Samstag, 29. Juli 2023

Reden wir über die Lebenshilfe

 Im August feiert die Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung ihren 60. Geburtstag. Der vor 30 Jahren mit einem Down-Syndrom geborene Yannick Rüth und seine Mutter Sabine erklären im Gespräch mit der Lokalredaktion, wie ihnen der 1963 aus einer Elterninitiative um den Saarner Pastor Ewald Luhr und seine Frau Luise hervorgegangene Lebenshilfe geholfen hat, ein selbstbestimmtes Leben zu führen.

Sie leben in einer von der Lebenshilfe betreuten 50 Quadratmeter großen Wohnung. Wie kam es dazu?

Yannick Rüth: Ich bin 2019 hier eingezogen. Ich habe eine eigene Wohnung, genauso wie meine nichtbehinderten Geschwister Alexandra und Niklas.

Wie kam es dazu?

Sabine Rüth: Die Lebenshilfe ist Mitglied im Trägerverein des Gemeinschaftswohnprojektes Fünter Hof, das mithilfe der Mülheimer Wohnungsbaugenossenschaft rund um eine ehemalige Schule am Fünter Weg realisiert werden konnte. Ich selbst bin Mitglied der Lebenshilfe und des Trägervereins Fünter Hof. Denn Yannicks Vater und mir ist es wichtig, dass unser Sohn möglichst selbstständig, aber auch beschützt leben kann.

Wie haben Sie sich auf das Leben in Ihrer eigenen Wohnung vorbereitet?

Yannick Rüth: Mein Freund Felix, der heute hier mein Nachbar ist und ich, haben gemeinsam die Förderschule an der Rembergstraße besucht. In dieser Zeit haben wir in einer Wohnung der Lebenshilfe am Hingberg ausprobiert, was mal alles machen muss, wenn man in einer eigenen Wohnung lebt.

Können Sie Ihren Alltag denn ganz alleine organisieren?

Yannick Rüth: Nein. Ich werde von den Leuten der Lebenshilfe unterstützt. Einer von ihnen ist immer hier im Haus, um uns zu helfen, wenn wir Hilfe brauchen.

Was können Sie selbst und wobei brauchen Sie die Hilfe der Leute von der Lebenshilfe?

Yannick Rüth: Ich kann waschen und kochen, zum Beispiel Kartoffelpüree mit Fischstäbchen. Ich kann selbst einkaufen und mit meiner Karte bezahlen, auf die meine Mutter mein Taschengeld überweist. Die Leute von der Lebenshilfe schreiben mit mir einen Einkaufszettel und gehen mit mir zusammen einkaufen, obwohl ich eigentlich immer alles im Kopf habe, was ich einkaufen will. Ich muss mich auch immer eincremen, damit ich keine trockene Haut bekomme. Dabei brauche ich Hilfe, denn ich kann ja meinen Rücken nicht selbst eincremen.

Was gefällt Ihnen am Lebenshilfe-Wohnhaus im Fünter Hof?

Sabine Rüth: Yannick wohnt hier in seinen eigenen vier Wänden und kann gleichzeitig die Vorzüge einer Wohngemeinschaft genießen. Seine behinderten und nichtbehinderten Nachbarn sind nett und gehen auf ihn ein. Lebenshilfe ist mit mindestens einem Betreuer rund um die Uhr als Ansprechpartner vor Ort, wenn es Fragen und Probleme gibt. Das gibt Yannick und mir ein gutes Gefühl der Sicherheit und fördert unsere Lebensqualität.

Wie gestalten Sie Ihren Alltag innerhalb und außerhalb ihrer Wohnung?

Yannick Rüth: Ich stehe morgens schon um 5 Uhr auf. Dann ziehe ich mich an und frühstücke. Am Wochenende treffe ich mich auch schon mal mit meinen Nachbarn zum Frühstück. Um 6 Uhr klingelt dann ein Betreuer von der Lebenshilfe an, um zu sehen, ob ich auch aufgestanden bin, obwohlich das gar nicht brauche.

Um 7.15 Uhr gehe ich zu Fuß zur Arbeit. Ich arbeite in der Schreinerei der Theodor-Fliedner-Stiftung an der Geitlingstraße und brauche eine Viertelstunde für meinen Arbeitsweg. Mittags esse ich in der Werkstatt. Am Wochenende kocht die Lebenshilfe für uns. Dann essen wir gemeinsam bei uns zuhause. Sonntags gehe ich mit meiner Mutter spazieren. Um 15 Uhr habe ich Feierabend. Dann gehe ich nach Hause. Nachmittags gehe ich regelmäßig Fußballspielen oder schwimmen. Dann fahren mich die Leute von der Lebenshilfe ins Heißener Schwimmbad oder zum TUS Union 09. Ich bin Stürmer und kann gut Tore schießen.

Und wie sieht es darüber hinaus mit der Wohn- und Lebensgestaltung aus?

Sabine Rüth: Die Lebenshilfe steht Eltern geistig behinderter Kinder in allen Lebensfragen mit Rat und Hilfe zur Seite. Sie geht auch auf Wünsche und Vorschläge von Bewohnern und Eltern ein und hälte alle immer auf dem Laufenden, was gerade ansteht. Das reicht von gemeinsamen Ausflügen und Kinobesuchen bis hin zur gemeinsamen Gartenarbeit mit den Nachbarn des Fünter Hofes. Auch ein gemeinsamer Urlaub der Bewohner im Lebenshilfehaus ist geplant, konnte aber auch durch Corona noch nicht realisiert werden. Ich selbst schaue ein- bis zweimal pro Woche bei Yannick nach dem Rechten.

Yannick Rüth: Und ich gehe auch mit meinem Vater gerne auf Schalke und trinke in der Halbzeitpause ein Bier. Denn ich bin Schalke-Fan, auch wenn mein Verein jetzt leider in die Zweite Liga abgestiegen ist.

Freitag, 21. Juli 2023

NOMEN EST OMEN

 Straßennamen können ein Politikum sein. Das zeigt der jüngste Zufallsfund des Mülheimer Heimatforschers Dirk von Eicken. Er hat auf einer wilden Müllkippe an der Holzstraße ein altes Straßenschild gefunden. Aufschrift: Adolf-Hitler-Straße. "Die Friedrichstraße hieß während der NS-Zeit-Adolf-Hitler-Straße", weiß von Eicken. 

In seinem Privatarchiv hat er auch ein amtliches Schreiben der Stadt Mülheim an seinen Großvater, die den Sonderstempel mit der "Hermann-Göring-Brücke" zeigt. Die Mendener Brücke wurde 1938 nach dem NS-Minister benannt, der sie bei einem Mülheim-Besuch im Juli 1933 passiert hatte.

In der Nummer 71 der Zeitschrift des Mülheimer Geschichtsvereins hat der vormalige Leiter des Katasteramtes, Wolfgang Meißner, unter dem Titel: "Zwischen Adlerhorst und Zwischen den Gärten" die wechselvolle Geschichte der Mülheimer Straßennamen beschrieben. In seinem Buch kann man zum Beispiel nachlesen, dass auch der Kaiserplatz als "Platz der SA" und die Heißener Straße als "Horst-Wessel-Straße" den politischen Zeitgeist des Drittenreiches widerspiegelte. 

Nationalsozialistische Schulnamen

Auch Mülheimer Schulen, wie etwa die heutige Martin-von-Tours-Schule und die heutige Karl-Ziegler-Schule bekamen nach der nationalsozialistischen Machtübernahme 1933 als Freikorps-Schulz-Schule und als Kirdorfschule Namenspatrone verpasst bekamen, die den Nationalsozialisten politisch genehm waren. Der Kommandeur des nach ihm benannten rechtsextremen Freikorps, Siegfried Schulz, wurde von der NSDAP ebenso als einer ihrer Wegbereiter angesehen, wie der im Uhlenhorst wohnende Bergbaumanager und Hitler-Förderer Emil Kirdorf.

Und weil der evangelische Pfarrer Ludwig Wessel, Vater des1930 erschossenen SA-Mannes Horst Wessel, zweitweise an der Heißener Straße gelebt hatte, wurde sie während der NS-Diktatur zur Horst-Wessel-Straße. Horst Wessel, der das gleichnamige Horst-Wessel-SA-Lied: "Die Fahne hoch, die Reihen fest geschlossen" gedichtet hatte war auch Namengeber der Mülheimer NSDAP-Parteizentrale, die sich zwischen 1933 und 1945 an der Hindenburgstraße, gleich gegenüber des Rathausturmeinganges befand.

Von Hindenburg zu Ebert

Auch die Hindenburgstraße, der Namensgeber als Generalfeldmarschall des Kaisers 1914 russische Truppen aus Ostpreußen vertrieben und als Reichspräsident 1933 Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt hatte, wurde 1949 nach Hindenburgs sozialdemokratischen Amtsvorgänger Friedrich Ebert umbenannt. Ihren alten Namen zurück bekam dagegen nach 1945 die Schulstraße. Sie war in der NS-Zeit nach Alfred Hugenberg benannt worden. Der deutschnationale Zeitungsverleger, Prateiführer und Reichsminister hatte als Koalitionspartner Hitler 1933 zur Macht verholfen.

Auch in späteren Nachkriegsjahrzehnten wurden in Mülheim politisch fragwürdige Straßennamen "demokratisiert." So wurde aus der Dr. Karl-Peters-Straße, benannt nach einem kaiserlichen Kolonialisten 1995 nach der "Grundgesetz-Mutter" und sozialdemokratischen Juristin Elisabeth Selbert umbenannt. Ihr haben wir die verfassungsrechtliche Gleichstellung von Frauen und Männern (Artikel 3/GG) zu verdanken. Gleichzeitig wurden die Adolf-Stöcker-Straße und der Adolf-Stöcker-Platz in Dümpten nach Anne Frank umbenannt. Damit ersetzte das durch sein Tagebuch postum weltberühmt gewordene Holocaust-Opfer, Anne Frank, den antisemitischen Hofprediger Kaiser Wilhelm II.

Umstrittener Straßenname

Auch heute erinnern uns Straßennamen in Mülheim an prägende Repräsentanten unseres inzwischen demokratischen und wiedervereinigten Staates. Beispielhaft dafür sei an den Kurt-Schumacher-Platz und an den Hans-Böckler-Platz, an die Konrad-Adenauer-Brücke. Umstritten bleibt bis heute die Fritz-Thyssen-Straße, die Dümpten und Styrum miteinander verbindet. Sie trägt seit 1967 den Namen des Mülheimer Industriellen Fritz Thyssen, der sich vom Förderer zum Gegner Hitlers gewandelt hatte.


Mülheimer Presse


Mittwoch, 19. Juli 2023

DIE INFLATIONSGEWINNER

 Die Hyperinflation des Jahres 1923 ist als Horrorszenario ins kollektive Gedächtnis der Deutschen eingegangen. Damals wie heute führte ein Krieg zur Geldentwertung. Doch anders als heute, sahen sich die Menschen nicht mit einer Inflationsrate unterhalb der zehn Prozent, sondern mit einer Inflationsrate von mehr als 7000 Prozent konfrontiert.

Fünf Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkrieges war die deutsche Währung nichts mehr wert. Die Kosten des Krieges, einschließlich der nachfolgenden Reparationsforderungen hatten die deutschen Staatsfinanzen ruiniert. 

Sargnagel der deutschen Währung

Zum Sargnagel der Mark wurde vor 100 Jahren der passive Widerstand, mit dem die Menschen im Ruhrgebiet auf den Einmarsch französischer und belgischer Truppen reagierte. Die ebenfalls vom Krieg gebeutelten Franzosen und Belgier wollten und brauchten die Kohle aus dem Ruhrgebiet.

Der passive Widerstand geschah von Staats wegen. Auch die Mülheimer Zeitung hatte im Januar 1923 den entsprechenden Aufruf der Reichsregierung veröffentlicht. Niemand geringeres als der Mülheimer Industrielle Fritz Thyssen, stellte sich an die Spitze des Widerstandes gegen die Besatzung und wurde so zum Volkshelden.

Doch schon im September 1923 musste die Reichsregierung den passiven Widerstand an der Ruhr abbrechen, weil sie nicht mehr in der Lage war, die damit verbundenen Lohnausfallkosten zu bezahlen. Die Inflation, die bereits 1922 eingesetzt hatte, wuchs sich im Laufe des Jahres 1923 zur Hyperinflation aus.

Unkalkulierbares Wirtschaftsleben

War im Sommer 1922 der 1000-Mark-Schein noch die zahlungskräftige deutsche Banknote, so gab die Reichsbank im Herbst 1923 einen 100-Billionen-Mark-Schein heraus. Auch Mülheim gehörte zu den deutschen Städten, die im finanziellen Chaos der Hyperinflation aus der Not eine Tugend machte und eigenes Notgeld druckte, mit dem sie unter anderem den Bau der Stadthalle als notlindernde Arbeitsbeschaffungsmaßnahme finanzierte.

Doch die Not der Hyperinflation, die zu einer massehaften Verarmung der Spargroschenbesitzer führte, führte auch in Mülheim zu Tumulten. Das alltägliche Wirtschaftsleben wurde unter dem Eindruck der Hyperinflation unkalkulierbar. 

Gewinner in der Not

Doch in der größten Not gab es auch Inflationsgewinner. Zu ihnen gehörte nicht nur der deutsche Staat, der mit der Einführung der Rentenmark einen Währungsschnitt machte und sich so seiner kriegsbedingten Schulden entledigte. Auch der Mülheimer Industrielle Hugo Stinnes, der aktiv gegen die Mark spekulierte, ging als Inflationskönig in die deutsche Geschichte ein. 

Denn Stinnes, der sich tiefstapelnd als "Kaufmann aus Mülheim" bezeichnete, hatte sich bei seinen Zeitgenossen den Ruf erarbeitet, "zu sammeln, wie andere Leute Briefmarken." Stinnes, der damals auch dem Reichstag angehörte, stand vor 100 Jahren an der Spitze eines Weltkonzerns, zu dem mehr als 1500 Unternehmen mit insgesamt 600.000 Beschäftigten gehörten. Die Hyperinflation war für Stinnes ein Geschenk des Himmels. erlaubte sie ihm doch, seine zahlreichen Kredite defacto zum Nulltarif zurückzuzahlen.

Doch Stinnes' wirtschaftlicher Höhenflug währte nicht lange. Denn schon ein Jahr später starb er 54-jährig an den Folgen eines ärztlichen Kunstfehlers. Auf dem Sterbebett hatte er seinen Erben geraten, den größten Teil seines Konzerns zu verkaufen, "weil meine Kredite eure Schulden sind." Stinnes behielt Recht. Schon 1925 verlor die Familie Stinnes die Kontrolle über ihr Firmenimperium. Von nun an gaben amerikanische Geldgeber und Teilhaber bei Stinnes den Ton an. 


Mülheimer Presse


Samstag, 8. Juli 2023

SICHER UNTERWEGS

 Als anno 1897 die erste Straßenbahn durch Mülheim-fuhr hatten Frauen eine durchschnittliche Lebenserwartung von 69 Jahren und Männer von 66 Jahren. Heute werden Frauen durchschnittlich 83 Jahre alt und Männer 79. Heute sind 31% der Stadtbevölkerung 60 Jahre und älter. Wer im Alter in seiner Mobilität eingeschränkt wird und aufgrund seiner Handicaps auch kein Auto fahren kann, ist umso mehr auf Bus und Bahn angewiesen. Doch gerade für solche reiferen Semester will das Bus- und Bahnfahren auch als Fahrgast gelernt sein.

Deshalb bietet die Ruhrbahn regelmäßig entsprechende Trainingskurse für Menschen über 60 Jahren an. Am jüngsten für 60 Training Namen in Essen 12 Menschen mit und ohne Rollator an diesem Training teil. Der theoretischen Trockenübung im Seminarraum folgte das praktische Training auf dem Betriebshof der Ruhrbahn. Völlig neu war für die meisten teilnehmenden, was es mit dem blauen Halteknopf innerhalb und außerhalb des Busses auf sich hat. "Wenn Sie den roten Halteknopf drücken, geht die Schiebetür nach maximal 5 Sekunden wieder zu. Wenn Sie aber den blauen Knopf drücken, bleibt sie deutlich länger auf und dem Fahrer wird signalisiert, dass jemand mit Rollator oder Rollstuhl oder Kinderwagen einsteigt," erklärte Ruhrbahncoach Gertrud Lüttkenhorst. "Allein für diese Information hat sich die Teilnahme an dem Training schon gelohnt", waren sich die Bus- und bahnfahrenden Senioren einig.

Wichtige Faustregeln

Doch Gertrud Lüttkenhorst, die vor 34 Jahren als Busfahrerin bei der Ruhrbahn angefangen hat und heute unter anderem als Trainerin in der Aus- und Weiterbildung tätig ist, gab ihren Fahrgästen noch mehr Faustregeln an die Hand, damit sie bei ihren nächsten Bus- und Bahnfahrten keinen Hals- und Beinbruch erleben. "Stecken sie niemals eine Hand einen Arm ein Bein oder auch nur einen Schirm in eine sich schließende Bus oder Bahntür. Das kann lebensgefährlich sein und nichts ist so wichtig, dass Sie dafür ihre Gesundheit und ihr Leben aufs Spiel setzen", warnte Lüttkenhorst. Auch das Sitzen auf dem Rollator sei für Bus- und Bahnfahrgäste ein absolutes No-Go. "Bei einem Auffahrunfall schießen sie dann ungebremst durch den Bus", mahnte Lüttkenhorst. Ihre Empfehlung: "Steigen Sie am besten vorne beim Fahrer ein und signalisieren Sie ihm, dass Sie etwas Zeit brauchen, um einen Sitzplatz zu finden, damit er nicht so schnell abfährt. Am besten setzen Sie sich immer gegen die Fahrtrichtung, stellen ihren Rollator auf die dafür vorgesehenen Freiflächen in der Busmitte und machen ihn mit einem der dortigen Gurte an der Stange fest. Dann kann er nicht durch den Bus rollen."

Ein- und Ausstieg

"Einsteigen immer vorwärts und Aussteigen immer rückwärts", formulierte die Ruhrbahntrainerin das Grundgesetz für alle Rollatorfahrer, die als Fahrgast auch mit Bus und Bahn unterwegs sind. Gleich mehrfach machten die Trainingsteilnehmer die Probe auf Exempel und hielten sich vorschriftsmäßig beim rückwärtigen Ausstieg mit ihrem Rollator so lange an der Türstange des Busses fest, bis sie mit beiden Beinen festen Boden unter den Füßen hatten.

Offene Ohren

Und dann wechselten Coach und Trainee's ihre Rollen. Lüttkenhorst notierte sich für die Aus- und Fortbildung der Fahrerinnen und Fahrer, was ihren reifen Fahrgästen in Sachen Bus- und Bahnverkehr am Ehesten auf den Nägeln brennt: Sie hörte von wenig hilfsbereiten Fahrern, die auch schon mal Rollstuhl- und Rollatorfahrer an der Haltestelle stehen lassen, weil sie unter Zeitdruck stehen und ihren Fahrplan einhalten wollen. "Grundsätzlich sind unsere Fahrer dazu angehalten, beim Einstieg eines Rollstuhlfahrers auf jeden Fall die Rampe an der hinteren Schiebetür herauszuklappen," machte Lüttkenhorst klar. Diese Verpflichtung gelte aber nicht beim Einstieg von Rollatornutzern. "An der Haltestelle einfach stehen lassen, weil man Verspätung hat", so Lüttkenhorst, "geht natürlich gar nicht!"


Mülheimer Presse und: Zur Ruhrnahn

Mittwoch, 5. Juli 2023

MÜLHEIMS DUNKELSTE NACHT

 Mülheim vor und nach dem Zweiten Weltkrieg. Das sind zwei verschiedene Städte. Man sieht es auf den ersten Blick, wenn man Stadtansichten miteinander vergleicht.

Das hat vor allem mit den 160 Luftangriffen zu tun, die Mülheim während des Krieges trafen. Der schlimmste traf die Stadt in frühen Stunden des 23. Juni 1943. Zwischen 1.10 Uhr und 2.20 Uhr legten 490 Bomber der Royal Airforce mit 1600 Tonnen Brand- und Sprengbomben die Innenstadt und die industriell geprägten Stadtteile Styrum und Eppinghofen. Allein in dieser einen Nacht wurden 513 Menschen getötet. Rund 1100 Mülheimerinnen und Mülheimer sollten Opfer des Luftkriegs werden. Mit ihren Angriffen, die die NS-Propaganda als "Terrorangriffe" bezeichnete, wollten die Briten auch in Mülheim die rüstungsrelevante Industrieinfrastruktur und die Kriegsmoral der Zivilbevölkerung zerstören. 

Als Mülheim in Flammen stand.

Auch in dieser Nacht, in der ein Feuersturm entfacht wurde, fanden die meisten Menschen Zuflucht in ihrem Keller. Nur für 13 Prozent der Stadtbevölkerung gab es einen Bunkerplatz. Stadtweit gab es 44 Bunker und 500 Luftschutzräume. Jeder Haushalt musste seine Fenster nachts mit im Rathaus erhältlichem schwarzem Papier verdunkeln, um den Bomberpiloten nachts die Orientierung zu erschweren. Diese machten im Gegenzug mit ihren sogenannten "Christbäumen" die Nacht zum Tag, wenn sie ihre Bomben abwarfen. Einer der Mülheimer Bunker befand sich in einem Stollen unterhalb der Freilichtbühne, wo auch Patienten des Evangelischen Krankenhauses lagen. Viele Patienten des St. Marien-Hospitals hatten weniger Glück. Das katholische Krankenhaus an der Kaiserstraße wurde getroffen. Zeitzeugen berichten, dass sie am Vormittag des 23. Juni 1943 zugedeckte Leichen auf der Kaiserstraße liegen sahen. Viele Straße, so berichten sie, seien durch Gebäudetrümmer unpassierbar gewesen. Bis zum Mittag des 23. Juni 1943 seien die Menschen in der Stadt ohne Strom und Wasser. Bei den Aufräumarbeiten nach den Luftangriffen wurden unter anderem Zwangsarbeiter eingesetzt, die selbst keinen Zutritt zu Bunkern hatten.

Mehr als 7000 Kriegstote

Als der Krieg für Mülheim mit dem Einmarsch amerikanischer Truppen am 11. April 1945 zu Ende ging, lagen 880.000 Kubikmeter Trümmerschutt auf den Straßen der vom Krieg gezeichneten Stadt. 71 Prozent der innerstädtischen Gebäude waren zerstört oder beschädigt. Mehr als 7000 Mülheimer waren Opfer des Krieges geworden, der 1939 von Deutschland ausgegangen war. Es sollte bis 1953, ehe Mülheims für "trümmerfrei" erklärt werden konnten. Im gleichen Jahr wurden mit der deutsch-englischen Städtepartnerschaft zwischen Mülheim und Darlington erstmals aus ehemaligen Feinden langsam, aber sicher Freunde.


Mülheimer Presse

Sonntag, 2. Juli 2023

WOHIN GEHT DIE KIRCHE?

 Die Prozession an diesem Fronleichnamstag im Juni 2023 passt ins Bild. 250 Katholiken ziehen von der Albertus-Magnus-Kirche zur Kirche St. Mariae Rosenkranz. Es ist eine bunte Schar. Deutsche, kroatische und kamerunische Christen machen sich gemeinsam auf den Weg von der 1956 eingeweihten und jetzt profanierten Albertus-Magnus-Kirche zur 1894 eingeweihten Marienkirche am gleichnamigen Platz in Styrum.

Das waren noch Zeiten, als Styrum einen ortsansässigen und katholischen Großunternehmer (August Thyssen) hatte, der sich verpflichtet sah, einen wesentlichen finanziellen Beitrag zum Bau einer katholischen Kirche zu leisten, um seinen katholischen Arbeitern im damals noch protestantisch geprägten Mülheim die Feier der Heiligen Messe und die damit verbundene Seelsorge zu ermöglichen.

Grundlegender Strukturwandel

Lang ist's her. Auch 1956, als Mülheim-Styrum noch zum Erzbistum Köln gehörte, und die bereits in den 1920er Jahren angedachte Gründung eines Ruhrbistums noch zwei Jahre auf sich warten ließ, war der Neubau einer weitaus bescheideneren Kirche an der Eberhardstraße, angesichts zahlreicher katholischer Arbeiterfamilien, so sicher, wie das Amen in der Kirche.

Doch weil auch die Industriearbeitsplätze schwinden und angesichts von 523.000 Katholiken, die allein im Vorjahr landesweit ihrer Kirche den Rücken zugewandt haben, musste nach Herz Jesu in Broich mit Albertus Magnus in Styrum schon die zweite Mülheimer Kirche, innerhalb eines Jahres, aufgegeben werden. Mit Heilig Geist in Holthausen steht bereits eine weitere Kirche vor dem Aus. Denn auch in unserer Stadt bewegen sich die Kirchenaustrittszahlen nicht erst seit gestern auf Rekordniveau. 

Weil nicht nur die Menschen, sondern auch das Geld fehlen, um Gotteshäuser mit Leben zu füllen und instand zu halten, muss auch die Mülheimer Stadtkirche schrumpfen, die zudem unter der Überalterung ihrer Mitglieder leidet. Waren vor 50 Jahren noch mehr als 80 Prozent der Mülheimer Mitglied der evangelischen oder katholischen Kirche, so sind es heute weniger als 50 Prozent. Damit liegt unsere Stadt im Landestrend. 

Zum demografischen Wandel, mehr als 40 Prozent der Neugeborenen haben in unserer Stadt, einen Zuwanderungshintergrund und kommen damit in der Regel eher aus muslimischen als aus christlichen Familien, kommt der gesellschaftliche Wandel. Individualisierung, Liberalisierung und Pluralisierung stellen die christliche Prägung unserer Gesellschaft durch eine in der Regel christliche Sozialisation in Frage.

Zwischen Trauer und Zweckoptimismus

Die Teilnehmenden der Styrumer Fronleichnamsprozession sehen die Zukunft ihrer Kirche realistisch. Sie schwanken zwischen Trauer und Zweckoptimismus. Wenn man mit ihnen auf dem Weg von Albertus Magnus nach Mariae Rosenkranz ins Gespräch kommt, hört man Sätze wie diese: "Die Kirche wird kleiner und bunter." "Wir brauchen Räume, in denen wir uns treffen und unseren Glauben gemeinsam leben können. Das können, müssen aber keine Kirchen sein" "Sie muss das, was sie an Positivem für unsere Gesellschaft leistet, auch öffentlichkeitswirksamer darstellen." "Die Kirche muss ehrlicher, familienfreundlicher und zeitgemäßer werden. werden!" Der Schatten des Missbrauchsskandals in der Katholischen Kirche überschattet alles, auch den gut gemeinten und notwendigen Reformprozess des Synodalen Weges und seines ungewissen Ausgangs. "Unser Bischof ist Gott sei Dank liberal und hat die Zeichen der Zeit erkannt. Aber andere deutsche Bischöfe verweigern sich einer Kirchenreform", sagt eine in der Pfarrgemeinde St. Barbara aktive Frau. Auch bei dieser Prozession. spürt man, dass Kirchenvolk ist auf dem Weg von der alten zur neuen christlichen, ökumenischen und multikulturellen Kirche schon weiter als so mancher Hirte in der Kirchenhierarchie, angefangen bei der römischen Kurie.


Zur Katholischen Stadtkirche und: Mülheimer Presse

Samstag, 1. Juli 2023

MIT SWING UND ROSEN INS 104. LEBENSJAHR

Ruhr-River-Jazzband und Bürgermeister Markus Püll gratulierten Margarete Schwoerer

Wer kann das schon von sich sagen, dass ihm die Ruhr-River-Jazzband daheim auf der eigenen Terrasse ein Geburtstagsständchen bringt und der Bürgermeister als Rosenkavalier vorbeikommt, um zu gratulieren. Aber Margarete Schwoerer hatte am Samstag einen ganz besonderen Geburtstag. Sie ist jetzt 103 Jahre Jahre alt geworden.

 Als sie am 10 Juni 1920 in ihrem Elternhaus an der Friedrichstraße das Licht der Welt erblickte, hatte Mülheim gerade die Revolution und den Ruhrkampf hinter sich gebracht. „Mein Vater Walter hat als Kaufmann den Lebensunterhalt der Familie verdient. Und meine Mutter Margarete hat sich als Hausfrau und Mutter um meine beiden Schwestern Waltraud und Charlotte und um mich gekümmert“, erinnert sich die Mülheimerin aus der Generation 100 Plus. Die Familie zog während ihrer Kindheit von der Friedrichstraße zum Dickswall 70. „In der unmittelbaren Nachbarschaft befand sich eine überkonfessionelle Volksschule, eine sogenannte Paritätische Bürgerschule, die von christlichen und jüdischen Kindern besucht wurde.“ Nach der Schule begann Margarete eine Sparkassenlehre. Die Sparkasse hieß damals noch Stadtsparkasse geheißen und war ein Amt der Stadtverwaltung, Ihre Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen waren Beamte. Ich bin 1982 als letzte Sparkassenrätin pensioniert worden,“ berichtet Schwoerer. Als sie ihr Berufsleben bei der Stadtsparkasse begann, stand noch die Synagoge gleich neben der 1909 eröffneten Sparkasse am Viktoriaplatz, die im Oktober 1938 für 56.000 Reichsmark und damit für etwa ein Siebtel ihres Neubauwertes an die Stadtsparkasse verkauft und in der Reichspogromnacht vom 9. Auf den 10. November 1938 vom damaligen Feuerwehrchef und SS-Führer Alfred Freter in Brand gesteckt wurde. Für Margarete  Schwoerer war das Jahr 1938 ein glückliches. Denn damals lernte sie bei einem Ausflug mit der evangelischen Altstadtgemeinde ihren späteren Mann Walter kennen. Doch das Glück der beiden sollte nicht lange währen. Hitlers Krieg machte ihnen einen Strich durch die gemeinsame Lebensrechnung. Schwörer erinnert sich: „Wir haben 1942 geheiratet und mein Mann, der zuletzt als Soldat in Rumänien gekämpft hat, ist seit 1944 verschollen. Während der vielen Luftangriffe des Zweiten Weltkrieges haben wir im Keller unseres Hauses oder in einem Bunker gesessen der sich gleich gegenüber dem Polizeipräsidium an der Von-Bock-Straße befand. Nach dem Kriegsende habe ich bis 1955 immer noch gehofft, meinen Mann in eines Tages wiederzusehen. Doch nachdem Konrad Adenauer 1955 die letzten deutschen Kriegsgefangenen aus Russland nach Hause geholt hatte, musste ich mich damit abfinden, ohne meinen Walter weiterzuleben.“ Walter Schwoerer ist einer von 2700 Wehrmachtssoldaten aus Mülheim, die seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges als verschollen gelten.

 Nach dem Krieg besuchte Schwoerer nebenberuflich eine Verwaltungsfachschule und stieg danach in den Höheren Dienst auf. „Ich habe immer in der Kreditabteilung der Stadtsparkasse gearbeitet“, erklärt Schwoerer. In den 1960er Jahren hatte sie genug Geld zusammen, um sich das Haus an der Ottostraße in Heißen zu bauen, in dem sie heute mit der Alltagsassistenz ihres Pflegers Marco Brändel lebt. „Das Wichtigste ist mir mein Garten. Früher habe ich dort selbst gerne gearbeitet. Doch das kann ich seit einigen Jahren nicht mehr. Aber ich genieße es bis heute, dass ich jeden Tag von meiner Terrasse in das wunderschöne Grün meines Gartens schauen kann“, sagt Schwoerer. Regelmäßig schaut die Mülheimer Nestorin auch in ihr großes iPad. Hier findet sie viel Wissenswertes, kann sich Ihre Fotos anschauen, per Video-Call mit Freunden, Familie und Nachbarn Neffen telefonieren. Margarete schaut noch jeden Tag die Fernsehnachrichten und recherchiert dann im Internet die Fakten und Zusammenhänge, die sie nach dem ersten Sehen und Hören noch nicht verstanden, hat“, berichtet ihr Hausgenosse und guter Geist Marco Brändel. „Mit 80 habe ich einen Computerlehrgang an der Heinrich-Thöne-Volkshochschule gemacht, so dass ich heute mit meinem ipad alles machen kann. Das war das Beste, was ich machen konnte. Und ich kann es nur jedem in meinem Alter empfehlen. Denn wenn man sich nicht mehr so gut bewegen kann, kann man mit Hilfe des Internets mit der Welt in Kontakt bleiben und am Leben vor der eigenen Haustür teilnehmen“, betont Schwoerer. Sie ist heute auf einen Rollstuhl angewiesen und sich in ihrem Haus einen Treppenlifter einbauen lassen. Die Frage wie sie so alt geworden ist, beantwortet die geistig hellwache und lebenszufriedene Jubilarin mit dem Hinweis auf ihre guten Gene. „Meine Mutter ist auch fast 103 Jahre alt geworden!“, sagt das reife Geburtstagskind.

Und was wünschen sich Margarete Schwoerer und ihr hilfreicher Hausgenosse Marco Brändel für die Zukunft? Mit einem Augenzwinkern sagt Brändel: „Ich habe mich auch schon um Margaretes Mutter gekümmert, die 1998 verstorben ist. Und in sechs Jahren gehe ich in Rente. Und bis dahin muss Margarete auch durchhalten.“ 


Mülheimer Presse

Wer war Washington?

  Washington. Der Name dieser Stadt ist heute ein Synonym für die Politik der Supermacht USA, bei der auch nicht alles super läuft. Auf Hoch...