Wie haben die Mülheimer vor 100 Jahren Weihnachten gefeiert. Ein Blick in die Weihnachtsausgabe der Mülheimer Zeitung vom 23. Dezember 1922 und deren Anzeigenteil zeigt es. Die Zeitung ist damals noch das Leitmedium schlechthin. Und die im Verlag Marcks erscheinende Mülheimer Zeitung kann 1922 ihr 50-jähriges Bestehen feiern.
Unter der Überschrift: „Weihnachten 1922“ heißt es unter
anderem: „Denkt an die armen Mitmenschen! Am meisten freuen sich wohl die
Kleinen auf den Lichterglanz des Weihnachtsbaumes und sie hoffen, dass
vielleicht der eine oder andere Herzenswunsch in Erfüllung gehen wird. Glückliche
Kindheit, der ein frohes und trautes Weihnachten wird. Die Kinder wissen nichts
von derben Enttäuschungen und schmerzlichen Erinnerungen. Sie kennen nichts von
dem lähmenden Druck, der jetzt wieder verstärkt auf allen Gemütern lastet. Und
wenn etwas ihre Stimmung beeinflusst dann ist es die widrige Witterung, weil
man sich den Geburtstag des Christkindes eigentlich nicht ohne Schnee Eis und
Schlittengeläut vorstellen kann. Angesichts des guten alten Weihnachtszaubers
sollte eigentlich in allen Herzen eine frohe Zukunftsstimmung sein. Aber wir
können nicht den Maßstab früherer Jahre an dieses Fest legen, das vielen
Erwachsenen wieder quälende Sorgen bereiten wird. Wer mit Kümmernis im Herzen
nicht weiß, wie er den Speis und den Trank für den folgenden Tag besorgen soll,
wo graue Armut und knöcherne Not ständige Hausgäste sind, da sind auch die Tage
des Wünschens und Hoffens eine quälende Last. Erinnern wir uns gerade in dieser
Zeit daran, dass die deutschen Weihnachten immer eine Zeit der helfenden
Nächstenliebe gewesen sind, in der die Herzen besonders weich gestimmt sind. Und
deshalb öffnen sich die Hände in dieser Zeit auch rascher zum seligen Geben als
sonst. Gerade in diesem Jahre, in dem das Gespenst der Armut umherschleicht,
müssen sich sehr viele Leute doch darauf besinnen, dass es eine schöne Tugend
ist, wenn man denen die in bedrückender Bedrängnis leben, etwas vom eigenen
Glück mitgeben und so ihren Glauben daran stärken kann, dass das Fest der Liebe
auch an den unglücklichen Erdenkindern nicht spurlos vorübergeht.“
Der ernste Appell an die mitmenschliche Hilfsbereitschaft
kommt nicht von ungefähr. Weihnachten steht vor 100 Jahren unter dem Vorzeichen
der Hyperinflation, die zwischen 1923 und 1925 die Vermögen der Mülheimer
vernichten und den wirtschaftlichen und sozialen Alltag in unserer Stadt noch
mehr als bisher aus den Fugen geraten lassen wird, weil die Preise
unkalkulierbar werden. Für die Hyperinflationsjahre weist das statistische
Bundesamt deshalb auch keine Durchschnittslöhne. 1921 hatte das
durchschnittliche Brutto-Monats-Gehalt noch bei 831 Mark gelegen.
Vier Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkrieges müssen die
Deutschen, die jetzt in einer von Rechts- und Linksextremisten angefeindeten Republik
leben, milliardenschwere Reparationsleistungen erbringen, die ihnen der
ungeliebte Friedensvertrag von Versailles seit drei Jahren auferlegt. Unter dem
Eindruck der Not haben sich in der Stadt die sozialdemokratische
Arbeiterwohlfahrt, die katholische Caritas und die evangelische Diakonie als Sozialverbände
gebildet und mit dem Sozialdemokraten Ernst Tommes hat die Stadt erstmals einen
Wohlfahrtsdezernenten, der die kommunale Sozialpolitik koordiniert. Auch in
Mülheim haben die Bürgerinnen und Bürger mit Arbeitsniederlegungen und einer
Protestkundgebung auf dem Rathausmarkt reagiert, nachdem der liberale und
jüdische Reichsaußenminister Walther von Rathenau am 24. Juni 1922 einem
Mordkomplott der rechtsextremen Organisation Consul zum Opfer gefallen ist.
Bezeichnend für die galoppierende Inflation sind die Preise,
die man dem Anzeigenteil der Mülheimer Zeitung am 23. Dezember 1922 entnehmen
kann. Da wird zum Beispiel das Pfund Rindfleisch für 560 Mark, das Paket
Weihnachtskerzen für 195 Mark, das Pfund Margarine für 980 Mark, das Pfund
Butter für 1750 Mark und ein halbes Pfund Bohnenkaffee für 600 Mark angeboten.
In den meisten Werbeanzeigen bieten die Händler ihren Kunden
Ratenzahlungen an. Ablenkung und Trost finden die von der Not gebeutelten
Mülheimer an Weihnachten 1922 nur in der Kirche oder im Kino. In den Mülheimer
Filmtheatern laufen damals die neuesten, musikalisch untermalten, Stummfilme.
Für den ersten Weihnachtstag 1922 kündigt die Mülheimer
Zeitung ein Konzert des Mülheimer Kirchenchores an, das um 20 Uhr in der
Petrikirche beginnen soll. Von einem Eintrittspreis ist keine Rede.