Montag, 20. März 2023

ADE FRAU PFARRERIN

 Als Pfarrerin glaubt Esther Kocherscheidt von Berufswegen an das ewige Leben. Doch nicht nur ihr irdisches Berufsleben ist ebenso begrenzt wie das aller Menschenkinder. Mit einem Abschiedsgottesdienst, der am 19. März in der Matthäuskirche an der Oberheidstraße gefeiert wurde, endete ihr Berufsleben.

Mit ihrem Ruhestand beginnt für die evangelische Theologin, die mit ihrer Familie in einem Mehrgenerationenhaus im Schatten der Styrumer Immanuelkirche lebt, ein neues Leben. Kocherscheidt möchte mehr Zeit in ihrem Traumland Dänemark verbringen und Dänisch lernen. Sie hat schon einen entsprechenden Kurs des Katholischen Bildungswerkes Essen im Auge.

Arbeit im Team war für die aus Wuppertal stammende und seit 1992 als Pfarrerin im Mülheimer Norden arbeitende evangelische Christin noch nie ein Problem, sondern Teil der Lösung für eine im permanenten Strukturwandel lebende Kirche. 

Diesen Strukturwandel in einer aus demografischen und gesellschaftlichen Gründen schrumpfenden Kirche musste sie als Pfarrerin mitgestalten und miterleiden. Das ging nicht ohne Kritik, Selbstkritik, Enttäuschungen und menschliche Verletzungen ab. Kocherscheidt scheiterte mit ihrem Versuch, die Markuskirchengemeinde in die 2011 neugegründete Lukaskirchengemeinde hineinzuholen und im Rahmen dieser Fusion das Gemeindezentrum am Knappenweg aufzugeben.

Auch von ihrem geliebten Gemeindezentrum am Rolandskamp, das heute von einer freikirchlich-evangelischen Gemeinde genutzt wird, musste sie sich trennen. Nach 20 Jahren in der Markuskirchengemeinde, war Kocherscheidt dankbar für einen Neuanfang in der Lukaskirchengemeinde. Hier hat sie in den vergangenen zehn Jahren als Trauer- und Krisenbegleiterin sowie als „Schulpfarrerin“, Menschen aller Generationen „die lebensbewältigende Hilfe vermitteln können, die in den Geschichten der Bibel steckt.“ Auch heute können Menschen innerhalb und außerhalb der Kirche nach Kocherscheidts Überzeugung mit der Bibel lernen, „dass man auch nach Niederlagen und Lebenseinschnitten immer wieder neu anfangen kann, wenn man sich der damit verbundenen Veränderungs- und Beziehungsarbeit stellt.“ Auch wenn sie die angehende Ruheständlerin auf eine Lebenszeit ohne Sitzungen und einen immer vollen Terminkalender freut, will sie ihre Lebenserfahrung auch in Zukunft nicht nur ihrer Familie, sondern als Lesepatin auch Kindern zugutekommen lassen, die das Lesen und Vorlesen erst noch als eine Lebenshilfe entdecken müssen, können und sollen.


Mülheimer Presse & Evangelische Kirche

Sonntag, 19. März 2023

Ein Thema fürs Leben

 Mit einem Thementag auf dem Kirchenhügel will das 2019 gegründete ökumenische Trauernetz Mülheim die die Themen Tod und Trauer aus der gesellschaftlichen Tabuzone herausholen und damit Menschen ansprechen und zusammenbringen, die sich mit diesen Themen beruflich, ehrenamtlich, persönlich und interessehalber beschäftigen. Aus diesem Kreis kommen auch die Akteure, die sich vor vier Jahren zum Trauernetz Mülheim zusammengetan haben. Bestatter und Trauerredner machen ebenso mit, wie Pfarrer, Trauerbegleiter, Psychologen, verwaiste Eltern und in der Hospizarbeit engagierte Menschen.

Bisher haben sich schon 50 Interessenten für den Thementag am 22. April angemeldet. Los geht es um 9.30 Uhr. Das Ende ist für 16.15 Uhr geplant. Auf die Teilnehmenden des Thementages warten 16 kognitive und kreative Vorträge, Workshops und einem Markt der Möglichkeiten. Tagungsorte sind das Petrikirchenhaus, die Petrikirche, die Marienkirche und im katholischen Stadthaus. „Wir können insgesamt 150 Menschen eine Teilnahme ermöglichen“, sagt Beerdigungsleiter und Trauerbegleiter Bernd Heßeler aus dem Lenkungskreis des Trauernetzes. Er stellt fest, dass sich bisher deutlich mehr Frauen als Männer für den Thementag angemeldet haben. „Männer tun sich deutlich schwerer damit, über ihre Gefühle zu sprechen, obwohl sie davon profitieren. Deshalb wünsche ich mir, dass sich noch deutlich mehr Männer für den Thementag anmelden“, sagt Heßeler.

„Ich freue mich, dass wir die Teilnehmenden des Thementages mit profilierten Referenten und Referentinnen ins Gespräch bringen können“, wirbt Diakonin Iris Schmitt. „Wir sprechen ausdrücklich auch Menschen an, die nicht um einen verstorbenen Menschen, sondern um den Verlust ihres Arbeitsplatzes, ihrer Lebenspartnerschaft oder ihrer bisherigen Lebenspläne trauern“, ergänzt Gemeindereferentin Andrea Schlüter. Sie ist „den einigen wenigen Sponsoren aus der Mülheimer Wirtschaft dankbar, die die Anschubfinanzierung des Thementages ermöglicht haben.“ Auch ein Teil des Hoffnungspreisgeldes der christlichen Stadtkirchen fließt in die Finanzierung des Thementages. Weitere Sponsoren sind aber willkommen.

Wer am Thementag rund um Tod und Trauer auf dem Kirchenhügel teilnehmen möchte, kann sich bis zum 17. März bei Iris Schmitt unter der Rufnummer: 01578/6403672 oder bei Andrea Schlüter unter der Rufnummer: 0208/380093 anmelden. Eine Online-Anmeldung ist möglich per Mail an: trauernetz-mh@kirche-muelheim.de oder per Post an: Iris Schmitt, Pastor-Barnstein-Platz 2, 45468 Mülheim. . Weitere Informationen findet man im Internet unter: www.trauernetz-mh.de. Die Teilnahme kostet zehn Euro. 

Samstag, 18. März 2023

Der kleine Prinz

 Zehn Jugendliche aus der Vereinten Evangelischen Kirchengemeinde haben am Samstagnachmittag zusammen mit Pfarrer Dietrich Sonnenberger auf dem ehemaligen Holthauser Friedhof an der Röntgenstraße das Grab des aus Kamerun stammenden Prinzen Moses Equalla Deido gepflegt und mit Tulpen, Narzissen und Primeln neu bepflanzt.

Prinz Moses Equalla Deido wurde auf dem 1878 angelegten und 1917 geschlossenen Friedhof beigesetzt, nachdem er am 1. Mai 1891 im Alter von nur 15 Jahren an den Folgen einer Lungenentzündung gestorben war. Diese hatte er sich im Winter 1890/91 nach einem Sturz in eine eiskalte mit Wasser gefüllte Lehmkuhle zugezogen.

Bevor sich die Jugendlichen aus der VEK mit Schippe, Schubkarre, Arbeitshandschuhen und Pflanzen auf den Weg zum alten Holthauser Friedhof machten, ließen sie sich bei einer Videokonferenz in der Pauluskirche an der Witthausstraße vom Urgroßneffen des Prinzen Moses Equalla Deido, Prinz Jean-Pierre Felix Eyoum vom Schicksal seines Vorfahren berichten. Sie staunten darüber, dass der heute 72-jährige Jean Pierre Felix Eyoum, über 40 Jahre als Sonderschullehrer in Bayern gearbeitet hat und heute mit seiner aus Düsseldorf stammenden Frau in München lebt, auf den Spuren seines Vorfahren wandelt.  Beeindruckt und berührt zeigten sich die Jugendlichen davon, dass der seit 1961 unabhängige westafrikanische Vielvölkerstaat Kamerun zwischen 1884 und 1919 eine deutsche Kolonie war und die Eltern des Prinzen Moses Equalla Deido ihrem Sohn etwas Gutes tun wollten, als sie ihn 1890 in das Land ihrer „Schutzmacht“ und ihrer Handelspartner schickten, damit er dort deren Sitten, Gebräuche und Sprache erlernen konnte. So besuchte er in Holthausen die Evangelische Volksschule am Werdener Weg und fand mit dem Volksschullehrerehepaar Heinrich und Anna de Jong Gasteltern. Sie und ihre Nachfahren pflegten dann auch über Jahrzehnte das Grab des in ihrer Obhut verstorbenen Prinzen aus Kamerun. 1902 besuchte König Epe Jim Equalla Deido das Grab seines Sohnes. Der König führte damals eine kamerunische Delegation an, die sich in Berlin über die Mängel der deutschen Kolonialverwaltung beschweren wollte.

Heute sind es nicht nur Pfarrer Dietrich Sonnenberger und Jugendliche aus seiner Kirchengemeinde, sondern auch eine Bürgerinitiative um die Holthauser Eheleute Wolfgang und Dagmar Peek, die sich um die Pflege des alten Holthauser Dorfriedhofes kümmern und ihn vor wohnungsbaulichen Begehrlichkeiten zu retten versuchen. Ausgang offen.

Pfarrer Dietrich Sonnenberger stieß durch seine Leidenschaft fürs Geo-Cashing auf das Holthauser Grab des unglücklichen Prinzen aus Kamerun, dessen Grabstein 1989 vom Mülheimer Steinmetz Klingenberg erneuert worden ist. Sonnenberger sagt: „Dass ist ein Stück unserer gemeinsamen Gesichte und gehört deshalb zu unserem Stadtteil. Indem wir die Erinnerung an das Lebensschicksal des Prinzen Moses Equalla Deido wachhalten, erinnern wir uns in einer zunehmend multikulturellen Stadtgesellschaft daran, wie wichtig es ist, dass wir uns als Menschen mit Empathie begegnen. Deshalb fände ich es auch schön, wenn eine der neuen Straßen in unserer Stadt nach Moses Equalla Deido benannt werden könnte und er, wie andere Persönlichkeiten, die zur Geschichte Mülheims gehören, ein städtisches Ehrengrab erhalten würden.“

Der 14-jährige Max Bungert, wundert sich bei der Gartenarbeit am Grab des jungen Prinzen aus Kamerun, „dass er damals ausgerechnet zu uns nach Mülheim gekommen ist.“ Ihn erschüttert es, „wie grausam auch die Deutschen die Menschen in ihren Kolonien behandelt und sie hier bei uns in Völkerschauen vorgeführt haben.“ Für ihn steht fest: „So etwas darf es nie wieder geben!“ Das sieht seine Mitstreiterin, die zwölfjährige Leticija Braun im Angesicht des Prinzengrabs genauso. Die Tochter einer bosnischen Mutter und eines deutsch-polnischen Vaters sagt: „Ich finde es krass, dass die europäischen Großmächte auf der Landkarte Afrikas einfach mit dem Lineal Staatsgrenzen gezogen und ihre Kolonien untereinander verteilt haben. Genauso krass und traurig finde ich, dass ein Junge, der gerade mal drei Jahre älter war, als ich es jetzt bin, weit weg von seiner Heimat in einem fremden Land sterben musste.“ Sie sieht das Lebensbeispiel des jungen Prinzen aus Kamerun, der seit nunmehr 132 Jahren in der Mülheimer Erde ruht, als eine Mahnung: „, dass wir uns vor Vorurteilen hüten und uns als Menschen besser begegnen und kennenlernen sollten.“


 Mülheimer Presse

Freitag, 17. März 2023

Was uns die Bibel zu sagen hat

 Was hat uns die Bibel heute zu sagen? Diese Frage versucht die Speldorfer Grafik-Designerin Cornelia Steinfeld mit den Mitteln ihrer Kunst, der visuellen Kommunikation zu beantworten. Am Freitagabend stellt die 41-Jährige ihr Buch: „Die Bibel in Formen und Farben“, dessen Texte und Grafiken im Herbst auch in der Petrikirche ausgestellt werden sollen um 19.30 Uhr in der Broicher Buchhandlung Bücherträume an der Prinzess-Luise-Straße 5 bis 7 dem interessierten Publikum vor.

Im Gespräch mit der Lokalredaktion erklärt die selbstständige Diplom-Grafikdesignerin, die vor allem für Auftraggeber aus Kirche und Kultur arbeitet, das Motiv ihres Projektes, das sie inzwischen auch in Kirchen und Schulen vorgestellt und diskutiert hat.

Wie kamen Sie zum Grafik-Design?

Steinfeld: Das hat mit einer Grafikdesignerin zu tun, bei der ich als Sechsjährige einen Malkurs besucht habe. Diese Frau hat mich so begeistert, dass ich damals schon wusste: Ich will beruflich einmal das Gleiche wie sie machen.

Was macht in unserer visuellen Informationsgesellschaft ein gutes Grafik-Design aus?

Steinfeld: Komplexe Dinge mit grafischen Mitteln auf ihren Kern zu reduzieren und diesen Kern damit auf den ersten Blick erkennbar zu machen. Wir haben es heute mit einer text- und bildreichen Informationsflut zu tun, die wir kaum noch verarbeiten können, weil sie so überladen ist. Hier setzt das Grafik-Design an, indem es Inhalte und Zusammenhänge vereinfacht darstellt und sie so selbsterklärend macht. Meine Farb- und Formensprache schafft in unserer schnelllebigen und hektischen Zeit Freiräume der kontemplativen Betrachtung, die unsere eigenen Ideen inspiriert.

Warum haben Sie die Bibel in Farben und Formen übersetzt?

Steinfeld: Ich möchte den Menschen zeigen, dass die alten Geschichten aus der Bibel uns auch heute noch viel zu sagen haben. Man muss nur den Kern verstanden haben, dann kann man daraus für sein eigenes Leben Inspiration und Stärke gewinnen. Der Glaube mit seinen Werten wie Nächstenliebe und Gemeinschaft ist das Wichtigste daran.

Was läuft falsch, wenn immer mehr Menschen die christlichen Kirchen verlassen?

Steinfeld: Ich glaube, dass es auch heute noch viele Menschen gibt, die auf der Suche nach Hoffnung, Gemeinschaft, Frieden und Glauben sind. Aber die Kirche muss offener, lebensnäher und ökumenischer werden. Sie muss auf Menschen zugehen und fragen: Was wollt ihr? Was braucht ihr? Was könnt ihr? Es müsste viel mehr Austausch und Vernetzung innerhalb der Kirche geben.

Haben Sie schon ein neues Buch mit Farben und Formen in Arbeit?

Steinfeld: Ja. Darin beschäftige ich mich mit dem Thema Trauer. Auch hier kann ich mit meinen Mitteln der visuellen Kommunikation trauernden Menschen Zeit und Raum für ihre selbstbestimmte Trauer geben. Ebenso wie in meinem Bibel-Buch werde ich auch in meinem Trauer-Buch mit der Kombination aus Farben, Formen und kurzen Impulstexten ganz unterschiedlicher Ko-Autorinnen und Autoren arbeiten. 

Cornelia Steinfeld: Die Bibel in Farben und Formen, 96 Seiten, Verlag Schnell und Steiner, im Buchhandel erhältlich für 19,90 Euro.


Mülheimer Presse

Mittwoch, 15. März 2023

"Wir alle sind Beethoven!"

 Klassik begeistert Kinder und ihre Eltern. Das 15. Mülheimer Familienkonzert trat am Sonntag den Beweis dafür an. Gleich dreimal ging das 70-minütige „Abenteuer Beethoven“ im vollbesetzten Theatersaal der Stadthalle über die Bühne. Kulturdezernentin Dr. Daniela Grobe dankte den Sponsoren, die die Neuauflage des Familienkonzertes möglich gemacht haben. Sie wünschte dem generationsübergreifenden Publikum „ein unvergessliches musikalisches Erlebnis, das froh und stolz macht.“

Eine Zufallsumfrage im Foyer zeigte, dass viele Eltern zum ersten Mal mit ihren Kindern ein Konzert besuchten und „deshalb gespannt auf das Abenteuer Beethoven waren.“

Nach dem Konzert sahen und hörten alle im Auditorium Beethovens Musik mit anderen Augen und Ohren. Sie hatten erlebt, warum dieser Komponist zu den größten seiner Zunft gehört. Dafür sorgten nicht nur die Instrumentalisten des Studierendenorchesters Münster, sondern auch die Schauspieler und Schauspielerinnen Ulrike Schwanse, Björn Lukas und Micha Baum vom Jugendtheater Hagen. Sie spielten ein konfuses Filmteam, das auf der Bühne und in den Reihen des Orchesters herum wuselte, um einen abenteuerlichen Beethovenfilm zu drehen. Scheinbar nebenbei gingen die Schauspielerinnen und Schauspieler dabei immer wieder von einer Instrumentengruppe zur nächsten und stellten so die verschiedenen Instrumente und Ihre Bedeutung für die sinfonische Sätze Ludwig van Beethovens vor. Ulrike Schwanse, die von Regisseurin Anja Schöne unterstützt wurde, war zugleich als Projektleiterin für die Familienkonzerte zuständig.

Nicht nur die Lacher der Kinder hatte das Theatertrio auf seiner Seite, als es unter anderem erzählte, dass Ludwig van Beethoven ein geniales aber auch ein chaotisches Genie war, das lieber seine Noten und seine musikalischen Ideen ordnete als seine Wohnung aufzuräumen und deshalb insgesamt 70-mal umzog. Mit den Musizierenden und ihrem Dirigenten Nicola sezierten die Schauspielerinnen und Schauspieler die Bedeutung und die Entstehungsgeschichte der Sinfonien ätze aus Beethovens.

Auf kindgerechte Weise erfuhr das Publikum zwischen den Takten und Noten auch, dass Beethoven, der im Laufe seines Lebens sein Gehör verlor, ein schweres Schicksal bewältigen musste, das er aber mit Lebensmut und mit einem unbedingten Willen zum Frieden, zur Freiheit und zur Gleichheit aller Menschen musikalisch und menschlich meisterte. Die musizierenden Studierenden aus Münster und die Grundschüler aus Mülheim, die zwischenzeitlich mit auf der Bühne standen, um Beethovens musikalische Intentionen mit Tönen, Geräuschen und Bewegungen zu inszenieren und zu interpretieren, bekamen viel Applaus. Einer der zuhörenden und auf der Bühne mitwirkenden Grundschüler brachte es auf den Punkt: „Wir sind alle Beethoven!“ Da passte es zum guten Schluss des Familienkonzertes, dass alle im Theatersaal gemeinsam Beethovens Ode an die Freude sangen. Ein Gewinn war auch die Licht,- Ton und Videotechnik. Sie brachte das Bühnengeschehen auf eine große Leinwand, so dass alle im Theatersaal immer auf Ballhöhe sein konnte.

 Nach der Aufführung waren sich Jens Kirchhoff und seine Söhne Mika (8) und Janne (5) einig: „Es war toll zu sehen und zu hören, was in der Musik Beethovens alles drinsteckt und was man mit Musik ausdrücken kann.“ Mika, der schon Beethovens „Für Elise“ auf dem Klavier spielen kann, gehörte als Drittklässler der Klostermarktschule nicht nur zu den Zuhörern, sondern auch zu den Akteuren auf der Bühne.


Mülheimer Presse



Dienstag, 14. März 2023

175 Jahre CVJM

 Er ist einer der ältesten Vereine der Stadt, der CVJM. Vor 175 Jahren wurde der Christliche Verein Junger Menschen als Evangelischer Männer- und Jünglingsverein aus der Taufe gehoben. Seinen heutigen Namen trägt der inzwischen von zwei Frauen, Jutta Tappe und Alina Gerdau geführte Verein seit 1981. Heute mag man es kaum glauben, dass es bis 1972 dauerte, ehe der CVJM Frauen als Vereins- und Vorstandsmitglieder in seine Reihen aufnahm.

1848. Das Gründungsjahr war ein revolutionäres Jahr, in dem die Bürger erstmals nach Freiheit und nationaler Einheit verlangten. Es war aber auch die Zeit der voranschreitenden Industrialisierung und Urbanisierung. Junge Männer kamen auf ihrer Suche nach Arbeit als Arbeiter und Handwerker in die Stadt. Oft kamen sie allein, ohne festen Halt und ohne Orientierung für ihr Leben. Vereinsamung und fehlende soziale Integration waren auch damals ein Thema.

Hier setzten die CVJM-Gründer an. Sie gründeten nicht nur eine Sonntagsschule zur Vermittlung christlicher Werte, sondern errichteten an der Friedrichstraße 1860 ein erstes Vereinshaus, in dem wandernde und alleinstehende Arbeiter und Handwerker eine gute Unterkunft und eine gute Gemeinschaft fanden.

Aus den Reihen des Vereins gingen auch sozialpolitische Initiativen zur Gründung des Evangelischen Krankenhauses und der Schmitts-Waisenstiftung aus. Die jungen evangelischen Männer in Mülheim wussten, wie der Gründer der katholischen Gesellenvereine, Adolph Kolping, dass die Sorge und Leib und Seele immer zwei Seiten derselben menschlichen Medaille sind.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts erweiterte sich der Christliche Verein Junger Männer, diesen Namen führte er ab 1907, auf die Mülheimer Stadtteile und stellte mit Wilhelm Keienburg (1908) und Johannes Pieper (1925) erstmals hauptamtliche Mitarbeiter an. Infolge der Hyperinflation und der Weltwirtschaftskrise sah sich der CVJM Ende der 1920er Jahre gezwungen sein großes Vereinshaus an der Friedrichstraße in ein Hotel umzubauen, das unter seinen neuen Eigentümern zum Handelshof wurde.

Doch der Verein konnte in neuen Häusern an der Wertgasse, an der Vereins- und an der Kampstraße seine soziale und seelsorgerischer Arbeit fortsetzen. Ab 1946 organisierte der CVJM erstmals auch Sommerfreizeiten für Jugendliche, zunächst am nahen Niederrhein.

Seit 1962 lebt, lernt, arbeitet und feiert die CVJM-Familie in ihrem Vereinshaus an der Teinerstraße. „Es ist für uns ein Segen, dass wir Eigentümer des CVJM-Zentrums auf dem Kirchenhügel sind, so dass unsere Arbeit nicht immer wieder zur Disposition steht“, sagt der Sozial- und Religionspädagoge Michael Lingenberg, der seit 2019 als leitender Referent des CVJM organisatorisch den roten Faden der Mülheimer CVJM-Arbeit in Händen hält

Würden die Vereinsgründer heute auf die Internetseite des Mülheimer CVJM (www.cvjm-muelheim.de) schauen, so würden sie vieles von dem wiedererkennen, was sie zu ihrer Zeit mit deren Mitteln in und für Menschen in Mülheim geleistet haben. Sicher arbeitet der CVJM heute generationsübergreifender und weniger konfessionell als ökumenisch ausgerichtet.

Bibelstunden, gemeinsame Freizeitgestaltung und aktivierende Persönlichkeitsbildung gehören heute wie damals ebenso zur DNA des CVJMs wie die Bereitstellung von Übergangswohnraum und die Sorge für das leibliche Wohl bedürftiger Menschen, etwa bei einer Heiligabendfeier mit und für Alleinstehende.

Die CVJM Gründer wollten die jungen Männer einst vor den Gefahren der Großstadt schützen. Gemeinschaft und Sinn zu stiften ist zeitlos aktuell. Auch wir verstehen uns als ein Haus der offenen Türen, das als ein Teil der Stadt, etwas Gutes für die Stadtgesellschaft bewirken möchte“, unterstreicht Lingenberg. Das junge Menschen, auch jene, die die deutsche Sprache noch nicht beherrschen im CVJM Zentrum praktische Lebenshilfe bekommen, wenn es für sie zum Beispiel um die Erledigung der Hausaufgaben, das Schreiben einer Bewerbung oder das Ausfüllen eines Antrags für Hilfeleistungen geht, passt für Langenberg zum Kern des CVJM. Dabei ergeben sich immer wieder Veränderungen. So ist der 2008 vom CVJM eingerichtete Mittagstisch für Schüler durch die Einrichtung der Offenen Ganztagsgrundschule überflüssig geworden. Und während der Coronazeit musste auch die Gruppenarbeit im CVJM digitalisiert werden. „Unsere Bibelstunde gehörte zu den ersten Onlineveranstaltungen, so dass sie auch während der Pandemie kein einziges Mal ausfallen musste, freut sich Lingenberg. Mit Blick auf die junge Generation stellt er fest: „Jugendliche wollen heute die Umgebung, in der sie leben, mitgestalten und wir verschaffen ihnen hier den Freiraum dafür.“ So hat sich mit hauptamtlicher Unterstützung im CVJM Zentrum an der Teiner Straße ein Mädchentreff etabliert. Und die schon etwas länger existierende Gruppe Next Generation verbindet zeitgemäß Musik, Gesang, gemeinsame Freizeitaktivitäten und den inspirierenden Blick in die Bibel miteinander. Der Kreis der CVJM-Geschichte schließt sich für Michael Lingenberg „auch damit, dass wir derzeit zusammen mit der Diakonie darüber nachdenken unser Wohnheim für von Obdachlosigkeit bedrohte Männer in ein Studentenwohnheim umzuwandeln, weil das unserem personellen und inhaltlichem Profil vielleicht eher entspricht als die professionelle Betreuung von Menschen. Die könnte von der Diakonie besser geleistet werden als von uns.“ Derzeit wird die CVJM-Arbeit von 70 ehrenamtlich Mitarbeitenden getragen. Hinzukommen dreieinhalb Stellen für die offene Jugendarbeit, die von den Beiträgen der 200 Mülheimer CVJM-Mitglieder und durch Mittel der Stadt und des Landes finanziert werden.


Mülheimer Presse

Dienstag, 7. März 2023

Vin der Herberge zum Hotel

 Wo finde ich meinen Platz? Diese Frage hat sich für alle Menschen zu allen Zeiten gestellt, ob wortwörtlich oder im übertragenen Sinn. "Kein Platz, in der Herberge!" Diese Antwort bekam nicht nur die Heilige Familie in Betlehem zu hören, sondern auch viele junge Männer, die zum Beispiel als Handwerker auf der Waltz im 19. Jahrhundert durch Mülheim kamen.

Nicht nur diese Männer wollte der 1848 gegründete Evangelische Jünglingsverein, der sich ab 1907 Christlicher Verein Junger Männer und ab 1971 Christlicher Verein Junger Menschen (CVJM) nannte, nicht allein lassen, sondern ihnen und anderen Menschen, die ihren Platz in der Stadt und in der Gesellschaft suchten, einen solchen Platz geben. 

An einem guten Platz

So entstand 1860 das erste und 1906 das zweite Vereinshaus des CVJM an der Friedrichstraße, letzteres geplant vom Mülheimer Architekten und Zeitungsverleger Franz Hagen. Hier fanden die Gäste, ab 1907 erstmals auch von einem hauptamtlichen CVJM-Sekretär betreut, nicht nur Kost und Logie, sondern auch Nahrung für die Seele, frei nach dem CVJM-Motto: "Leben aus der Quelle"!

So wurde die christliche Herberge auch zum Vereinshaus, zum Gemeindehaus, zum Gottesdienstort, zur Sonntagsschule und zum geselligen und auch persönlichkeits-bildenden Veranstaltungsort im Zentrum der Stadt am Fluss.

Doch durch die Folgen der Hyperinflation und der Weltwirtschaftskrise sahen sich die frommen Männer 1930 dazu gezwungen, ihr großes und repräsentatives Haus an der Friedrichstraße zu verkaufen. So wurde aus der christlichen Herberge ein weltliches, aber nicht minder gastliches Haus, das von 1934 bis 2022 von der Familie Hesse als Hotel Handelshof geführt worden ist und der Stadtgesellschaft über Jahrzehnte auch als vielseitiger und beliebter Veranstaltungsort gedient hat. Um 1950 war der Mülheimer Handelshof das größte Hotel Westdeutschland, in dem auch viele Kulturveranstaltungen über die Bühne gingen, weil die im Krieg zerstörte Stadthalle erst 1957 wiederaufgebaut war.

Nicht nur die Folgen der Coronapandemie, sondern auch die massive Konkurrenz durch größere und modernere Hotels in Mülheim und seinen Nachbarstädten beendeten den familiären Hotelbetrieb an der Friedrichstraße. Aus dem Handelshof, soll jetzt hinter der historischen und seit 1993 denkmalgeschützten Fassade eine moderne Seniorenresidenz entstehen. Der demografische Wandel lässt grüßen. Heute sind 30 Prozent der Mülheimer 60 und älter.


Mülheimer Presse

Freitag, 3. März 2023

Was der Krieg für uns bedeutet

 Im Oktober 2022 war die Düsseldorfer Generalkonsulin Iryna Shum zu Gast bei den Herbstgesprächen der CDU im Haus der Stadtgeschichte. Ein Jahr nach dem Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine folgte sie jetzt einer Einladung der SPD ins ehemalige Tengelmann-Casino.

Eingeladen hatten die beiden sozialdemokratischen Abgeordneten Sebastian Fiedler (Bundestag) und Rodion Bakum (Landtag). Fiedler beschäftigt in seinem Büro seit einigen Monaten die 21-jährige ukrainische Pädagogin Anastasia Ilchenko, die zurzeit in Deutschland ein Studium als Übersetzerin absolviert. "Ich bin sehr dankbar dafür, dass ich in Deutschland einen sicheren Ort gefunden und offenherzige Hilfe ohne Gegenleistung bekommen habe. Ich bin so der Kriegslotterie des Todes entkommen. Aber die Angst um meine Verwandten in der Ukraine begleitet mich", berichtete die Anastasia Ilchenko, die seit März 2022 in Deutschland lebt in erstaunlich gutem Deutsch.

Iryna Shum dankte Deutschland dafür, dass es seit Kriegsbeginn eine Million Flüchtlinge aus der Ukraine aufgenommen habe. In Mülheim haben innerhalb der zwölf vergangenen Monate 2000 Menschen aus der Ukraine, vor allem Frauen und Kinder, Zuflucht in Mülheim gefunden. "Meine Landsleute sind unfassbar dankbar für die humanitäre und waffentechnische Hilfe, die sie aus Deutschland erhalten", betonte die Generalkonsulin. Die Tatsache, dass seit Kriegsbeginn 100 deutsch-ukrainische Städtepartnerschaften und eine Regionalpartnerschaft zwischen dem Lad Nordrhein-Westfalen und der zentralukrainischen Region Dnipropetrowsk geschlossen worden sind, sieht Shum als Indiz dafür, dass s ich die deutsch-ukrainischen Beziehungen in den vergangenen zwölf Monaten verbessert und intensiviert haben.

"Sagen Sie den Menschen, dass wir mit Waffen weiterkämpfen werden und dass wir ohne Waffen weiterkämpfen werden", zitierte die Diplomaten einen ukrainischen Soldaten, mit dem sie kürzlich darüber gesprochen habe, welche Botschaft sie den Deutschen, seiner Ansicht nach, vermitteln sollte. Aus ihrer Sicht "müssen die Russen ihre Geschichte genauso selbstkritisch aufarbeiten, wie es die Deutschen nach 1945 getan haben, damit es zu einem dauerhaften Frieden und zu einer Versöhnung zwischen Russen und Ukrainern kommen kann.

Einig waren sich alle Veranstaltungsteilnehmerinnen darin, dass die Ukraine das Opfer eines russischen Angriffskrieges sei und eine deutsche und europäische Unterstützung der ukrainischen Selbstverteidigung deshalb auch völkerrechtlich legtim sei. Zu deutschen und europäischen Waffenlieferung gab es aber auch kritische Stimmen, die bezweifelten, dass man auf diesem Weg Putin militärisch besiegen und so zu Friedensverhandlungen zwingen könne.

Shum wies darauf hin, dass der russische Krieg in der Ukraine bereits 2014 mit der russischen Anektion der Krim und der militärischen Unterstützung der Separatisten in der Ukraine begonnen und bisher 14.000 Menschenleben gefordert habe. Shum machte deutlich: "Dieser Krieg wird kein Sprint, sondern ein Marathon!"

Sebastian Fiedler, der in der SPD-Fraktion die Arbeitsgruppe Kriminalpolitik leitet, warnte vor den Folgen russischer Cyberangriffe und russischer Desinformationspolitik. Für ihn steht außer Frage, "dass die eingefrorenen Vermögen der Unternehmer, die Teil des Systems Putin sind, nicht nur eingefrorenen, sondern auch enteignet und nach dem Krieg in den Wiederaufbau der Ukraine fließen müssen."

 

Mülheimer Presse

Donnerstag, 2. März 2023

In guter Gesellschaft

 Es ist eines der repräsentativsten Gebäude unserer Stadt, ein architektonischer Gruß aus dem 19. Jahrhundert. Heute ist das Casino an der Delle 57 ein freikirchliches Gemeindezentrum und eine private Musikschule. Eine Lyra über dem Portal zeigt an. Hier war von Anfang an Kultur zu Hause.

Errichtet wurde das Haus an der Delle, die damals Mülheims Hauptstraße war, von der 1816 gegründeten und bis heute existierenden und aktiven Bürgergesellschaft Casino. Hier traf sich das gehobene Bürgertum der damals noch jungen und vergleichsweise kleinen Stadt Mülheim, um unter Gleichgesinnten Geselligkeit und Kultur zu pflegen. Über 100 Jahre war das Haus im Besitz der Casino-Gesellschaft, ehe sie es an den Stinnes-Konzern verkaufte. 

1842, wenige Jahre vor der bürgerlichen Revolution von 1848/49, machte das aufstrebende Wirtschafts- und Bildungsbürgertum dem Adel seine gesellschaftliche Dominanz streitig. Mit der voranschreitenden Industrialisierung verlor der Landadel zunehmend an Bedeutung, während das Bürgertum einen sozialen Aufstieg erlebte, der aber nur sehr bedingt auch seine politischen Rechte und Einflussmöglichkeiten erhöhte. Denn auch nach der 1849 gescheiterten Revolution folgte eine Phase der monarchischen Restauration und der politischen Reaktion.

In dieser Phase der deutschen Geschichte gab es auch in Mülheim zahlreiche Vereinsgründungen. Beispielhaft seien hier nur der Schützenverein von 1837, die Karnevalsgesellschaft Aula um 1850, der bis 2016 existierende Männergesangverein Frohsinn (1852) und die bis heute bestehende Turngemeinde 1856 erinnert.

In einer Gesellschaft, die wesentlich immobiler, autokratischer und weniger medial geprägt war als unsere heutige Gesellschaft, boten Vereine dem Bürgertum einen wichtigen gesellschaftlichen Schutzraum, indem es nicht nur eine kulturell anregende und sozial hilfreiche Geselligkeit, sondern auch einen weitgehend freien Gedankenaustausch pflegen konnte.

Mit eben dieser Zielsetzung hatten sich auch in Oldenburg (1785), Berlin (1786), Saarbrücken (1796) und Frankfurt am Main (1802) Bürger in einer Casino-Gesellschaft zusammengefunden. Dem Mülheimer Beispiel folgend gründeten auch Duisburger Bürger im Jahr 1858 eine Casino-Gesellschaft.

Es passt ins politische und historische Bild, dass die nationalliberale Fraktion in der 1848/49 in der Frankfurter Paulskirche tagenden Nationalversammlung im Haus der Frankfurter Casino-Gesellschaft tagte. 175 Jahre später leben wir in einer demokratischen, pluralistischen und multikulturellen Medien- und Informationsgesellschaft, in der die Pflege von Geselligkeit, Kulturgenuss und Gedankenaustausch und völlig anderen Vorzeichen stattfindet als etwa in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Dennoch bleibt das Anliegen der Casino-Gesellschaft auch heute aktuell, in dem es einen Kontrapunkt zur radikalen Individualisierung unserer postmodernen Gesellschaft setzt.


Zur Mülheimer Casino-Gesellschaft

Mittwoch, 1. März 2023

Das Ende einer Kirche

 Die Kirche bleibt im Dorf. Die Kirche. Das ist Herz Jesu. Das Dorf ist der Mülheimer Stadtteil Broich. Doch nichts mehr ist so, wie es bis zum 25. Februar war, zumindest für den katholischen Teil der Broicher. Denn an diesem Tag wurde die 1892 eingeweihte Kirche von Weihbischof Wilhelm Zimmermann außer Dienst gestellt. "Ein schreckliches Wort, dass Ihrer Trauer und ihrem Schmerz nicht gerecht wird", gestand Zimmermann den 400 Besuchern des letzten Gottesdienstes in Herz Jesu.

"Schade, dass die Kirche in den vergangenen Jahren nicht öfter so rappelvoll war, wie heute", räumten einige Gemeindemitglieder ein. Tatsache ist: Die Zahl der katholischen Gemeindemitglieder ist seit 2006 von 20.000 auf 14.000 zurückgegangen. Todesfälle und Kirchenaustritte, nicht nur aufgrund der Missbrauchsfälle im katholischen Priesteramt führen dazu, dass die seit 2006 zur Linksruhrpfarrei St. Mariä Himmelfahrt gehörende Gemeinde Herz Jesu die notwendige Restaurierung ihres Gotteshauses nicht mehr finanzieren kann. Allein in den Jahren 2020 und 2021 haben in Mülheim 1828 katholische Christen ihre Stadtkirche verlassen,

Die Rede ist von einem Imvestitionsbedarf in Höhe von rund zwei Millionen Euro. Nach ihrer Schließung soll die Kirche verkauft und umgewidmet werden. Das Ausschreibungsverfahren des Bistums dauert zunächst bis Ende März. Dann wollen Kirchenvorstand, Pfarrgemeinderat und Pastoralversammlung darüber entscheiden, wie es mit dem denkmalgeschützten Gebäude weitergehn soll.

"Ich habe als Kirchenvorstand emotional gegen die Kirchenschließung gestimmt, kann sie rational aber nachvollziehen", sagte Kirchenvorstand Elke Middendorf nach dem Abschiedsgottesdienst, in dem auch Tränen flossen und Stimmen bei den Fürbitten versagten. Vielen, auch aktiven Gemeindemitgliedern, geht es ebenso wie ihr mit dem Schließungsbeschluss vom vergangenen September. 

Eigentlich hatte das 2018 verabschiedete Pfarreientwicklungsvotum die Schließung von Herz Jesu erst für 2030 in Aussicht gestellt. Mülheim und Broich sind mit den Folgen des demografischen und gesellschaftlichen Wandels nicht allein. Weihbischof Zimmermann weist darauf hin, dass das Ruhrbistum seit seiner Gründung 1958 fast die Hälfte seiner damals noch 1,3 Millionen Kirchenmitglieder verloren hat. Heute leben an der Ruhr noch 720.000 Katholiken.

Die Diskussion beim Imbiss nach dem letzten Gottesdienst in Herz Jesu, wo es noch eine hörbar fantastische Orgel gibt offenbarte Zweckoptimismus, Trauer, Wut, Enttäuschung und Kritik an der katholischen Amtskirche, die sich vor allem in ihrer römischen Zentrale reformunwillig zeigt.

Dass der evangelische Superintendent Gerald Hillebrand die katholischen Christen in Broich zu einer ökumenischen Mitnutzung der evangelischen Nachbarkirche an der Wilheminenstraße einlud, wo auch die Osterkerze von Herz Jesu ihren neuen Platz finden soll, wurde von den Gottesdienstbesuchern mit Beifall quittiert. Nicht wenige Gemeindemitglieder aus Herz-Jesu tuen sich offenbar schwer, nahtlos in die katholische, aber in Speldorf beheimatete Gemeinde St. Michael zu wachsen.

Dass sich die römisch-katholische Kirche unter dem Eindruck der massenhaften Kirchenaustritte reformiert und ökumenisiert, war die hoffnungsvollste Perspektive, die im Kirchenschiff von Herz Jesu zu hören war.

Kritisch angemerkt wurde, dass die Kirche ihre interne und externe Kommunikation verbessern, ihre Kinder,- Jugend- und Familienarbeit verstärken und ihrer Führung verjüngen muss. Auch Priester, die lebensnäher predigen und sich weniger als Kirchenbeamte, denn als Seelsorger verstehen standen auf der Wunschliste der katholischen Christen aus Broich.


Mülheimer Presse & Katholische Stadtkirche

Dienstag, 28. Februar 2023

Närrische Nachlese

 Seit Aschermittwoch ist also nun alles vorbei. Doch die mehr als 1000 aktiven Karnevalisten der Stadt gehen deshalb nicht in Sack und Asche. Für sie gilt, frei nach Sepp Herberger: "Nach der Session ist vor der Session." Das Beste an der jetzt abgelaufenen Fünften Jahreszeit war die Tatsache, dass sie nach der zweijährigen Corona-Zwangspause überhaupt wieder stattfinden konnte. Die Säle waren kleiner als früher und die Stadthalle, zumindest für die finanziellen Möglichkeiten der zwölf Karnevalsgesellschaften ein zu teures Pflaster.

Folgt man den Zahlen des Hauptausschusses Groß-Mülheimer Karneval, müssen für den Festsaal der Stadthalle aktuell 6500 Euro berappt werden, und dass trotz eines 40-prozentigen Vereinsrabatts auf die reine Raummiete von 1400 Euro.

Nachdem auch die Alte Dreherei am Ringlokschuppen aus heizungstechnischen Gründen als närrische Hochburg ausfiel, sprangen Bürgergarten-Gastronom Jörg Thon und die Autohäuser Audi Wolf und Extra für die Karnevalsgesellschaften in die Bresche.

So konnten dort die Prinzenproklamation, die diesmal eine Proklamation der Kindertollitäten war, weil das große Stadtprinzenpaar schon am 11.11.2021 proklamiert worden war, über die Bühne gehen. Im Festsaal der Stadthalle verblieben allein der renommierte Prinzenball mit der Verleihung der Spitzen Feder an den Comedian und Musiker Dave Davis und die inklusive Karnevalsparty Grenzenlos.

Diese von Stadtwache und VBGS organisierte und vom städtischen Kulturbetrieb organisierte Musik- und Tanzveranstaltung konnte unter anderem mit dem Auftritt der legendären Dürscheider Mehlsäcke glänzen.

Funken und Blau Weiß mussten mit ihren Prunksitzungen in den Bürgergarten an der Aktienstraße ausweichen. Dass bedeutete für die beiden Gesellschaften: Nur 200 statt 350 zahlende Gäste, wie früher im Altenhof der Evangelischen Kirche. Doch die Kirche, die unter anderem mit ihren Karnevalsgottesdiensten auch Teil des närrischen Brauchtums ist, wollte ihr Haus zwischen Altenhof- und Kaiserstraße nicht länger als Narrenhochburg zur Verfügung stellen. Und der Saal des 2022 geschlossenen Handelshofes, der jetzt vor seinem Umbau zur Seniorenresidenz steht, war für die Karnevalisten schon länger Geschichte.

"So geht es für den Karneval nicht weiter!", sagte Stadtprinz Kevin Bongartz mit Blick auf die ungeklärte Saalfrage des organisierten Frohsinns, bei der Schlüsselrückgabe am Veilchendienstag in der Rathausbibliothek. Und Oberbürgermeister, Marc Buchholz, den die Möhnen nach ihrem Rathaussturm am Altweiberdonnerstag als Putz-Clown dazu verdonnert hatten, sich "um den letzten Dreck zu kümmern", will sich jetzt mit Mülheims Chefkarnevalisten Markus Uferkamp und Hans Klingels um praktikable Lösungen der Saal-und-Sponsoren-Frage kümmern. Man darf gespannt sein. Rosenmontagsfahrer Buchholz hatte selbst die rund 30.000 begeisterten Jecken an der vier-Kilometer-langen Zugstrecke durch die Innenstadt gesehen. 

Dass der Rosenmontagszug mit seinen 24 Wagen und 1000 aktiven Teilnehmern Kamelle, Bälle, Gebäck, Schokoriegel und Plüschtiere unters närrische Volk bringen konnte, war dem finanziellen Einsatz der Jecken und ihren Sponsoren Westenergie, RWW, Dekra und Selgros zu verdanken. Auch die Karnevalssponsoren Hagebaumarkt und Autohaus Extra waren mit ihren Zugabsperrungen und mit ihren Prinzenmobilen wieder mit von der närrischen Partie. Nicht von ungefähr wurde der Geschäftsführer des Autohauses Extra, Jörn Backhaus, in dieser Session in den ausgezeichneten Kreis der "Mölmschen Narren" aufgenommen, die sich um die Förderung des karnevalistischen Brauchtums verdient gemacht haben. Mit von der närrischen Partie waren auch am Rosenmontag wieder die Helfer, Ordner, und Großreinemacher des Technischen Hilfswerkes, des Deutschen Roten Kreuze, der Vollmergruppe, des Ordnungsamtes, der MEG und der Polizei.


Mülheimer Karneval & Mülheimer Presse


Mittwoch, 22. Februar 2023

Jugend in der Bütt

 Jung, jeck und bühnenreif: Der 21-jährige Julien Wolter gehört zu den wenigen Büttenrednern im Mülheimer Karneval

Julien Wolter (21) ist eine Ausnahmeerscheinung. Der junge Jeck feiert nicht nur Karneval. Er macht ihn auch, zum Beispiel als Büttenredner. Wie kam es dazu? „Ich bin da hineingeboren worden“, sagt Wolter. Seine Mutter Stefanie war früher Tanzgardisten beim Mülheimer Carnevalsclub MCC und ist heute Trainerin der Tanzgarde.

Wolter bedauert es, dass seine Altersgenossen dem Karneval reserviert gegenüberstehen und meistens auch mit Büttenreden nur wenig anfangen können. „Dabei gehört die Büttenrede unbedingt zum Karneval. „Karneval ist doch mehr als nur Party. Im Karneval kann man den Leuten den Spiegel vorhalten und sagen, was Sache ist, ohne dass einem jemand böse dafür ist“, sagt Wolter.

Seine Bühnen-Vorbilder findet er im seligen Hans Süper vom Colonia-Duett und im Gott sei Dank noch quicklebendigen Blötschkopp, alias Marc Metzger. Er bewundert die humoristische Spitzfindigkeit, die fröhliche Unverfrorenheit und die Spontanität, mit der die Büttenredner-Profis auf Einwürfe aus dem Publikum eingehen und auch Prominente im Publikum auf die Schippe nehmen.

„Wer eine gute Büttenrede halten möchte, muss möglichst aktuell und deshalb politisch interessiert sein“, sagt der ehemalige Jugendstadtrat und angehende Verwaltungsbeamte, der sich politisch in der SPD engagiert. Regelmäßig liest er die Zeitung, informiert sich im Internet und geht mit offenen Augen durch die Welt. Den Stoff, aus dem Büttenreden sind, findet er im ganz normalen Wahnsinn des Lebens.

Spätestens Ende September beginnt er mit der Vorbereitung für seine Büttenreden, die er zwischen dem 11.11. und Aschermittwoch hält. Seinen satirischen Rohstoff, sammelt er vorzugsweise im elektronischen Notizbuch seines Smartphones. Von da aus findet es seinen Weg in Wolters Notebook und dann aufs Papier. Er ist davon überzeugt, dass die Büttenrede auch bei seinen Altersgenossen eine Renaissance erleben kann, wenn man die politische Bildung, auch jenseits des klassischen Schulunterrichtes, ansprechend und lebensnah gestalten würde. Nur so kann man in Wolters Augen die Grundlage schaffen, die eine pointen- und anspielungsreiche Büttenrede erst möglich und zu einem Genuss macht.

 Besonders gerne schießt der junge Büttenredner gegen die politischen Bauernfänger, die laut, aber oft auch geistlos und gefährlich sind. Von seinen Fernseh- und Youtube-vorbildern Hans Süper und Marc Metzger schaut er sich ab, wie man Themen aufs Korn nimmt, satirisch zuspitzt und sie närrisch auf den Punkt bringt, ohne sich dabei unter die Gürtellinie zu gehen. „Das Schöne ist, dass ich als Hoppeditz und als Büttenredner in eine Rolle schlüpfe, in der ich sagen kann, was ich will und was ich für richtig halte, ohne dass mir nachher jemand böse sein kann“, betont Wolter. Für den jungen Mann aus der Bütt gibt es aber auch Themen, die er sich erspart, weil sie, wie etwa Krieg, Krankheit und Tod, einfach nicht lustig sind.

Inzwischen ist das Nachwuchstalent nicht nur in seiner eigenen Gesellschaft, sondern auch bei der befreundeten KG Mölm Boowenaan in die Bütt gestiegen und mit seinen Pointen und Spitzen bwim Publikum gut angekommen.

Doch er merkt, dass es Wortbeiträge im Saalkarneval schwerer haben als Tanz- und Musikshows. „Ich möchte meinen Zuhörern etwas mitgeben und baue auch gerne den einen oder anderen politischen Appell mit ein. Meine Büttenreden dauern in der Regel 20 bis 30 Minuten. Aber es gibt viele Menschen, denen es schwerfällt, sich auf einen längeren Wortbeitrag zu konzentrieren,“ schildert Wolter seine Erfahrungen. Deshalb redet er in der Bütt auch nicht gereimt, sondern prosaisch und pointenreich, um es seinen Zuhörern und sich leichter zu machen.

Sein erster Lehrmeister in Sachen Büttenrede war der 2021 verstorbene Präsident des Mülheimer Carnevalsclubs und Ex-Stadtprinz Klaus Groth. Bei ihm hat er gelernt, wie man sich auf der Bühne bewegen, positionieren und sprechen muss, um sein Publikum einzufangen. Groth, dem Wolter oft als Page assistiert hat, war Büttenredner, Sitzungspräsident und Mitglied eines Männerballetts.

Von ihm und vom vom 2020 verstorbenen Ex-Stadtprinzen Hermann-Josef Hüßelbeck hat, hat er auch gelernt, das Lampenfieber kein Grund ist, um nicht auf die Bühne zu gehen, sondern dass es verfliegt, sobald man die ersten Lacher auf seiner Seite hat. „Klaus Groth hat mir beigebracht, mir immer einen festen Punkt im Publikum zu suchen und so im Augenkontakt mit dem Publikum zu bleiben, statt nur auf sein Skript zu schauen. Außerdem habe ich bei ihm gelernt, dass ich als Rechtshänder das Mikrofon in der linken Hand halten muss, damit ich mit der rechten Hand meine Rede gestenreich unterstreichen kann“, berichtet Wolter. Um seine Büttenrede gut über die Bühne und an die Frau und den Mann im Publikum zu bringen, trägt Wolter seine Rede erst im Familienkreis vor, ehe er damit ins Rampenlicht des Mülheimer Saalkarnevals tritt.

Auch wenn er sieht, dass sich viele Menschen nach der Corona-Zwangspause und vor dem Hintergrund der aktuellen Weltlage schwer damit tun Karneval zu feiern, ist Wolter davon überzeugt, dass es aller Mühen wert ist, sich für den Karneval zu engagieren, weil er Menschen aus allen Generationen und sozialen Schichten für ein paar Stunden zusammenführen und ihnen hilft, die Schwere ihres Alltags gegen die Leichtigkeit des Seins einzutauschen. Wolter glaubt, dass der Karneval die Lebensfreude und das Zusammengehörigkeitsgefühl der Menschen fördert. Auch wenn seine Gesellschaft den Spaß an der Freude in Pflegeheimen verbreitet, erlebt Wolter den an den dankbaren Reaktionen des betagten Publikums, das Karneval nicht nur Spaß, sondern auch Seelsorge und Sozialarbeit sein kann. 

Von Julien Wolter notiert und in der Bütt gesagt:

„Den Ernst der Corona-Lage haben allerdings noch nicht alle begriffen. Plötzlich rennen hunderte Menschen mit lustigen Hüten durch Berlin und rufen irgendeinen Unsinn. Nein, leider kein vorgezogener Karneval, sondern Menschen, die offensichtlich zu nah an der Hauswand geschaukelt haben. Unter denen, die sich an die Verordnungen gehalten haben, scheinen sich viele die Lock- Down-Zeit damit zu vertreiben, ihre Wohnungen mit Klopapier zu tapezieren. Naja, über Geschmack lässt sich bekanntlich streiten. (…) „Achtung, jetzt wirds Politisch… bla bla bla bla AfD, bla bla bla alle bekloppt bla bla… aber e gab wirklich spannende Dinge! Ja, wir hatten sogar einen Bürgerentscheid. Nein nicht über die Stadthallenmiete, über die VHS. Das ging so aus wie beim Brexit. Viele haben das nicht ernst genommen und nicht abgestimmt. Und jetzt haben wir den Salat. Mülheim ist demnächst die einzige Stadt, die eine Volkshochschule in einem gepflegten Denkmal und Schulen als Ruinen hat, weil das Geld zur Renovierung fehlt. Aber wir sind auch die einzige Stadt, die eine Fraktion im Rat hat, die zwar eine grosse Klappe, die aber kein Mensch gewählt hat, weil es sie bei der Wahl gar nicht gab. Und noch einmal zur Bildung. Bildung ist gerade heute sehr wichtig. Denn sie ist doch die Grundlage dafür, sich eine fundierte Meinung zu bilden und nicht einfach eine zu haben, die dir andere vorgeben. Ich will jetzt nicht zu politisch werden. nur noch eins. Lasst euch nicht von den populistischen Schlickefängern einfangen. Denkt immer daran, vor Gott und im Karneval sind alle Menschen gleich. (…) „In der Mülheimer Politik hat sich auch etwas getan. Auf der einen Seite sollen Gelder für Offene Ganztagsgrundschule und Stadtteilbibliotheken gestrichen, während auf der anderen Seite zwei neue Dezernenten eingestellt werden. Mein Vorschlag hier lieber Herr Oberbürgermeister: Statt die Stadtteilbibliotheken zu schließen, könnten Sie die Büros Ihrer neuen Dezernenten in eben diese verlagern, damit die beiden dann Bücher rausgeben und nebenbei ihre Dezernentenarbeit verrichten können. So haben Sie beide Fliegen mit einer Klappe geschlagen, Geld eingespart und die Kinder dieser Stadt nicht mit miesen Ideen benachteiligt.“


Meine Beiträge in der Mülheimer Presse

Sonntag, 19. Februar 2023

Was kommt vor dem Auftritt?

 Karneval macht nicht nur Spaß, sondern auch Arbeit. Das begreift man sofort, wenn man im Bürgergarten sieht, was vor dem Auftritt bei der 76. Prunksitzung der KG Blau Weiß am kommenden Samstag, 18. Februar, ab 19.11 Uhr zwischen Soundcheck, Tischdekoration, Probe  und Training auf die singenden, tanzenden und musizierenden Aktiven der mehr als 250 Mitglieder starken Gesellschaft zukommt.

Bevor sich Tanzmariechen Janina Cervino-Santarelli (23) dem Gespräch mit der Lokalredaktion widmen kann, geht sie mit Kindertanzmariechen Leara Lersch (10) auf der sechs-mal-vier-Meter-großen Bühne die Grundschritte ihrer Choreografie durch. Man sieht dem kleinen und dem großen Tanzmariechen an, dass ihnen ihre Tanzshow Freude macht. „Natürlich kommt es darauf an, dass man jeden Schritt richtig austanzt. Aber die Ausstrahlung ist das A und O“, sagt Janina, die sich nach 14 Jahren als Tanzmariechen inzwischen selbst trainiert.

Gardeuniformen und Showkostüme sucht man beim Probetraining auf der bereits von Scheinwerfern beschienen und mit dem beleuchteten Wappen der KG Blau Weiß geschmückten Bühne vergeblich. Stattdessen wird in enganliegenden Jogginghosen, T-Shirts und Gymnastikschuhen getanzt. „Ein Auftritt in dieser Trainingskleidung ist natürlich bequemer, aber für die Show am Samstagabend müssen es nun einmal die blauen Gardeuniformen mit weißen Stiefeln und die Zirkuskostüme mit Artistenstock sein“, sagt Janina Cervino-Santarelli.

Sie ließ sich vor 14 Jahren von der Tanzbegeisterung ihrer Cousine Jacqueline begeistern und zu den blau-weißen Karnevalsfreunden verführen. Inzwischen hat sie selbst ihre jüngeren Schwestern Joana (21) und Jaymee (10) in die Tanzgarde der KG Blau Weiß geholt, die vor Corona im Herz-Jesu-Pfarrheim an der Ulmenallee und im Altenhof an der Kaiserstraße trainiert haben und aufgetreten sind. Auf die Evangelische Kirche, die den Altenhof für Karnevalsveranstaltung kurzfristig gesperrt hat, ist man bei den Blau Weißen im Bürgergarten gar nicht gut zu sprechen. „Darüber müsste man mal in der Zeitung schreiben“, wirft der Präsident und Chef-Entertainer der KG Blau Weiß Thomas („the Voice“) Straßmann ins Bühnengespräch mit Janina Cervino-Santarelli ein.

„Die Bühne im Altenhof war mit vier-mal-acht-Metern für unsere Tanzshow perfekt. Aber wir sind dem Gastronomen Jörg Thon dankbar dafür, dass er den Roten Funken und uns seinen Saal für unsere Prunksitzung kurzfristig zur Verfügung gestellt hat“, sagt Cervino-Santarelli. Das sie im kleineren Saal des Bürgergartens nur vor 200 statt, wie im Altenhof, vor 350 Jecken tanzen wird, mindert ihre Motivation nicht im Geringsten. „Ich bin ein Energiebündel und trotz meines Lampenfiebers eine Rampensau. Tanzen ist für mich Alles. Und ich liebe es, meine Energie in eine coole Tanzshow hineinfließen zu lassen, die das Publikum begeistert. Wenn man fünf bis sechs Minuten im Rampenlicht steht, alles gibt und das Publikum am Ende begeistert Standing Ovations gibt, ist das einfach ein geiles Gefühl“, sagt Janina Cervino-Santarelli.

Doch vor diesem „geilen Gefühl“ kommen zweimal-vier-Stunden Training pro Woche. Außerdem trainiert die gelernte Automobilkauffrau, die zurzeit noch im Leitungsteam des kommunalen Impfmanagements arbeitet, mit regelmäßigem Jogging ihre Kondition, um, wie sie sagt: „auf mehreren Hochzeiten tanzen zu können.“ Denn Janina Cervino-Santarelli, die künftig im Vertrieb oder im Marketing und irgendwann einmal im Eventmanagement arbeiten will, hat nicht nur als Solo-Mariechen, sondern auch als Tanzgardistin und als Showgirl der Blue Sensations ihren Auftritt.

Ihr Trainingsquartier, ein 50 Quadratmeter großer Raum in einem ehemaligen Wettpavillon der Rennbahn Raffelberg, ist der so gar nicht glamouröse Ort, an dem vor, während und nach der Session ihre, mal anmutigen und mal athletischen Tanzfiguren mit Spitzen-Tanz, Radschlägen und Spagat entstehen. Doch vor jeder noch so anspruchsvollen Choreografie kommen im Training und vor dem Auftritt 25 Minuten Aufwärmen und Dehnen. „Als ich einmal geglaubt habe, dass zehn Minuten Aufwärmen und Dehnen vor dem Auftritt reichen, habe ich mich mit einem Bänderriss eines Besseren belehren lassen müssen“, erinnert sich Janina Cervino-Santarelli.

Der jungen Powerfrau, die nicht nur am kommenden Samstag auf der Bühne des Bürgergartens tanzen, sondern schon tags zuvor an gleicher Stelle als Matrosin ab 15 Uhr den Kinderkarneval moderieren wird, sofort glauben, wenn sie mit ihrem jugendlichen Schwung sagt: „Auch wenn die Coronapandemie unsere Reihen dezimiert hat, kann der Mülheimer Karneval wieder das starke Niveau erreichen, dass er vor drei und vier Jahren hatte, wenn sich einige Mülheimer, die dem Karneval jetzt noch skeptisch gegenüberstehen, ihren Hintern in die Hand nehmen und zu einer coolen Veranstaltung gehen, am besten zu einer der KG Blau Weiß, um sich ihre eigene Meinung über die Fünfte Jahreszeit zu bilden, in der man gemeinsam mit anderen frei und fröhlich sein kann.“ 

Samstag, 18. Februar 2023

Verbotene Kostüme

 Auch in Mülheim gehen die Karnevalisten auf die Zielgerade der fünften Jahreszeit. Rechtzeitig vor dem Beginn der Tollen Tage hat auch der Geschäftsführer des Hauptausschusses Gross-Mülheimer Karneval, Hans Klingels die Presseberichterstattung zu den Kostümen zur Kenntnis genommen, bei denen der Gesetzgeber auch an den Tollen Tagen keinen Spaß versteht.

 

Wer zum Beispiel unter dem Deckmantel der karnevalistischen Kostümierung Uniformen und Abzeichen verfassungsfeindlicher Organisationen trägt, kann nach §86 des Strafgesetzbuches ebenso mit Geld- oder Haftstrafen belangt werden, wie (nach §132 und 132a des Strafgesetzbuches) Narren, die sich unter dem Vorwand der Verkleidung mit authentischen Uniformen der Polizei, der Feuerwehr oder der Bundeswehr unter die Jecken mischt und es dabei lustig findet, sich als Polizeibeamter, als Soldat oder als Feuerwehrmann auszugeben. Auch dann geht der Schuss finanziell und juristisch nach hinten los, sobald man sich als kostümierter Jeck tatsächlich mit einer echten Waffe oder mit einer Waffenattrappe ausstattet. In diesen Fällen drohen Jecken aufgrund des Waffengesetz-Paragrafen42a Bußgelder in Höhe von bis zu 10.000 Euro. Das illegale Tragen einer Dienstuniform in Tateinheit mit Amtsanmaßung kann mit bis zu einem Jahr und das Tragen von Uniformen verfassungsfeindlicher Organisationen mit bis zu zwei Jahren Gefängnis bestraft werden.

 

Hans Klingels sagt: „Über dieses Thema mussten wir als Mülheimer Karnevalisten bisher nicht nachdenken, weil es in Mülheimer Karneval, kein Thema ist und hoffentlich auch kein Thema werden wird!“

Auf Anfrage der Lokalredaktion äußert sich Stadtsprecherin Britta Heidemann ähnlich, in dem sie feststellt: „Das Ordnungsamt der hat in der Vergangenheit mit diesen Fragestellungen keinerlei Berührungspunkte gehabt. Solche Fälle sind noch nicht an uns herangetragen worden und wären wohl eher ein Straftatbestand, also Sache der Polizei, denn eine Ordnungswidrigkeit.

 

Was sagt also die Polizei, die den Rosenmontagszug als größte Freiluftveranstaltung der Stadt mit ihren Beamtinnen und Beamten absichert, zu den „verbotenen Kostümen“? Mit Blick auf seine eigene elfjährige Polizeierfahrung und auf die Erkenntnisse aus den polizeiinternen Nachbesprechungen der Rosenmontagseinsätze sagt Polizeisprecher, Pascal Pettinato: „Verbotene Kostüme kommen, wenn überhaupt und vereinzelt vor und stellen deshalb für uns kein sicherheitsrelevantes Problem dar. Wenn Kollegen aber beim Rosenmontagzug jemanden sehen würden, der zum Beispiel NS-Uniform mit Hakenkreuzbinde und SS-Runen oder eine Polizeiuniform mit dem Hoheitszeichen des nordrhein-westfälischen Landeswappens trägt, die nicht eindeutig als Kostüm zu erkennen ist, würden sie eine Strafanzeige schreiben und diese an die Staatsanwaltschaft weiterreichen.“ Das Gleiche gilt, laut Pettinato, auch für „PBT-Waffen und Waffen, die den Anschein erwecken, echte Waffen zu sein“ und damit im Straßenkarneval eine Massenpanik auslösen könnten. Als PBT-Waffen gelten zum Beispiel Schreckschuss, Luftdruck- oder Gaspistolen, mit denen man zum Beispiel Platzpatronen, Reizstoffe, Signalfarben und pyrotechnische Ladungen verschießen kann.“ Auch närrische gesonnene Polizeibeamte, die sich in ihrer Freizeit als Jeck ins Getümmel der Tollen Tage werfen wollen, müssen ihre Dienstkleidung zu Hause lassen und dürfen diese nicht zum Kostüm umfunktionieren. „Wir sind aber keine Moral-Polizei, die zum Beispiel darüber entscheidet, ob zum Beispiel eine Verkleidung als Indianer oder als Scheich politisch korrekt oder unkorrekt ist“, betont Polizeisprecher Pettinato.

 

Obwohl es an der Otto-Pankok-Schule an den Tollen Tagen eine von der Schülervertretung organsierte Karnevalssitzung für die fünften Klassen gibt, die in diesem Jahr aber Corona-bedingt ausfällt, mussten sich Schulleiter Jens Schuhknecht und sein Stellvertreter Ulrich Bender bisher noch nie mit verbotenen Kostümen oder gar mit Waffenattrappen auseinandersetzen. „Wenn dem so wäre würde wir das natürlich sehr ernsthaft ansprechen und aufarbeiten. Aber bisher hatten wir es vereinzelt lediglich mit Schülern zu tun, die Abi-Feiern mit Wasserspritzpistolen unterwegs waren“, erklärt Schuhknecht im Gespräch mit dieser Zeitung.

 

Seine Amtskollegin, Heike Quednau von der Karl-Ziegler-Schule teilt der Lokalredaktion mit: „An der Luisenschule gibt es keine schulische Karnevalsfeier. Am Rosenmontag ist die Schule geschlossen. Aus diesem Grund tritt bei uns die Frage nach Verkleidungen nicht auf.“ Ähnliches lässt die Rektorin der Realschule Stadtmitte, Sabine Dilbat, verlauten. Sie erklärt auf Anfrage dieser Zeitung zum Thema Verbotene Kostüme: „An der Realschule Stadtmitte kommt nur vereinzelt der Wunsch nach einer Kostümierung in den unteren Jahrgängen auf. Aufgrund der augenblicklichen Situation in der Ukraine und dem Erdbebengebiet, sehen wir aber von solchen Feierlichkeiten ab. Wir haben einen hohen Anteil von SchülerInnen aus der Türkei und aus Syrien.

 

Auch für den Leiter der Gustav-Heinemann-Schule, Thomas Ratz, „stellt sich das Problem nicht, weil sich bei uns nur die Fünft- und Sechstklässler verkleiden.“ Doch Ratz macht auch deutlich: „Wenn Schüler mit ihren Spielzeugwaffen Leute bedrohen würden oder in der Uniform einer verfassungsfeindlichen Organisation auftreten würden, wären wir natürlich sofort am Start, so wie wir auch jede Hakenkreuzschmiererei an unserer Schule sofort dem Staatsschutz melden.“


Meine Texte in der Mülheimer Tagespresse und: Zum Mülheimer Karneval



 

Mittwoch, 15. Februar 2023

Mal jemand anderes sein!

 Kleider machen Leute, auch wenn sie im Karneval als Kostüme daherkommen: Eine närrische Umfrage zur Fünften Jahreszeit

Als was gehst  du? Karnevalsmuffel werden diese Frage nicht verstehen, doch die mölmschen Jecken umso mehr. Denn mit dem Februar hat die heiße Phase der Fünften Jahreszeit begonnen. Der Mülheimer Carnevalsclub MCC und die Mölmschen Houltköpp haben mit ihrer Kostümsitzung eine alte Karnevalstradition wieder aufleben lassen. Am kommenden Samstag, 11. Februar, feiern sie, närrisch kostümiert, im Dümptener Autohaus Extra und im Stadthallenrestaurant an der Schloßbrücke. Los geht’s beim MCC um 19.11 Uhr an der Fritz-Thyssen-Straße 6 und um 20.11 Uhr bei den Mölmschen Houltköpp im Caruso.

Vor den Kostümsitzungen, bei denen man als Jeck mal ganz anders sein und auftreten kann, als man es sonst tut, hat die Lokalredaktion Mülheimerinnen und Mülheimer gefragt, als was sie in der Fünften Jahreszeit schon mal gegangen sind oder gerne gehen würden, und was sie mit ihrer Kostümwahl verbinden.

Die Geschäftsführerin der Arbeiterwohlfahrt, Michaela Rosenbaum, berichtet: „Mein Lieblingskostüm war im Rahmen eines Gruppenkostüms zum Thema Fliegen der Bodenlotse! In Kombination mit dem Piloten und den Flugbegleiterinnen konnte ich alle in die richtige (Party)-Richtung lotsen. Wir hatten viel Spaß - und auch unser Umfeld fand das Gruppenkostüm äußerst originell.“

Rosenbaums Amtskollege, Frank Esser, von der Mülheimer Wohnungsbaugenossenschaft sieht sich „zwar nicht als Vollblutkarnevalist“, feiert aber trotzdem gerne Karneval. Esser und seine Frau Yvonne bevorzugen den „karnevalistischen Partnerlook als Biene Maja und Willy. Dabei fühlt sich der Borussia-Dortmund-Fan Esser im tierisch tollen schwarz-gelben-Bienen-Kostüm, Marke gekauft, aber mit selbstgemachten Accessoires aufgehübscht, „pudelwohl“!

 Als Präsident des Hauptausschusses Groß-Mülheimer Karneval kann es sich der Unternehmer Markus Uferkamp leicht machen. Qua seines närrischen Amtes tritt er regelmäßig in einer schwarz-weißen Anzugkombination mit Narrenkappe auf. Doch er kann auch anders und erinnert sich deshalb gerne an seine kostümtechnische Karnevalskarriere, wenn er sagt: „Ich habe immer gerne Karneval gefeiert und mich gerne verkleidet. In meiner Kindheit war ich zum Beispiel Indianer und Cowboy. Später warf ich mich aber auch  als Pirat, als  New York Police Cop, als Rocker, als Clown und als Space Man ins närrische Getümmel. Aber mein schönstes Kostüm war in der Session 2009/2010 mein Kostüm als Stadtprinz der Stadt Mülheim an der Ruhr, an der Seite meiner Prinzessin und Ehefrau Sandy. Ich verbinde damit eine wunderschöne Zeit im Mülheimer Karneval, auf die ich bis heute noch gerne zurückblicke.“

Die unvergesslichen Eindrücke einer Safari in Südafrika haben den Mülheimer IT-Unternehmer und Ehrensenator des Mülheimer Karnevals, Gerald Schiffmann, auch zu seinem gekauften, aber anschließend eigenhändig aufgepepptem Lieblingskostüm inspiriert. „Als Giraffe war ich dann aber so lang, dass ich Probleme dabeihatte, durch den Eingang des Festsaales zu kommen“, erinnert sich der 1,93-Meter-Mann, der nicht nur an der Ruhr, sondern auch am Rhein im Saalkarneval unterwegs ist.

Wie wir seit Gottfried Kellers gleichnamiger Novelle wissen, machen Kleider Leute. So trug der evangelische Pfarrer Michael Manz aus Styrum als Festprediger der Karnevalsmesse in Herz Jesu nicht nur seinen schwarzen Talar, sondern auch seine Narrenkappe als Ehrensenator des Mülheimer Karnevals. Kein Wunder also, dass der frohsinnige Mann der Frohen Botschaft am kommenden Sonntag, 12. Februar um 11 Uhr zu einem Karnevalsgottesdienst in die Immanuel-Kirche an der Kaiser-Wilhelm-Straße 21 einladen wird. Und im Rosenmontagszug, so verrät er der Lokalredaktion, wird er am 20. Februar ab 14 Uhr als Regenbogen-Mann mitfahren. „Denn“, so Manz: „Der Regenbogen ist eines der wichtigsten Symbole unseres Glaubens und gerade in diversen aktuellen Lebenssituationen von Bedeutung. Denn wir Menschen sind so bunt wie der Regenbogen und die Liebe Gottes ist eben ein bunter, strahlender Regenbogen!

Auch sein katholischer Amtskollege, Glaubensbruder und närrischer Gesinnungsgenosse Michael Janßen, Pfarrer in St. Mariae Geburt, Stadtdechant und Ehrensenator des Mülheimer Karnevals, ist als regelmäßiger Rosenmontagsfahrer und Mitautor des mölmschen Narrenkuriers der karnevalistischen Kostümierung nicht abgeneigt. „Seit 2015 fahre ich als Hirte verkleidet im Rosenmontagszug mit und werde das auch am kommenden Rosenmontag so tun, weil das einfach gut dazu passt, was als Seelsorger meine Lebensaufgabe und mein Herzensanliegen ist. Ich bin der Dame aus unserer Gemeinde, die mir den mit einem Schafspelz besetzten Hirtenmantel genäht hat, sehr dankbar. Denn ich greife immer wieder gerne auf das Hirten-Kostüm zurück, dass auch vielen Menschen gefällt, die mich darin beim Rosenmontagszug gesehen und wiedererkannt haben. “

Mülheims sozialdemokratischer Bundestagsabgeordneter, Sebastian Fiedler, der zuletzt auch beim Mülheimer Prinzenempfang im Saarner Autohaus Wolf gesichtet wurde, war vor seinem Einzug ins Parlament Bundesvorsitzender der deutschen Kripo-Beamten. Als politisch denkender Kriminalist ist er mit fast allen kriminellen und närrischen Lebenslagen vertraut. Auch wenn er als Politiker regelmäßig im Anzug auftritt, kann er im Karneval auch mal zum Rockstar werden. Fiedler erinnert sich gerne: „Vor vier Jahren habe Ich mich für eine Karnevalssitzung als Freddy Mercury verkleidet und ging gemeinsam mit meiner als Amy Winehouse verkleideten Frau und einigen Freunden auf die "Röschen Sitzung" der Rosa Funken in Köln. Die Sitzung ist ein Kontrapunkt der Queer-Community zum traditionellen Karneval. Die buchstäblich handgemachte Sitzung war ein riesiger Spaß. Wie es der Zufall wollte, saßen wir ausgerechnet mit Hella von Sinnen am Tisch, die vor vielen Jahren einmal das Vorgängerformat, die Rosa Sitzung, ersonnen hatte.“

Werbe-Texterin Christine Stehle, Initiatorin der mit dem Mülheimer Heimatpreis ausgezeichneten Zeitschenker, die in Pflegeheimen regelmäßig demenziell veränderte Menschen besuchen, zählt die von ihrer Mutter selbstgenähte Kostümierung als vierjähriger Gartenzwerg mit roten Herzen auf den Pausbacken „zu den schönsten Erinnerungen meiner Kindheit.“

Der Mülheimer Maler und Autor, Bernd Kirstein, war in den Karnevalszeiten seiner Kindheit vor allem als Cowboy mit Sheriff-Stern unterwegs, „weil ich damals gerne als Sheriff in den Karl-May-Filmen mitgespielt hätte, um dort für Recht und Ordnung zu sorgen!“

Samstag, 4. Februar 2023

Machtübernahme in Mülheim

 30. Januar 1933. Der Tag, an dem Reichspräsident Paul von Hindenburg Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannte, hat auch das Leben in unserer Stadt für immer verändert. Auch in Mülheim fand der Diktator seine Anhänger, Helfer und Helfershelfer.

Zum Jahreswechsel 1932/33 war Mülheim von den sozialen Folgen der Weltwirtschaftskrise gezeichnet. 17.000 der damals 128.000 Mülheimer waren erwerbslos. In Deutschland waren es sechs von 64 Millionen Menschen. Nicht nur die damals von dem Juristen Dr. Alfred Schmidt geführte Stadt Mülheim konnte die steigenden Sozialhilfekosten kaum noch bezahlen. Öffentliche Suppenküchen hatten Hochkonjunktur. Die Massenarbeitslosigkeit wog besonders schwer, weil die allermeisten Familien damals vom alleinverdienenden Familienvater abhängig waren. Begonnen hatte die Weltwirtschaftskrise, die den Aufstieg der NSDAP begünstigte, mit dem Zusammenbruch der New Yorker Börse. Wenige Monate zuvor war ein Nationalsozialist nach der Kommunalwahl in den Stadtrat eingezogen. Nach der Kommunalwahl vom 12. März 1933 bestand die von dem Buchhalter Karl Camphausen angeführte Ratsfraktion der NSDAP aus 23 Stadtverordneten. Jetzt konnte Camphausen seine Anstellung als Buchhalter bei der Rheinisch-Westfälischen Wasserwerksgesellschaft aufgeben und stattdessen hauptamtlich als Kreisleiter der NSDAP agieren. Sein Arbeitsplatz befand sich, im Haus, das bis heute gegenüber des Rathausturmeingangs steht und damals Horst-Wessel-Haus hieß. Benannt war die Parteizentrale nach dem 1930 von Kommunisten getöteten SA-Mannes Horst Wessel. Dessen Vater Wilhelm war von 1908 bis 1913 evangelischer Pfarrer an der Petrikirche.

Schon bei der Reichstagswahl am 5. März 1933 war die NSDAP auch in Mülheim (mit 37,5 Prozent der Stimmen) zur stärksten Partei geworden. Am Tag vor der Wahl hatten Nationalsozialisten und Deutschnationale mit einer Kundgebung auf dem Rathausmarkt um Wählerstimmen geworben. Prominentester Teilnehmer der Wahlkampfveranstaltung war der vormalige Reichskanzler und spätere Vizekanzler Hitlers, Franz von Papen. Im Reichstag und im Stadtrat konnten Nationalsozialisten und Deutschnationale jetzt eine Mehrheit bilden. Viele Zeitgenossen hielten das für eine politische Episode. Wir wissen heute: Es war der Beginn einer zwölfjährigen Diktatur.

Wie in Berlin, so hatten auch in Mülheim die Anhänger der NSDAP und der DNVP, angeführt von der 1934 entmachteten SA, die Ernennung Adolf Hitlers mit einem Fackelzug durch die Innenstadt gefeiert. Gefeiert haben dürften damals auch die Mülheimer Industriellen Fritz Thyssen und Emil Kirdorf. Sie gehörten zu den frühen Förderern Hitlers und der NSDAP. Hitler war oft und gerne bei dem Bergbaumanager Kirdorf im Uhlenhorst zu Gast. Und Fritz Thyssen gehörte zu den Industriellen, die in einer Eingabe an den Reichspräsidenten Paul von Hindenburg bereits am 6. November 1932 die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler gefordert hatten. Der später zum Hitler-Gegner gewordene Fritz Thyssen sollte im Interview mit einem amerikanischen Journalisten reumütig gestehen: „Ich bezahlte Hitler!“ Doch seine Reue kam zu spät.

Hitler und Hindenburg hatten auch schon vor dem 30. Januar in Mülheim ihre Anhänger. Bei der Reichspräsidentenwahl am 13. März 1932 hatten 35.000 Mülheimer für den Kandidaten Hindenburg und 21.000 Mülheimer für den Kandidaten Hitler gestimmt. Beide lehnten die Demokratie der Weimarer Republik ab. Der ehemalige Generalfeldmarschall Hindenburg profitierte von seinem Ruf als „Held von Tannenberg“! Er hatte die 1914 in Ostpreußen einmarschierten Truppen des russischen Zaren vertrieben. Zum Dank benannten die Mülheimer 1916 eine Straße nach ihm, die erst 1949 nach seinem sozialdemokratischen Vorgänger Friedrich Ebert umbenannt werden sollte. Die NSDAP war im Krisenjahr 1932 mit dem Plakat: „Hitler, unsere letzte Hoffnung!“ Nach ihm sollte 1936 die heutige Friedrichstraße benannt werden.

Ein Jahr nach der Reichspräsidentenwahl kürte die neue Ratsmehrheit aus NSDAP und DNVP Hitler und Hindenburg am 30. März 1933 zu Ehrenbürgern der Stadt. Gleichzeitig wählten sie den nationalsozialistischen Reichsbahnbeamten Wilhelm Maerz zum neuen Oberbürgermeister und schlossen jüdische Unternehmer von der städtischen Auftragsvergabe aus. Zu den Stadtverordneten, die damals mit Nein stimmten, gehörten die Sozialdemokraten Heinrich Thöne und Wilhelm Müller. Thöne sollte 1948 zum Oberbürgermeister gewählt werden, während Müller seinen Widerstand gegen Hitler 1944 mit dem Leben bezahlen musste. Dieses Schicksal teilten auch die kommunistischen Stadtverordneten Otto Gaudig und Fritz Terres. Sie konnten ihre bei der Kommunalwahl vom 12. März 1933 gewonnenen Stadtratsmandate nicht mehr antreten, weil sie wie alle Mandatsträger der KPD auf der Grundlage einer Notverordnung des Reichspräsidenten und unter dem Vorwand eines drohenden kommunistischen Staatsstreiches verhaftet worden waren.


Meine Texte in der Mülheimer Tagespresse

ADE FRAU PFARRERIN

  Als Pfarrerin glaubt Esther Kocherscheidt von Berufswegen an das ewige Leben. Doch nicht nur ihr irdisches Berufsleben ist ebenso begrenzt...