueller denn je

Ernst, würdig und mit mehr Teilnehmern als im Vorjahr haben Mülheimer am 100. Volkstrauertag der Toten von Krieg, Terror und Gewaltherrschaft gedacht. Gut 50 Mülheimer kamen am Samstagnachmittag zur Gedenkveranstaltung des Dümptener Bürgervereins am Schildberg. Gut 70 Bürger versammelten sich am Sonntagvormittag im Luisental und folgten damit der Einladung des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge.
Die Veranstaltung im Lusiental wurde vom Chor der Gesamtschule Saarn musikalisch begleitet, der unter der Leitung von Sebastian Klein mit Liedern wie "Dona nobis pacem/Schenk uns Frieden", "Halleluja" und: "Liebe ist wie wildes Wasser" den Kerngedanken des Volkstrauertages ebenso zum Ausdruck brachten wie die beiden Jugendstadträtinnen und Gustav-Heinemann-Schülerinnen Klara Aus der Fünten und Hannah Lena Hartmann, die im Luisental sprachen.

Frieden braucht Mut 

Hannah Lena Hartmann appellierte, "das unersetzlich wertvolle Gespräch mit den noch lebenden Zeitzeugen" der Kriegsgeneration zu suchen. Sie erinnerte daran, dass während der beiden Weltkriege und der NS-Diktatur insgesamt rund 80 Millionen Menschen, und damit so viele Menschen, wie heute in unserem Land leben, ihr Leben verloren haben. Hartmann betonte: "Wir brauchen heute Mut, um dem Hass den Rücken zu kehren und Versöhnung und Verständigung zu leben, so wie es 1965 die katholischen Bischöfe Polens in ihrem Brief an ihre deutschen Amtsbrüder vorlebten, in dem sie schrieben; "Wir gewähren Vergebung und wir bitten um Vergebung." Das braucht Mut.
Hartmanns Mitschülerin und Jugendstadtratskollegin erklärte unter anderem: "Gerade jetzt hat der Volkstrauertag eine unfassbare Aktualität und ist von großer Bedeutung. Er besteht nicht nur zum Gedenken, sondern auch zur scharfen Mahnung. Es wird gemahnt, in einer Zeit, in der wir in vermeintlichem Frieden und in Sicherheit Leben und in der Deutschland in Konflikten wie in Afghanistan mitkämpft und Waffen exportiert, aufmerksam zu werden. Kriege und Waffen, die augenscheinlich zur Menschenrechtswahrung und zur Friedensschaffung beitragen?! Aber Sie und ich wissen genau, wie viel Leid sich hinter jeder Kugel breit macht. Nur, weil die Kämpfe nicht hier stattfinden, heißt das nicht, dass wir unbeteiligt daran sind."

Nicht unbeteiligt sein

Der Kreisvorsitzende des Volksbundes, Markus Püll, sagte bei der gleichen Gedenkstunde. "Frieden zu schaffen und zu erhalten, braucht Mut. Die aktuellen weltpolitischen Ereignisse zeigen uns, dass wir in unserem Bemühen nicht nachlassen dürfen. Wir leben in einer Zeit, in der jüdisches Leben in Deutschland wieder zum Ziel von Übergriffen und bewaffneten Angriffen wird, wie zuletzt in Halle geschehen. Wir leben in einer Zeit, in der wir es uns nicht mehr erlauben können, unbeteiligt zu sein. Wir brauchen Mut zum Frieden. Das sind wir Opfern aller Nationen schuldig."
Bevor er mit Hannah Lena Hartmann, Klara Aus der Fünten und Markus Püll Kränze am Mahnmal im Luisental niederlegte, hatte Oberbürgermeister Ulrich Scholten in seiner Gedenkansprache unter anderem festgestellt: "Für eine hoffnungsvolle Zukunft müssen wir den Nationalismus überwinden, der in den vergangenen Jahrzehnten so viel Leid über unsere Völker gebracht hat. Der heutige Volkstrauertag mahnt uns, für die Werte der Demokratie einzutreten, um damit den Kurs in Richtung Frieden, Freiheit, Sicherheit und Völkerverständigung weiterhin einzuhalten. Für diese Werte müssen wir uns aktiv einsetzen. Denn sie sind nicht selbstverständlich."
Bereits am Vorabend des Volkstrauertages hatte Ludger Molitor, Pastor der katholischen Kirchengemeinde St. Barbara, bei der Gedenkstunde am Schidlberg ausgeführt: "Auch heute müssen wir Widerstand gegen Gewaltherrschaft, Terrorismus, politische und religiöse Verfolgung und gegen den Hass auf Fremde und Schwache leisten. Wir müssen unser Leben im Zeichen der Hoffnung, des Friedens und Versöhnung leben."
Dieser Text erschien am 17. November 2019 im Lokalkompass der Mülheimer Woche

Sonntag, 17. November 2019

Frieden & Freiheit sind nicht selbstverständlich


Erstmals werden bei der Kundgebung zum Volkstrauertag mit Klara aus der Fünten und Hannah Lena Hartmann (beide 18 zwei Jugend-Stadträtinnen die Gedenkansprache halten. Die Gedenkstunde, die vom Chor der Gesamtschule Saarn musikalisch begleitet wird, findet am morgigen Sonntag um 11:00 Uhr am Mahnmal im Luisental statt. 


Vor 100 Jahren hat der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge den Volkstrauertag Ins Leben gerufen. Jetzt wollen wir Die Brücke ins nächste Jahrhundert schlagen“, sagt der Kreisvorsitzende des Volksbundes Markus Püll. Die beiden Jugend-Stadträtinnen, die die Gustav-Heinemann-Schule in Dümpten besuchen, freuen sich auf ihre Aufgabe. 


„Wir werden eine zweigeteilte Ansprache halten, in der wir in die Vergangenheit schauen, aber auch betrachten, was Frieden und Freiheit für uns heute bedeuten“, erklärt Hannah Lena Hartmann.


„Wir sind als Jugendliche nicht verantwortlich für das Leid, das zwei Weltkriege über die Menschheit gebracht haben. Aber angesichts der aktuellen Kriege, die Menschen zu uns fliehen lassen und angesichts der Gefahr eines Rechtsrucks, der Rechtsextremismus und Rassismus er starken lässt, haben wir als Jugendliche die Verantwortung dafür zu sorgen, dass ich das Leid und Unrecht der Vergangenheit nicht wiederholen kann“, sagt ihre Jugendstadtratskollegin Clara aus der Fünten. 


Beide sind, anders, als viele ihrer Altersgenossen, mit dem Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge und mit dem Volkstrauertag vertraut. Sie haben zusammen mit 60 Mülheimer Schülern im vergangenen Herbst an einer Aktion des Mülheimer Volksbundes teilgenommen und Kriegsgräber auf dem Altstadtfriedhof gereinigt. 


„Diese Aktion ist vor allem bei den russischen Familien gut angekommen, die auf dem Altstadtfriedhof Angehörige liegen haben, die während des Zweiten Weltkrieges als sowjetische Zwangsarbeiter in Mülheim leiden mussten“, berichtet Markus Püll. Im Moment, so sagt er, seien die Gräber der gefallenen Soldaten und der ums Leben gekommenen Zwangsarbeiter, die auf dem Altstadtfriedhof ihre letzte Ruhe gefunden haben, noch sauber genug, so dass eine erneute Reinigungs Aktion jetzt keinen Sinn machen würde. Aber im kommenden Jahr soll es eine Wiederauflage der Grabreinigungsaktion mit Mülheimer Schülern geben.


„Es ist schon sehr berührend, wenn man auf den Grabsteinen die Namen und Lebensdaten der dort beigesetzten sieht und so erfährt, dassder Fünten  sie genauso alt waren wie wir oder unsere Geschwister“, sagt Jugend-Stadträtin Clara Aus der Fünten. Wie ihre Kollegin und Mitschülerin ist auch Hannah Lena Hartmann davon überzeugt, dass es keine beeindruckendere Mahnung gegen den Krieg und für den Frieden geben kann, als das persönliche Lebenszeugnis der Menschen, die wie ihre Großeltern und Urgroßeltern die Zeit von Nationalsozialismus an Weltkrieg noch miterleben mussten.


Die angehenden Abiturienten haben mit Urgroßeltern und Großeltern, aber auch mit geflüchteten Mitschülern aus internationalen Förderklassen  sprechen können, die Krieg Diktatur und Vertreibung am eigenen Leib erleben und erleiden mussten. „Es beeindruckt uns tief, was diese Menschen erlitten und überlebt haben und dass sie sich dennoch eine lebensbejahende Haltung bewahrt haben und sehr viel besser mit Schwierigkeiten des Lebens umgehen können als viele andere, für die Frieden, Freiheit und Wohlstand selbstverständlich erscheinen“, sind sich die Jugendstadträtinnen einig.

Für sie ist klar, dass ihre Generation angesichts des biologisch unausweichlichen Aussterbens der Kriegsgeneration die Verpflichtung hat, die Erinnerung an Krieg, Diktatur und Gewalt auf eine zeitgemäße Weise in die Zukunft zu tragen. „Wir wünschen uns eine lockere und offene Form des Gedenkens, die auch junge Menschen ansprechen kann, Ohne dass wir dafür schon ein Patentrezept hätten“, betonen die Aus der Fünten und Hartmann. Für sie steht außer Frage: „Auch wenn eines Tages die Zeitzeugen des letzten Krieges auf deutschem Boden gestorben sein werden, auf ihre lebendigen Erinnerungen zurückgegriffen werden muss, dann zum Beispiel, indem man ihre dokumentierten Lebenserinnerungen vorliest, anhört oder anschaut. Die Jugendstadträtinnen betonen: “Es ist großartig, dass wir hier seit 70 Jahren in Frieden und Freiheit leben und das soll auch in Zukunft so weitergehen. Aber das ist nicht selbstverständlich. Dafür müssen wir uns jeden Tag einsetzen, um unsere Demokratie zu erhalten.“ 


Hintergrund:



Der im Frühjahr 1919 vom Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge ins Leben gerufene Volkstrauertag wurde 1922 erstmals mit einer Gedenkstunde im Reichstag und 1925 erstmals als nationaler Gedenktag begangen. Die Nationalsozialisten instrumentalisierten den Volkstrauertag ab 1933 für ihre Ideologie und machten aus dem Volkstrauertag einen Helden-Gedenktag. 1952 verlegte der Deutsche Bundestag den Volkstrauertag vom Frühjahr in den Trauermonat November. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Volkstrauertag zu einem Tag, an dem nicht nur der deutschen Kriegstoten, sondern allen Opfern von Krieg und Gewalt gedacht wird. In den beiden Weltkriegen sind 7000 Mülheimer als Soldaten gefeiert. 1100 Mülheimer starben bei 160 Luftangriffen während des Bombenkriegs (1940-1945). 270 jüdische Mülheimer wurden Opfer des Holocaust. 3100 Mülheimer galten nach dem Zweiten Weltkrieg als vermisst. Laut UNO führen die aktuellen Kriege dazu, dass derzeit weltweit knapp 70 Millionen Menschen aus ihrer Heimat geflohen sind.

Dieser Text erschien am 15. November 2019 in NRZ & WAZ

Freitag, 15. November 2019

Luxus hat seinen Preis

Staunen Sie auch manchmal darüber, wenn Sie hören, lesen und sehen, was sich die Schönen und Reichen so alles leisten, weil sie es sich leisten können? Eine Penthousewohnung in der Stadt, eine Villa im Grünen und ein Ferienhaus auf Mallorca, einen Privat-Jet und eine Privatsekretärin. Die Aufzählung der Privilegien dürfen Sie nach ihren persönlichen Vorlieben im Geiste gerne vervollständigen. Irgendetwas müssen wir Otto Normalos falsch gemacht haben, dass wir nicht im Luxus schwelgen und uns ganz entspannt auf glamourösen Champagner-Partys tummeln können, sondern uns täglich im Hamsterrad abstrampeln müssen, damit es am Ende des Monats für die fixen Kosten reicht und uns das Wasser nicht bis zu Hals steht. Man kann es wohl so oder so sehen: Wir sind entweder zu blöd oder zu gut für dieses Leben. Doch der Luxus fängt nicht erst bei der Yacht an. Auch wer sich eine Putzfrau oder einen Putzmann als Haushaltshilfe leisten kann, darf sich schon glücklich schätzen, weil er einen kleinen Zipfel vom Luxus erwischt hat. Das wurde mir gestern klar, als im Kleinanzeigenteil unserer Zeitung las: „Putzfrau sucht Stelle in einem gepflegten Haushalt!“ Wie gesagt: Luxus muss man sich leisten können, und sei es, in dem man die eigene Wohnung erst mal auf Vordermann bringt, ehe man eine Putzfrau ins Haus lässt. 

Dieser Text erschien am 15. November 2019 in der NRZ

Donnerstag, 14. November 2019

Als Schwarz-Grün noch eine Sensation war

Dass CDU und Grüne mit der NRW-Gleichstellungsbeauftragten Diane Jägers als OB-Kandidatin 2020 in die Kommunalwahl ziehen, sehen der Christdemokrat Hans Georg Specht (79) und der Grüne Wilhelm Knabe (96) "wie ein Geschenk zum Silbernen Jubiläum der schwarz-grünen Ratsmehrheit, die Mülheim von 1994 bis 1999 regierte. Vor 25 Jahren wurden Specht und Knabe von dieser Mehrheit zum Oberbürgermeister und zum Bürgermeister gewählt.

"Damit machte Mülheim als erste deutsche Großstadt mit einer schwarz-grünen Ratsmehrheit Schlagzeilen und wir mussten Interviewanfragen der nationalen und internationalen Presse beantworten", erinnert sich Specht. "Ich war damals das größte Hindernis beim Zustandekommen der ungewöhnlichen Koalition, da ich vor allem bei den Frauen in der grünen Ratsfraktion als konservativer Law-and-order-Politiker galt", berichtet Specht. Deshalb enthielten sie sich auch bei seiner OB-Wahl im November 1994. In der Rückschau auf seine fünfjährige Amtszeit freut er sich darüber, dass mit den meisten seiner seinen grünen Kritikerinnen eine Aussöhnung möglich war. Als ich 1999 aus gesundheitlichen Gründen auf eine Kandidatur als hauptamtlicher Oberbürgermeister verzichtete, wurde das auch von einigen Frauen aus der grünen Ratsfraktion bedauert", sagt Specht.


"Wir hatten eine gemeinsame Leidensgeschichte unter der SPD gehabt, die bis 1994 mit absoluter Mehrheit regiert und vieles niedergestimmt hatte, was von uns im Rat beantragt worden war. Außerdem fanden wir in den Sondierungsgesprächen nach der Kommunalwahl vom 16. Oktober 1994 heraus, dass wir mit der CDU gemeinsame Themen einer politischen Zusammenarbeit formulieren konnten. während uns die SPD damals mit einem Dezernenten-Posten abspeisen, aber ansonsten ihre Politik wie gewohnt fortsetzen wollte", erklärt Wilhelm Knabe das Zustandekommen einer Koalition, die damals von einem Drittel der grünen Parteimitglieder abgelehnt wurde. Auch wenn Hans-Georg Specht keinen Hehl daraus macht, dass sich die CDU mit der Basisdemokratie der Grünen schwertat, ist er sich mit Wilhelm Knabe darin einig, dass es zwischen Schwarzen und Grünen einen wertkonservativen Konsens gab, der natürliche und historisch gewachsene Lebensräume erhalten wollte.


Erfolgsgeschichte Medl



Specht und Knabe sehen die die von Schwarz-Gün beschlossene Gründung der Mülheimer Energiedienstleistungsgesellschaft Medl als den größten und nachhaltigsten Erfolg des Bündnisses, das auch das Autonome Zentrum an der Auerstraße, das Kulturzentrum Ringlokschuppen und die später wieder abgewickelten kommunalen Eigenbetriebe für Kultur und Grünpflege aus der Taufe hoben. "Die Medl, deren erster Geschäftsführer Hans-Gerd Bachmann bis zum letzten Tag einen exzellenten Job gemacht hat, spült heute jedes Jahr drei bis fünf Millionen Euro in die Stadtkasse", sagt Specht nicht ohne Stolz. Dem Forstwissenschaftler Knabe war natürlich auch der gemeinsam beschlossene und auf Renaturierung setzende Waldentwicklungsplan, der vom damaligen Eigenbetriebsleiter Dietrich Pfaff vorangetrieben wurde, ein Herzensanliegen. Das galt auch für die Beibehaltung der städtischen Anteile an der Rheinisch-Westfälischen Wasserwerksgesellschaft und die Verpflichtung der RWW auf eine nachhaltige Wasserwirtschaft. Aber er räumt auch ein, dass die Idee einer Vergärungsanlage, die aus Müll Biogas und damit Energie produzieren sollte, in der Praxis floppte.

Außerdem gelang es dem OB nicht, das neue jüdische Gemeindezentrum in Mülheim anzusiedeln, da die Stadt Duisburg nur ein Baugrundstück im Innenhafen in das Gemeinschaftsprojekt der Städte Mülheim, Duisburg und Oberhausen einbringen konnte.

Mit Blick auf Ruhrbania und das Hafenbecken an der Ruhrpromenade sieht Specht die von Schwarz-Grün beschlossene Schließung des als Alten Stadtbades (1998) heute als Fehler an. "Mit einem modernisierten Stadtbad hätte man die Innenstadt beleben und sich das Geld für ein überflüssiges Hafenbecken ersparen können." Erspart hätte sich Specht aus heutiger Sicht auch seine Zustimmung zum 1998 eröffneten Ruhrbahntunnel, durch den heute die Straßenbahnlinien 102 und 901 fahren. "Wäre das damals geplante, dann aber vom Land aufgegebene Stadtbahnnetz Rhein-Ruhr verwirklicht worden, hätte diese Mülheimer Teilstrecke Sinn gemacht und dem Ruhrgebiet einen Teil seiner heutigen Verkehrs- und Umweltprobleme genommen", ist Specht überzeugt.


Umdenken und umsteigen



Ein gut ausgebauter öffentlicher Personennahverkehr ist auch für den Grünen Wilhelm Knabe ein Herzensanliegen, das aus seiner Sicht nicht nur ökologisch, sondern auch demografisch Sinn macht. Vor allem die Streichung der Buslinie 132 (Heißen-Mintard) sieht er als einen Sündenfall. Er sieht aber auch die Eigenverantwortung der Bürger, "die in ausreichender Zahl vom Auto auf Bus und Bahn umsteigen müssen, wenn wir einen funktionierenden und bezahlbaren Öffentlichen Personennahverkehr haben wollen." Specht, der sich als passionierter Radfahrer auch für den Ausbau des Radwegenetzes stark macht und den Ruhrradschnellweg als Schritt in die richtige Richtung lobt, plädiert für eine regionale Verkehrsgesellschaft im Ruhrgebiet, die wirtschaftlicher agieren könne, in dem sie teure Parallelverkehre abschafft und stattdessen gezielt Lücken im Nahverkehrsmetz schließt. Verkehrstechnisch und ökologisch katastrophal haben sich nach Spechts Ansicht die "Herausnahme der Ruhrstraße und der Abriss des Overflys im Bereich Aktienstraße/Friedrich-Ebert-Straße ausgewirkt." Mit Sorge sehen Knabe und Specht die finanzielle Entwicklung, die Verdrängung der hausgemachten Anteile am Mülheimer Schuldenberg. Dieser Schuldenberg, so Specht, sei seit 1997 in den letzten 25 Jahren von 542,8 Millionen D-Mark (277,53 Millionen Euro) auf heute über zwei Milliarden Euro angestiegen. Auch daran erinnern sich Knabe und Specht, dass Schwarz-Grün vor gut 20 Jahren eine Beigeordnetenstelle einsparte und die Zahl der Ratsmitglieder um vier auf heute 55 reduzierte, aber dann an der Personalie des MST-Geschäftsführers Stefan Zowislo zerbrach.

Gute Ratschläge wollen die beiden Mülheimer Elder Statesmen den heute politisch aktiven Kommunalpolitikern nicht aus dem Ruhestand mit auf den Weg geben. Ganz grundsätzlich wünschen sich Wilhelm Knabe und Hans-Georg Specht aber eine aktive Bürgergesellschaft, eine von gegenseitigem Respekt getragene politische Kultur und eine Politik, die sich an ihre eigenen Versprechen hält.


Dieser Text erschien am 12. November 2019 im Lokalkompass der Mülheimer Woche

Schöne Straße?!

  Für die Mülheimer Presse und das neue Mülheimer Jahrbuch habe ich mich an 50 Jahre Schloßstraße erinnert. So alt bin ich also schon, dass ...