Als Lehrbeauftragte unterrichtet die Soziologin Jutta Michele an der Duisburger Fach hochschule angehende Polizeibeamte. In ihren Seminaren bearbeitet sie unter anderem die Frage: Wie entsteht Kriminalität?
Ihre Freizeit widmet die 60-jährige Speldorferin den Menschen, die Opfer einer Straftat geworden sind. Als sie vor fünf Jahren an einem Runden Tisch zum Thema Häusliche Gewalt teilnahm, lernte sie den Polizeibeamten Gerd König kennen, der sie für eine ehrenamtliche Mitarbeit im Weißen Ring gewann. Jetzt hat Jutta Michele von König die Leitung der Mülheimer Außenstelle des Weißen Rings übernommen. Dieser wurde 1983 gegründet, sieben Jahre, nachdem der "Aktenzeichen XY – ungelöst"-Erfinder Eduard Zimmermann die Opferschutzorganisation auf Bundesebene ins Leben gerufen hatte.
Warum engagiert sich Michele mit viel Zeit und Arbeit für den Weißen Ring? Sie erklärt es so: "Die meisten Menschen rechnen nicht damit, Opfer einer Straftat zu werden und geraten deshalb völlig unvorbereitet in diese Situation. Und wenn Menschen Opfer einer Straftat geworden sind, stehen sie oft alleine da und sind auch in ihrem sozialen Umfeld isoliert. Damit möchte niemand etwas zu tun haben, weil man sich ja dann auch mit der Tatsache auseinandersetzen müsste, dass man auch selbst Opfer einer Straftat werden könnte."
Wenn Michele Opfer einer Straftat zur Polizei, zu Ämtern oder zu Gerichtsverhandlungen begleitet, wenn sie ihnen zuhört, Mut zuspricht oder Auswege aus der Traumatisierung aufzeigt, spürt sie immer wieder "viel Anerkennung und Dankbarkeit." In Seminaren des Weißen Rings juristisch und psychologisch geschult, weiß sie, wie wichtig es für Opfer nach dem Trauma einer Straftat ist "jemanden an seiner Seite zu haben, der einem hilft, damit man am Ende nicht verzweifelt."
Gerade erst hat Jutta Michele ein siebenjähriges Mädchen begleitet, das von einem älteren Mädchen sexuell missbraucht worden war. Durch ihre Unterstützung gestärkt, konnte sie den Prozess gegen die jugendliche Täterin gut überstehen und erlebte es am Ende als eine Genugtuung, dass die Täterin zur Rechenschaft gezogen wurde.
Derzeit steht Michele einer türkischen Frau bei, die sich aus ihrem häuslichen Umfeld lösen möchte, weil sie nicht länger von ihrem Ehemann bevormundet werden will. Die Folge: Ihr Mann stellt ihr regelmäßig nach, bedroht, belästigt und beleidigt sie. Das nennt man im Fachjargon Stalking, ein Tatbestand, der seit 2007 gesetzlich unter Strafe steht.
Michele und ihre beiden ehrenamtlichen Kollegen Annchen Brendle und Walter Frieg haben allein zwischen Januar und September 37 Opfer intensiv begleitet. Ungezählt sind die Anrufe der Menschen, denen sie am Telefon weiterhelfen konnten. Das sie und ihre ehrenamtlichen Kollegen es tendenziell mit immer mehr Fällen sexuellen Missbrauchs zu tun bekommen, führt Michele auch auf die Tatsache zurück, "dass immer mehr Opfer mutiger geworden sind, die Straftat nicht auf sich beruhen lassen wollen und bereit sind, die Täter anzuzeigen."
Immer häufiger wenden sich auch ältere Menschen an den Weißen Ring, die Opfer von Dieben und Trickbetrügern geworden sind. "Gerade Senioren sind oft, wie vor den Kopf geschlagen und können nicht begreifen, dass sie beraubt oder sogar geschlagen worden sind, obwohl sie doch niemandem etwas getan und redlich für ihre Rente gearbeitet haben", berichet Michele.
Doch der Weiße Ring hilft den Opfern einer Straftat nicht nur mit menschlichem Beistand, sondern auch materiell. Allein in Mülheim konnte der Weiße Ring durch seine Mitgliedsbeiträge, Spenden und (leider rückläufigen) Bußgeldzuweisungen der Gerichte in den letzten 26 Jahren Opfern von Straftaten mit insgesamt 100 000 Euro finanziell unter die Arme greifen.
Die finanziellen Überbrückungshilfen, die die Organisation gewährt, können ganz unterschiedlicher Natur sein. Da bekommt ein Rentner, der seine Rente abgehoben hat und anschließend ausgeraubt wurde, Geld, damit er über den nächsten Monat kommt. Oder eine Frau, die auf einem Sofa vergewaltigt wurde, bekommt Geld für den Kauf eines neuen Sofas, damit sie ihr Trauma besser überwinden kann. Und Menschen, denen zum Beispiel die finanziellen Mittel für einen Rechtsbeistand oder für eine notwendige Psychotherapie fehlt, kann der Weiße Ring mit entsprechenden Beratungsschecks weiterhelfen oder durch seine Kontakte den Weg zu weiterführenden Hilfen aufzeigen.
Der Weiße Ring in Mülheim hat derzeit 118 Mitglieder und drei ehrenamtliche Mitarbeiter. Neue Ehrenamtler, die Opfer von Straftaten begleiten und unterstützen möchten und können, werden dringend gesucht. Für diese Aufgabe geeignet sind Menschen, die einfühlsam, psychisch stabil, mobil und zeitlich flexibel sind. Der Mitgliedsbeitrag des Weißen Rings beträgt 2,50 Euro pro Monat. Ehepaare zahlen 3,75 Euro. Jugendliche können für 1,25 Euro Mitglied des Weißen Ringes werden.
Wer Kontakt mit der Organisation in Mülheim aufnehmen möchte, erreicht sie unter 3 66 44. Außerdem hat der Verein für Opfer von Straftaten bundesweit eine Beratungs-Hotline geschaltet, die täglich von 7 bis 22 Uhr unter 0800/0 800 343 kostenfrei angerufen werden kann.
Weitere Informationen und Kontakt via Internet unter: www.weisser-ring.de und per E-Mail an: info@weisser-ring.de