Donnerstag, 5. Dezember 2024

Schöne Straße?!

 Für die Mülheimer Presse und das neue Mülheimer Jahrbuch habe ich mich an 50 Jahre Schloßstraße erinnert. So alt bin ich also schon, dass ich mich daran erinnere, als kleiner Junge über die Baustellenbalken der aufgerissenen Schloßstraße gelaufen zu sein und den Baustellenlärm kaum ertragen zu haben.

Fußgängerzone hieß für die Schloßstraße auch Tiefgarage. Soviel autogerechte Stadt musste damals sein. Wenn die Autos und die Straßenbahn schon nicht mehr durch Mülheims Haupteinkaufstraße fahren sollten, dann musste der Fußweg zum Einkauf, zur Arbeit oder zur eigenen Wohnung doch möglichst kurz sein.

Dabei nannten die alten Mölmschen die Schloßstraße nicht von ungefähr ihre Renne. Renne, wie Rennstrecke. Sie waren in der Regel zu Fuß oder mit der Tram, die damals auch noch einen Schaffner an Bord hatte, unterwegs. Hier fanden sie alles, was das Leben angenehmer und kurzweiliger macht: Cafes, Restaurants, Geschäfte, Kinos. Hier wollte man sehen und gesehen werden.

Die Schloßstraße als breite Haupteinkaufsstraße war ein Produkt der 1920er und 1930er Jahre. Denn bis dato war die Schloßstraße, dass was wir heute als Schloßbrücke und als Leineweberstraße kennen. Die heutige Schloßstraße hieß früher Jacken und Kettenbrückenstraße. Den Durchbruch zur neuen Schloßstraße, die jetzt nicht mehr die direkte Verbindung zum Schloss Broich darstellte, entstand am Ende der 1920er Jahre an der Unteren Schloßstraße mit dem Woolworth-Kaufhaus, das heute, nach einem Fassaden-Relanche als Ärzte- und Apothekenhaus genutzt wird.

Kaufhaus, Das war damals, bevor die Weltwirtschaftskrise vielen Menschen das Geld zum Einkauf raubte, die Spitze des modernen Einzelhandels, der immer noch von altersher von inhabergeführten Fach- und Lebensmittelgeschäften bestimmt wurde. 

Die Mülheimer Innenstadt hatte damals mit Tietz am Löhberg und Alsberg an der Bachstraße/heute Leineweberstraße noch zwei weitere Kaufhäuser. Letzteres ließ seine Kunden sogar mit einem Aufzug in ungeahnte Höhen des Einkaufsvergnügens kommen.

Ab 1933 war bekanntlich Schluss mit lustig. Die von jüdischen Inhabern geführten Kaufhäuser Tietz und Alsberg wurden, wie es im NS-Sprachgebrauch hieß. arisiert, was tatsächlich einer Enteignung, einer Beraubung ihrer Eigentümer entsprach. Auch die Arisierungsgewinner, die jetzt den Kaufhof und Lindner und Berger führten, mussten im Luftkrieg der Jahre 1940 bis 1945 am eigenen Leib erleben, wohin Hitlers Politik führte.

Nach dem Krieg, als mehr als 70 Prozent der innerstädtischen Bausubstanz zerstört oder beschädigt war, musste und wollte man, zum Beispiel mit der neuen Leineweberstraße aus der Not eine Tugend machen. Die neue Inennstadt, die mit dem westdeutschen Wirtschaftswunder in den 1950er Jahren eine Renaissance erlebte, wurde autogerechter und moderner. aber nicht schöner. Die neue Leineweberstraße durchtrennte als mächtige Ost-West-Achse die alte und die neue Innenstadt Mülheims. Der Kirchenhügel wurde abgeschnitten und abgehängt. Es erstaunt immer wieder die Vor- und Nachkriegsansichten der Innenstadt zu betrachten und den Eindruck auf sich wirken zu lassen, man schaue auf unterschiedliche Orte.

Die 1970er Jahre waren vom Fortschrittsglauben geprägt, angetrieben von steigenden Einwohnerzahlen, die in Mülheim bis auf 193.000 kletterten. Ausdruck eines modernen Mülheims, dass sich im Wachsen begriffen sah, tatsächlich aber schon 1973 seinen demografischen Zenit überschritten hatte, waren der neue Hans-Böckler-Platz mit dem City Center und den Hochhäusern, der U-Bahnbau zwischen Essen und Mülheim sowie die 1974 und 1978 eröffneten Fußgängerzonen an der Schloßstraße und an der Leineweberstraße.

Angesichts des akuten Leerstandes in der City mag man sich heute kaum noch vorstellen, dass der Begriff Ladenleerstand vor 50 Jahren noch ein Fremdwort war. Immerhin gab es Mitte der 1970er Jahre mit dem Rhein-Ruhr-Zentrum und dem City Center schon zwei Mülheimer Einkaufszentren, die dem Einzelhandel in der Innenstadt Konkurrenz machte.

Sicher darf man nicht vergessen. Damals gab es noch kein Internet und deshalb auch keinen Online-Handel. Außerdem gab es damals mit den Mannesmann Röhrenwerken und der Tengelmann Gruppe zwei große Mülheimer Arbeitgeber und Steuerzahler, die heute leider Geschichte sind.

Vergleicht man die Schloßstraße von heute mit der Schloßstraße, die 1974 zu einer Fußgängerzone mit Tiefgarage wurde, muss man sich auch als Lokalpatriot eingestehen. Sie ist ein Schatten ihrer selbst. Der Niedergang begann ab Mitte der 1990er Jahre, als auch Duisburger, Essen und Oberhausen große Einkaufstempel bauten und in den 2000er Jahren mit dem Dümptener Tor ein weiteres Mülheimer Einkaufszentrum entstand.

Bei aller Kritik an der heutigen Innenstadt im Allgemeinen und an der Schloßstraße im Besonderen, darf man nicht übersehen, dass es hier auch heute in der City sowohl mit Blick auf den Einzelhandel als auch mit Blick auf die Gastronomie immer noch bemerkenswerte Angebote gibt, die allen Leerständen trotzen.

Allerdings haben es diese Oasen und Inseln im Meer und in der Wüste der tristen Leerstände schwer, ihre Anziehungs- und Ausstrahlungskraft zu entfalten. Das gilt auch für den Mülheimer Wochenmarkt, der im Rahmen des Ruhrbaniabauprojektes vom Rathausmarkt auf die Schloßstraße umgezogen ist.

Sicher müssen wir unsere Innenstadt heute neu denken. Leerstände und Freiräume können auch mit Wohn- Arbeits- und Kulturraum, Grün- Wasser- und Freizeitflächen mit neuem Leben gefüllt werden. Attraktivere, weil bezahlbarere Mieten könnten ein Übriges für die Innenstadt tun. Und last, but not least, muss sich die heute viel mobilere und digitalere Kundschaft fragen, was ihr eine lebendige Innenstadt mit Gastronomie, Einzelhandel und Aufenthaltsqualität wirklich wert ist, wenn es um das eigene Einkaufs- und Freizeitbudget geht.


Der erste Weihnachtsmarkt auf der Schloßstraße

Dienstag, 26. November 2024

Ein Mini-Malta an der Ruhr

Wo heute der Nachwuchs bei der Arbeiterwohlfahrt seine Freizeit verbringt, schoben im alten Wachhaus der Wraxham Baracks von 1945 bis 1994 Soldaten der Britischen Rheinarmee ihren Dienst. Zwischen 1964 bis 1970 waren in den Wraxham Barracks, die wir heute als Wohnpark Witthausbusch kennen, 450 Soldaten aus der britischen Kronkolonie Malta und ihre 50 Zivilangestellten stationiert. Als Transporteinheit versorgten die Malteser im Dienste der Krone ihre britischen Kameraden in Westdeutschland, Belgien, Holland und Frankreich. John Victor Urry war einer von ihnen. Er kam als 22-Jähriger im November 1964 nach Mülheim und blieb auch hier, als seine Dienstzeit zu Ende war.

Dafür sprachen nicht nur sein Job bei der Brotfabrik Oesterwind, sondern auch sein deutsches Fräulein Wunder. Das traf er, in Person von Marlies Wolfgarten, immer wieder sonntags, an der Ruhr. 1975 gab sich das Paar das Ja-Wort fürs Leben. Aus dem Ehepaar wurde ein Elternpaar, das der Tochter Alexandra und dem inzwischen verstorbenen Sohn Oliver das Leben schenkte. Für John Victor Urry, der auf Malta eine strenge katholische Erziehung und berufliche Perspektivlosigkeit erlebt hatte, war

Mülheim die große Freiheit. "Hier fühlte ich mich wie ein Vogel, dessen Käfigtür aufgemacht wird und der plötzlich frei herumfliegend kann", sagt und John Victory Urry und lächelt, mit sich und seinem Leben, offensichtlich zufrieden. 

Montag, 25. November 2024

Mensch im Mittelalter

 Die Interessengemeinschaft Hochgotik ließ die Besucherinnen und Besucher auf Schloss Broich ins 13. Und 14. Jahrhundert reisen und kam damit gut an.

Dass das Mittelalter keineswegs eine so finstere Epoche war, wie sie rückblickend im 19. und im 20. Jahrhundert beschrieben worden ist, zeigten die historisch gewandeten Darstellerinnen und Darsteller der Interessengemeinschaft Hochgotik auf Einladung des Geschichtsvereins. Den Kontakt zur IG Hochgotik hatte unsere Schriftführerin Beate Fischer hergestellt.

Mehr als 300 interessierte Besucherinnen und Besucher aus allen Generationen nutzten am 23. November den anschaulichen und informativen Auftritt der Interessengemeinschaft Hochgotik, bei denen nur einer von neun Darstellern, krankheitsbedingt, im Hochschloss Broich nicht mit von der Partie sein konnte.

Mario Georg und Benjamin Lammertz sind sich einig: „Das Mittelalter war eine sehr vielseitige Zeit, in der es immer wieder viel zu entdecken gibt und die weder so finster und rückständig noch so romantisch gewesen ist, wie sie heute oft dargestellt und wahrgenommen wird.“

Neben Lammertz und Georg, nutzten auch deren Ehefrauen Sabine Staske und Ulrike Berg sowie Carsten Giesen, Birgit Lichte-Steeger, Sonja Utzenrath und Tobias Gommes ihr achtstündiges Gastspiel in dem vom Geschichtsverein ehrenamtlich betreuten Historischen Museum auf dem Broicher Hochschloss, um kleinen und großen Zeitreisenden zu vermitteln, wie zwischen 1250 und 1350 in Klöstern gearbeitet, geschrieben, gelesen und gebetet wurde, was gegessen und getrunken und was als Kleidung aus Wolle und Leinen getragen wurde. So standen damals zum Beispiel noch keine Tomaten und Kartoffeln, dafür aber vor allem viel Roggen- und Dinkelgetreide auf dem Speiseplan unserer Vorfahren. Kartoffeln und Tomaten wurden erst nach der Entdeckung Amerikas, also ab 1492, in Europa aufgetischt. Auch interessant: Der Urin wurde auch in öffentlichen Fässern und Keramikschalen gesammelt, um aus dem darin enthalten Ammoniak die Essenz für Blaufärbungen zu gewinnen.

„Vieles von dem, was uns heute selbstverständlich erscheint, wurde erst im Hoch- und Spätmittelalter erfunden, zum Beispiel der Webstuhl, die Brille und der Buchdruck“, berichtet Ulrike Berg.


„Den heutigen Termindruck kannte man im Mittelalter noch nicht. Das Leben der Menschen war zwar oft hart, arbeitsreich und stressig, aber verlief doch wesentlich entschleunigter als heute“, erklärt Mario Georg. Dennoch möchte er, der, wie seine mittelalterbegeisterten Mitspieler aus dem Rhein-Ruhr-Gebiet kommt, angesichts der heutigen ärztlichen und medizinischen Versorgung keinesfalls im Mittelalter gelebt haben.

Mehr über die Interessengemeinschaft Hochgotik findet man im Internet unter: www.hochgotik.wordpress.com

Sonntag, 24. November 2024

Menschen bewegen Menschen

 Beim Thema Seelsorge denkt man nicht ans Radfahren. Und "Radfahrern", die nach unten treten, aber nach oben buckeln, ist alles zuzutrauen, aber keine Seelsorge.

Doch im Auftrag der Münsteraner Bistumszeitung Kirche und Leben hatte ich jetzt Gelegenheit Menschen aus einer Caritas-Gruppe in Kamp Lintfort kennenzulernen, die als ehrenamtliche Riksha-Chauffeure genau das sind, Seelsorger, die sich für ihre immobilen, alten, kranken und behinderten Mitmenschen immer wieder gerne abstrampeln. Zwischen Mai und Oktober radeln die 51 Riksha-Piloten insgesamt rund 4000 Kilometer, um ihre Fahrgäste durch das schöne Kamp Lintfort und seine Umgebung zu kutschieren. Natürlich bleibt bei ihren unentgeltlichen undunbezahlbaren Stadtrundfahrten mit den inzwischen sieben gestifteten und gesponserten E-Bike-Riksha viel Zeit, um sich Geschichten aus dem Leben und aus der eigenen Stadt zu erzählen, nicht nur beim Fahren und Gefahren werden, sondern auch während der immer eingelegten Kaffee- Kuchen und Eispause.

"Wir bewegen Menschen und werden so von ihnen selbst bewegt!" So bringen die Gründer und Organisatoren des ganz besonderen Fahr- Pfarr- und Seelsorgedienstes rund um den Kirchturm von St. Josef, Maria Dalsing, Hans-Peter Niedwiedz und Chirstioph Kämmerling die 2023 gestartete Erfolgsgeschichte ihrer rollenden Seelsorge auf den Punkt.

Bemerkenswert ist, dass die unter dem Banner der Caritas fahrenden Riksha-Chauffeure und Chauffeurinnen inzwischen nicht nur interkonfessionell, sondern sogar interreligiös unterwegs sind, weil sie, wie sie im Gespräch immer wieder betonen, glücklichere Menschen geworden sind, in dem sie Mitmenschen mit etwas Zeit und Einfühlungsvermögen, eine Freude bereiten und ihnen so ein Lächeln ins Gesicht zaubern können. Wer schon mal beim monatlichen Bikertreff der radelnden Caritas-Seelsorger dabei gewesen ist, kann bestätigen. Soziale Gruppendynamik, Lebensfreude und positive Energie, die wir nicht nur in der Kirche, sondern in unserer gesamten Gesellschaft oft schmerzlich vermissen, sind hier mit Händen zu greifen und mit allen Sinnen zu spüren. 

Mehr zum Projekt

Donnerstag, 21. November 2024

Trüber November

 Für den Evangelischen Kirchenkreis an der Ruhr und seine sechs Gemeinden ist der November nicht nur klimatisch trübe. Superintendent Michael Manz musste den Synodalen im Altenhof mit seinem Rechenschaftsbericht ein Haushaltsloch von 850.000 Euro präsentieren. Die berechtigte Frage: "Wie konnte das passieren!" beantworteten Manz, seine Stellvertreterin Gundula Zühlke und der Geschäftsführer des Kirchenkreises, Christoph Niklasch, nach bestem Wissen und Gewissen, aber deshalb nicht weniger ernüchternd, frei nach Martin Luther: "Hier stehe ich. Ich kann nicht anders." 

Den Kern des Problems bilden die 4000 Menschen, die seit 2019 als Mitglieder der Evangelichen Kirche verstorben oder aus ihr ausgetreten sind. Auch Taufen und Neuaufnahmen können den Mitglieder- und damit auch den Kirchensteuerschwund der Evangelischen Stadtkirche nicht annähernd auffangen. Zum Vergleich: Vor 50 Jahren gab es 105.000 evangelische Kirchenmitglieder in Mülheim, 1998 waren es noch 64.000, 2019 noch 42.000 und jetzt (2024) eben besagte 38.000. Noch stehen der Evangelischen Stadtkirche damit Kirchensteuereinnahmen von mehr als acht Millionen Euro zur Verfügung. Doch der weitere Abwärtstrend, der gleichermaßen demografisch und gesellschaftlich begründet ist, ist absehbar. 

"Wir müssen über die Aufgabe ganzer Arbeitsbereiche nachdenken", brachte ein Kirchmeister die traurige Wahrheit auf den Punkt. Dieser schwierigen Aufgabe müssen sich jetzt sieben Mitglieder einer Kommission stellen, die die Kreissynode einstimmig eingerichtet hat. Nicht ganz einstimmig konnten sich die Synodalen darauf einigen, die Umlage der sechs Mülheimer Kirchengemeinden um satte 400.000 Euro anzuheben, um den Kirchenkreis bis zur Frühjahrssynode 2026 handlungsfähig zu halten. Denn dann soll die jetzt eingesetzte Kommission, mithilfe externer Begleiter, konkrete Struktur- und Sparbeschlüsse auf den Tisch der 50 Kirchenparlamentarier legen, von denen bei der Herbstsynode 38 anwesend waren.  

Eine Synodalin geht davon aus, dass es künftig nur noch eine Evangelische Kirchengemeinde in Mülheim geben und diese mit dem benachbarten Kirchenkreis Oberhausen (45,000 Kirchenmitglieder) fusionieren wird. Mit dem Hinweis auf die Freiburger Kirchenstudie weist Superintendent, Michael Manz, darauf hin. dass die Evangelische Kirche in Deutschland bereits 2045 nur noch halb so viele Mitglieder haben wird, wie heute. Weil auch die katholische Kirche keinen anderen Megatrend aufzuweisen hat, als ihre Schwesterkirche, bekommt die Ökumene künftig noch eine viel größere Bedeutung, als dies heute schon der Fall ist, da die beiden Stadtkirchen zu einem Ökumenischen Neujahrsempfang in den Altenhof einladen, der 1930 als Haus der Evangelischen Kirche eröffnet worden ist. Doch auch eine Ökumenische Kirche in Deutschland wird angesichts der zunehmenden Individualisierung und Entsolidarisierung Austrittswellen, wie wir sie derzeit erleben, weder finanziell noch inhaltlich und strukturell verkraften, ohne erheblich an ihrer gesellschaftlichen Relevanz und Prägekraft zu verlieren. Ob das im Sinne der Kirchenflüchtlinge ist und ob sie wissen, welcher Gesellschaft sie mit ihrem Kirchenaustritt den Weg ebenen, kann getrost bezweifelt werden. Es spricht in diesem Zusammenhang für sich, dass auch die Evangelische Kirche, die nicht mit einem Pflichtzölibat beladen ist, nicht nur bei der Bindung und Gewinnung neuer Mitglieder. sondern auch bei der theologischen Nachwuchsgewinnung massive Probleme hat. 

Letzteres kann nicht verwundern, wenn man an das klassische Verständnis vom Pfarramt die neuen Maßstäbe der Work-Life-Balance anlegt. Doch darüber hinaus ist es eben der Abbruch christlicher Sozialisationsstränge, die mit den aktuellen Austrittswellen noch verschärft werden, die unser klassisches Bild von der Gemeinde mit der Kirche im Dorf und einer omnipräsenten Pfarrperson, zunehmend zur Illusion werden lässt, die platzt, wie eine Seifenblase. 

Vielleicht machen die christlichen Kirchen, die schon jetzt keine Volkskirchen mehr sind, ja aus der Not eine Tugend und werden kleiner, aktiver, demokratischer, ökumenischer, persönlicher, glaubwürdiger und damit auch wieder attraktiver, glaubwürdiger und anziehender, wenn sie es wieder schafft, die Frohe Botschaft Jesu, nicht nur zur predigen, sondern auch im Alltag zu leben. Das ist zweifellos eine Aufgabe, die alle Christenmenschen fordert, ob sie nun geweihte Theologen sind oder nicht.  


Kirchenkreis An der Ruhr

Freitag, 15. November 2024

Närrischer November

 Mittwoch, 6. November, Am Morgen wird klar: Donald Trump bekommt eine zweite Chance als US-Präsident. Und abends platzt die Ampel-Koalition. Da mag so mancher sich, wie im Narrenhaus gefühlt haben. Wie gut, dass es auch noch Narren gibt, über die man sich nicht ärgern muss, sondern über die man sich freuen kann, weil sie ausgerechnet im tristen November, am 11.11., um genau zu sein, ihr närrisches Treiben mit Musik, Tanz und humoristischen  Reden Spaß an der Freude sorgen.

Wie gut, dass es auch im Mülheimer Karneval noch jene Karnevalisten und Karnevalistinnen, die zum Sessionsauftakt in die Bütt steigen, um auch den politisch Mächtigen, die ja manchmal auch nur ohnmächtig sind, den Spiegel vorzuhalten. Wäre es nicht so und verkäme die Fünfte Jahreszeit zum reinen Partykarneval, wäre es ja auch zum närrisch werden.

Aber warum starten die Jecken ausgerechnet am 11.11. in ihre Session? Die Elf ist eben eine närrische Zahl. Als der rheinische Karneval vor 200 Jahren gesellschaftsfähig wurde, galt die ELF als Chiffre für die französische Revolutionslosung: Égalité, Liberté, Fraternité" "Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit." Der Karneval war im damaligen Deutschen Bund absolutistisch regierter Monarchien, ein Akt des zivilen Ungehorsams. Daran änderte auch die Tatsache nichts, dass das liberale Bürgertum. das nur zu gerne den Karneval feierte, weil dieser schon damals die Umsätze der Gastronomie ankurbelte, alles wollte, nur keine blutige Revolution a la Francaisé.

Deshalb machten die bürgerlichen Narren und Närrinen aus dem Karneval die Fastnacht, also die opulente, freizügige und fröhliche Zeit, in der man vor dem Beginn der vorösterlichen Fastenzeit am Aschermittwoch, wenn karnevalistisch alles vorbei ist, noch mal alle Fünfe gerade sein lassen, bzw. auf die närrische 11 zwischen den 10 Geboten des Alten und den 12 Aposteln des Neuen Testamentes setzen konnte, um gemeinsam Spiel, Spaß, Gemeinschaft und gute Laune zu erleben. Dabei wurde der bürgerliche Karneval anfangs ausschließlich in Gaststätten mit einem Festmahl und einer Spottrede gefeiert, für die der Hoppeditz oder der Hans Wurst anschließend mit einer Mettwurst belohnt wurde.

Zum Mülheimer Karneval

Samstag, 9. November 2024

Der denkwürdige 9. November

 Endlich mal ein Tag zum Feiern. Das war der 9. November 1989, als Günter Schabowskis "Versprecher" bei einer Pressekonferenz des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei die Mauer zum Einsturz brachte, ohne sich dafür einen Gewaltakt anzutun.

Natürlich wissen wir heute, das Schabowskis Versprecher nur der Tropfen war, der das politische Fass der SED-Diktatur überlaufen ließ.

Ohne die vielen mutigen Freiheitsdemonstranten auf den Leipziger Straßen den 9. Oktober 1989, ohne die Einsicht Gorbatschows in die Notwendigkeit systemimanenter Reformen im realexistierenden kommunistischen Ostblock, der im Herbst 1989 an allen Ecken und Enden zerbröselte, hätte es keinen 9. November 1989 und keinen 3. Oktober 1990 geben können. Daran ändern auch die unbestreitbaren Verdienste des damaligen wesetdeutschen Bundeskanzler Kohl und seines Außenministers Hans-Dietrich Genscher nichts. Hinzu kam zwischen dem 9. November 1989 und dem 3. Oktober 1990, dass der damalige amerikanische US-Präsident George Bush senior, ebenso wie sein sowjetischer Amtskollege erkannte, was die historische Stunde geschlagen hatte und danach handelte.

Den Frankreichs damaliger Staatspräsident Mitterand und die britische Premierministerin Thatcher, hätten  ohne die Achse Gorbatschow-Bush, auch nach dem 9. November 1989 nach der Devise gehandelt: "Wir lieben Deutschland so sehr, dass wir froh darüber sind, das es gleich zwei davon gibt. Dazu passte Mitterands Staatsbesuch in der nach dem Mauerfall politisch faktisch toten DDR.

Auch wenn Kohls Einheits-Euphorie der "blühenden Landschaften", in denen es niemanden schlechter, aber allen besser gehen werde, und die Transformation, ohne Steuererhöhungen, aus der bundesdeutschen Portokasse bezahlt werden könnten, die Vollendung der Deutschen Einheit ebenso bis heute belasten, wie die von der Treuhand, ohne Rücksicht auf Verluste durchgepeitschte Abwicklung der Volkseigenen Betriebe und Produktionsgenossenschaften in der nach dem 3. Oktober 1990 ehemaligen DDR. 

Auch bei der Währungsumstellung auf der Basis 1:1 wurden die sozialen und wirtschaftlichen Folgekosten der deutschen Wiedervereinigung nach mehr als 40 Jahren Teilung in Festtagsreden weggeredet.

Zugute halten muss man Kohl und Genscher, dass sie 1989/90 die Gunst der historischen Stunde, zum Beispiel in Form von Kohls Zehn-Punkte-Plan vom November 1989 erkannten und sofort nutzten, weil sie zurecht ahnten, dass sich das Zeitfenster für eine friedliche Wiedervereinigung schnell wieder schließen könnte. Das Gorbatschow schon im Jahr nach der Wiedervereinigung defacto weggeputscht wurde, bestätigte ihr Kalkül.

Zumindest zwischen dem November 1989 und dem Oktober 1990 blieb keine Zeit, alle Bedenkenträger zu überzeugen und in einer langwierigen Wiedervereinigungs- und Verfassungsdiskussion mitzunehmen.

Auch wenn die DDR am 9. November politisch, wirtschaftlich und moralisch bankrott war, wurden die sozialen Kompetenzen und ihre Erfahrungen einer friedlichen und von Zivilcourage getragenen Revolution nach dem 9. November 1989 zu wenig gewürdigt, ernstgenommen und im neuen gemeinsamen Deutschland sträflich vernachlässigt, ja ignoriert.

Auch wenn sich die staatlich gelenkte Planwirtschaft der DDR als nicht funktional erwiesen hat, hätten die DDR-Erfahrungen mit Krippen, Polykliniken, und genossenschaftlichen Betriebs- und Produktionsformen durch aus in der sozialen Marktwirtschaft liberaler und demokratischer Prägung, etwa im Sinne einer christlichen und humanistischen Sozialethik, gemeinwohlorientiert weiterentwickelt werden können.

35 Jahre danach leben wir in einer multipolaren und unübersichtlichen Welt, so dass man sich fast nach der eindeutigen Konflikt- und Friedensordnung des Kalten Krieges zurücksehnen könnte.

Wir müssen als Deutsche in Europa, siehe Trump und Co, erkennen, dass es Amerika heute nicht mehr besser hat und wir uns aif seinen transatlantischen Schutzschirm in internationalen Konfliktfällen nicht mehr verlassen können.

Allen anderslautenden Durchhalteparolen, ist die Europäische Union und die europäischen Nato-Staaten auf diese nicht ganz neue Realität und Einsicht nicht vorbereitet.

Kann man den 9. November 1989 als Glücksmoment der deutschen Geschichte und den 9. November 1918 als einen schmerzvollen, aber unvermeidlichen Transformationsprozess begreifen, so bleiben der 9. November 1923, als Hitler versuchte die Weimarer Republik wegzuputschen und der 9. November 1938, an dem die Judenverfolgung im nationalsozialistischen Deutschland einen ersten Höhepunkt erreichte, der die Tür zum Völkermord des Holocaust öffnete, unauslöschliche Tiefpunkte und Schandmale der deutschen Geschichte.

Doch wir haben, wenn auch spät, als Deutsche aus der Not eine Tugend gemacht und unsere Geschichte selbstkritischer aufgearbeitet und reflektiert, als manche andere Nationen.

Dabei konnten wir an das Erbe anknüpfen, das uns die Blutzeugen im deutschen Widerstand gegen Hitler hinterlassen haben. Staufenberg und Scholl sind nur zwei von vielen Namen, die in diesem Kontext uns bis heute als geistiger und moralischer Kompass dienen können.

Deshalb brauchen wird auch, anders, als von einigen Exponenten des politisch rechten Randes, keine Geschichtswende um 180 Grad. Die unvergleichlichen Menschheitsverbrechen, die zwischen 1933 und 1945 im deutschen Namen begangen worden sind, sind kein Vogelschiss der deutschen Geschichte, den mal wegwischen könnte. Sophie Scholl hat zurecht gemahnt: "Die Verbrechen, die heute im deutschen Namen begangen werden, werden uns noch in 1000 Jahren anhängen." Doch wenn wir auch aus den deunkelsten Kapiteln unserer Geschichte heute und für morgen lernen, dann kann uns die Geschichte zur Quelle der Stärke und der Erkenntnis werden und uns so davonabhalten, den Fehler unserer Vorfahren zu wiederholen und den scheinbar so einfachen Heilsversprechen politischer Extremisten mit absolutem Macht- und Wahrheitsanspruch zu folgen. Denn nicht nur im privaten, sondern auch im politischen Raum bleibt Erich Kästners Erkenntnis zeitlos aktuell: "Es geschieht nichts gutes, außer man tut es!"


Erinnern für heute und morgen

Samstag, 26. Oktober 2024

Kunst inklusive

 "Ab in die Mitte", heißt es noch bis Mitte Dezember bei der Jahresausstellung des inklusiven Vereins Art Obscura. Es geht dabei nicht nur um Mülheims Mitte, wo Art Obscura seit drei Jahren im Haus an der Georgstraße 26 sein Domizil hat, sondern auch darum, was es bedeutet, wenn wir vom Rand in die Mitte unserer Gesellschaft oder unserer sozialen Gruppe treten.

Mit Workshops, Werkschauen und Projekten bringt Art Obscura Menschen mit und ohne Handicap durch die Kunst zusammen. "Wer von uns hat eigentlich kein Handicap?" fragt sich in diesem Zusammenhang Vorstand Kirsten Uecker. Und ihr Vorstandskollege Gert Rudolph sieht das Anliegen von Art Obscura darin, allen Menschen, unabhängig von ihrem Handicap oder von ihrer Herkunft, die aktive Teilhabe an der Kunst zu ermöglichen." Seit Joseph Beuys wissen wir: "Jeder Mensch ist ein Künstler." 

Das zeigte auch die Vernissage im Art-Obscura-Haus der Georgstraße 26, bei dem es zum Auftakt eine Theaterperformance zu Smetanas Tondichtung "Die Moldau" zu sehen gab. 25 Kreative präsentieren bei der Jahresausstellung ihre Gemälde und Fotografien in ganz unterschiedlichen Stilrichtungen. 

"Die Kunst macht das Leben schön", sagt der 27-jährige Philipp, der unter anderem ein Paar gemalt hat, dass durch Venedig gondelt. Ernster geht es in Wolfgangs Bildern zu, die Krieg, Frieden und Umweltzerstörung thematisieren. "Ich bin ein politisch denkender Mensch und so male ich auch, weil ich damit zum Beispiel meine Gedanken aus der Birne herausbekommen kann", sagt der 71-Jährige, der mit seiner Frau im Fliednerdorf lebt und sein Leben, trotz einer seelischen Erkrankung, zu meistern versteht. Das gilt auch für den vor 64 Jahren mit einem Autismus geborenen Wulf.

"Mit meiner Kunst kann ich meine Welt anderen Menschen vermitteln", sagt der auch in der Arbeitsgemeinschaft Mülheimer Künstler aktive Maler, der uns mit seinen Bildern in fantastische Welten entführt.


Zum Verein Art Obscura

Donnerstag, 24. Oktober 2024

Preiswürdig

Die Stadt verrate ihn, die Sparkasse finanziert ihn mit einem Preisgeld von jeweils 3000 €. Auch in seinem 62. Jahrgang macht der Ruhrpreis für Kunst und Wissenschaft seinem Namen alle Ehre. In der Stadthalle werden am 1 Dezember Maria Neumann und Frank Neese für ihre Arbeit als Schauspielerin am Theater an der Ruhr und als Chemiker in der Grundlagenforschung am Max-Planck-Institut für Kohleforschung!  

Wie seiner Ko-Preisträgerin erlebt Neese, der seit 2001 in Mülheim lebt und arbeitet, seine Auszeichnung als Ansporn, "in meiner Arbeit nicht nachzulassen". Mit ihm, so Neese werde auch die Grundlagenforschung, die wir uns in Deutschland Gott sei dank immer noch leisten. "Denn das", so Neese, "was heute noch Grundlagenforschung ist, ist morgen schon Innovation und übermorgen Realität."

"Was ist der  Mensch?", nennt Maria Neumann die Frage, die an allem Anfang von Literatur und Theater steht. "Im Theater kann man authentisch und analog erleben was man mit seinem Smartphone nicht erleben kann, die lebendige Sprache als Erkenntnisprozess, was uns als Menschen ausmacht", betont Neumann.

Der Name des geschäftsführenden MPI-Direktors, Frank Neese, verbindet sich unter anderem mit einer Fachsoftware, mit deren Hilfe man chemische Grundlagenrechnungen erleichtert, womit sich auch Medikamente optimieren lassen. Die seit 1986 am Theater an der Ruhr wirkende Schauspielerin Maria Neumann hat sich als Sprachkünstlerin einen Namen gemacht, die es versteht, die in Szene gesetzte und gesprochene Literatur vom Märchen bis zum aktuellen Bühnenstück, auch Kindern und Jugendlichen altersgerecht zu vermitteln und sie damit für die Literatur, für die Sprache und für das Theater zu begeistern. Was ist eigentlich der Mensch?


Mittwoch, 16. Oktober 2024

Nah am Wasser gebaut

Mülheim ist nah am Wasser gebaut. Man sieht es. Die 239 Kilometer lange Ruhr fließt auf 14 Kilometern Länge mitten durch die Stadt. Mülheim an der Ruhr trägt als Stadt am Fluss eben diesen auch im Namen. 

Was wären Muelheims Handel und Industrie, siehe Tengelmann, Lindgens, Dinnendahl, Troost, Thyssen, Stinnes und Co ohne die Ruhr. Bis zum Beginn des Eisenbahnzeitalters um 1860 war sie der am stärksten befahrene Fluss Europas. Wo der Muelheimer Verschoenerungsverein ab 1880 daran  ging, die Ruhranlagen anzulegen, lagen seit 1839 Mülheims erster Hafen, eingerahmt von Schiffswerften und Kohlenmagazinen. 

Obwohl es bereits 1853 eine Mülheimer Schifffahrtsgesellschaft mit zwei Ausflugsdämpfern gab, sollte sich die weiße Flotte erst ab 1927 dauerhaft etablieren. Im gleichen Jahr wurde in Speldorf der Rhein Ruhr Hafen mit seiner Hafenbahn in Betrieb genommen, wovon anfangs vor allem die 1811 gegründete Friedrich-Wilhelms-Hütte profitieren konnte. Heute ist der von den städtischen Betrieben gemanagte Rhein Ruhr Hafen ein Gewerbegebiet mit mehr als 300 Unternehmen, in dem zu Lande und zu Wasser jährlich mehr als eine Million Tonnen Frachtgut umgeschlagen werden. 

Doch die auch landschaftlich reizvolle Lage an der Ruhr hat für Mülheim nicht nur Vorteile mit sich gebracht. Das Juli-Hochwasser des Jahres 2021 mit seinen massiven Schäden auf der Schleuseninsel ist allen Mülheimerinnen und Mülheimern noch in schlechtester Erinnerung. Seitdem liegt der Wasserbahnhof de facto auf Eis. Vergleichbare Hochwasserschäden waren sowohl 1890 als auch im August 1954 zu beklagen, als weite Teile der Stadt an eine seenlandschaft erinnerten und die Stadt insgesamt 18 Standorte mit massiven Infrastrukturschäden zu beklagen hatte. Auch die Vollendung des Stadthallenbaus am Broicher Ruhrufer wurde 1925 durch Hochwasser verzögert und sorgte dafür, dass man an der Baustelle nasse Füße bekam. Legende sind auch die zahlreichen Fotografieren, auf denen man die alten Mölmschen in Booten durch die überflutete Delle oder durch die unter Wasser stehende Ruhrstraße fahren sieht. So mancher Kaufmann an den damaligen Hauptgeschäftsstraßen der Stadt musste in der Hochwassersaison massive Materialverluste hinnehmen, weil seine Lager vollgelaufen waren.

Angesichts der jüngsten Starkregenereignisse, die mit dem Klimawandel in Verbindung gebracht werden, stellt sich die Frage einer klimagerechten und umwelterhaltenden Stadtplanung mit weniger CO2-Ausstoß, mehr erneuerbaren Energieträgern und mehr Grün- und Freiflächen in einer ganz neuen globalen Dimension, die uns zwingt, lokal zu handeln und global zu denken.

Sonntag, 13. Oktober 2024

Das Ende einer Lebensreise

"Ich bekenne, ich habe gelebt." Die so betitelte Autobiografie des chilenischen Dichters und Nobelpreisträgers Pablo Neruda war nur ein Buch, das Wolfgang Hausmann seinem Publikum mehr als einmal vorgestellt hat.

Mit ihm konnte man auch in die Welt von Heinrich Heine, Wilhelm Busch, Kurt Tucholsky Mascha Koleko und Joachim Ringelnatz eintauchen. 

Das letzte Kapitel im indischen Leben von Wolfgang Hausmann ist geschrieben. Die Buchdeckel seiner Lebensgeschichte haben sich geschlossen.

Ein Monat vor seinem 73. Geburtstag ist Wolfgang Hausmann plötzlich und unerwartet verstorben. 1951 in Bochum geboren, fand er in der Heimaterde eine Wahlheimat, in die er seine Liebe zum geschriebene und gesprochenen Literatur mitbrachte, um sie seinen Nachbarn und Mitbürgerinnen und Mitbürgern zum Veranstalter und Rezitator von Lesungen und Konzerten nahezubringen.

Er machte sie nicht nur mit der deutschen und internationalen Literatur, sondern auch mit Wort- und Klangkünstlern, wie Oliver Steller und Lutz Görner bekannt. Bei Görner und Steller ging er als Rezitator in die Schule, um in ihrem Stile literarische und musikalische Abende in der Stadtteilbücherei Heißen, im MWB-Nachbarschaftshaus am Hingberg, im Kulturzentrum Fünte und zuletzt in der evangelischen Ladenkirche an der Kaiserstraße auf die Bühne zu bringen. "Die große Kunst mit ganz wenigen Worten ganz viel und vor allem das Wesentliche zu sagen und auf den Punkt zu bringen." Das war in den Worten von Wolfgang Hausmann der Kern seiner Begeisterung für die Literatur, deren Funke an seinen Literaturabenden auf sein Publikum über. Verdient und gemacht hat sich Hausmann nicht nur mit der Veranstaltungsreihe "Musik und Literatur in der Heimaterde", sondern auch mit der Lesung "verbrannter Autoren" am 10. Mai, die am Jahrestag der nationalsozialistische Bücherverbrennung über die Lesebühne ging. Für diese Veranstaltung, die abwechselnd vor dem und im Medienhaus am Synagogenplatz stattfand, fand er auch zahlreiche prominente Mülheimer Mitleser und Mitleserinnen. 

Mit Wolfgang Hausmann ist viel zu früh einer der belesensten  Bürger unserer Stadt in die Kulturgeschichte Mülheims eingegangen. 

Samstag, 12. Oktober 2024

Zur Lage der Nation

Ein Geburtstag ist ein Anlass, um zu feiern, aber auch ein Moment des Innehaltens und des Nachdenkens darüber, was gut gelaufen ist und was besser laufen kann im eigenen Leben.

So ist es auch mit unserem Land und mit unserer Gesellschaft, im seit 1990 wiedervereinigten Deutschland. Deshalb hat die CDU auch am 34. Tag der Deutschen Einheit zum Herbstgespräch eingeladen.

Diesmal sorgte Hans-Georg von der Marwitz als Gastredner im Kunstmuseum Alte Post mit seinen kritischen Feiertagsrede für reichlich Gesprächsstoff.

Der Landwirt und CDU-Politiker hat eine deutsch-deutsche Biografie. In Süddeutschland geboren und aufgewachsen, bewirtschaftet er seit der Wiedervereinigung 1990 einen Teil des Landes, das seiner aus Brandenburg stammenden Familie bis 1945 gehört hat.

Während die CDU-Kreisvorsitzende und Bundestagsabgeordnete Astrid Timmermann-Fechter die Wiedervereinigung als einen der "glücklichsten Momente der deutschen Geschichte" bezeichnete, nannte von der Marwitz die Wiedervereinigung "ein Geschenk". Warum wir zu unserem Glück wiedervereinigt sind, machte er mit einem eindrücklichen Rückblick auf seinen Besuch in der real existierenden DDR des Frühjahres 1989 deutlich, als seine sächsischen Gastgeber und er als junger Besucher aus dem Westen Deutschlands noch mit der Willkür der SED-Diktatur konfrontiert wurden. Damit führte Hans-Georg von der Marwitz seinem Publikum noch einmal vor Augen, dass es keinen Grund gibt, der DDR nachzutrauern.

Dennoch machte er deutlich, dass er den Zustand unseres Landes und unserer Gesellschaft 35 Jahre nach dem glücklichen Mauerfall mit großer Sorge sieht und es ihm, wie seinerzeit Heinrich Heine ergehe: "Denke ich an Deutschland in der Nacht, bin ich um den Schlaf gebracht."

Die Wahlerfolge der in Teilen rechtsextremen AFD bei den Landtagswahlen in Brandenburg Sachsen und Thüringen kommen für ihn nicht von ungefähr. Obwohl er Helmut Kohl das historische Verdienst bescheinigt, die historische Gunst der Stunde 1989/90 erkannt und entsprechend gehandelt zu haben, machte er deutlich, dass schon die westdeutsche Bundesregierung Kohl/Genscher den Menschen in der damals noch existierenden DDR Hoffnungen gemacht habe, die unhaltbar gewesen seien. Auch die mangelnde Bereitschaft der Westdeutschen im Zuge der Wiedervereinigung die Lebensleistungen ihre ostdeutschen Landsleute zu würdigen und unbestreitbare Errungenschaften der DDR für das wiedervereinigte Deutschland, auch jenseits des grünen Pfeils, für das zu übernehmen, hätten die Ostdeutschen tief enttäuscht und ihnen das Gefühl gegeben, als Bundesbürger zweiter Klasse nicht gebraucht und nicht anerkannt zu werden. Von der Marwitz erinnerte an den massenhaften Verlust von Arbeitsplätzen, die das Ergebnis der Abwicklung der volkseigenen DDR-Betriebe durch die Treuhand gewesen seien, an westdeutsche Geschäftsleute, die die unerfahren Verbraucher im Osten Deutschlands finanziell über den Tisch gezogen hätten und an kontraproduktive Strukturentscheidungen, die nach der Wiedervereinigung von westdeutschen Verwaltungs- und Wirtschaftsmanagern zum Nachteil der Ostdeutschen getroffen hätten.

Mit Blick auf die aktuelle Lage der deutschen Nation, sieht von der Marwitz ein Defizit an Realismus und ehrlicher Kommunikation. Anspruch und Wirklichkeit sieht er im wiedervereinigten Deutschland des Jahres 2024 weit auseinanderklaffen. Das macht er an Defiziten in unserer Infrastruktur, in unserem Bildungswesen und an überzogenen Sozialleistungen fest. Er sieht Deutschland derzeit als eine Gesellschaft, die, wie im Märchen vom Fischer und seiner Frau, unzufrieden über ihre Verhältnisse lebt. Von der Marwitz: "Wer Rechte hat, der hat auch Pflichten. Aber wir erwarten heute oft von anderen mehr, als wir selbst zu leisten, bereit sind!" Nur wenn diese mentalen und materiellen Strukturprobleme von den demokratischen Parteien glaubwürdig angegangen und gelöst werden, kann unsere Demokratie, nach seiner Ansicht, den Anfechtungen rechter und linker Extremisten standhalten. Von der Marwitz sieht den Auftrag des Tages der Deutschen Einheit darin, dass "wir schützen und stützen, was wir lieben", damit die Vision, die Hoffmann von Fallersleben 1841 in seinem Lied der Deutschen beschrieben hat: "Einigkeit und Recht und Freiheit sind des Glückes Unterpfand. Danach lasst uns alles streben, brüderlich mit Herz und Hand. Blühe im Glanzes dieses Glückes, blühe deutsches Vaterland."



Dienstag, 8. Oktober 2024

Ein Mensch. der uns fehlt

 In Zeiten, in denen der Nahost-Konflikt eskaliert, wäre seine Analyse gefragt. Doch Gerhard Bennertz ist tot. Der evangelische Theologe und Religionspädagoge ist im Alter von 86 Jahren gestorben.

Sein Namen verbindet sich mit der Aufarbeitung der Mülheimer Judenverfolgung während der NS-Zeit und mit der 1993 begründeten deutsch-israelischen Städtepartnerschaften zwischen Kfar Saba und Mülheim. 

Seine Schüler am Berufskolleg Stadtmitte fragten ihn Ende der 1970er Jahre danach, wie es eigentlich mit der nationalsozialistischen Judenverfolgung in Mülheim aus. Deshalb machte er sich auf die Spurensuche, nahm Kontakt mit der Jüdischen Gemeinde auf und wurde auf jüdische Mülheimer hingewiesen, die zum Beispiel in Palästina den Holocaust überlebt hatten.

Er nahm Kontakt zu ihnen, reiste nach Israel und notierte in seinen kleinen Heften jüdische Zeitzeugnisse aus dem Mülheim nach 1933, Die Ergebnisse seiner Gespräche dokumentierte er 1983 in der Zeitschrift des Mülheimer Geschichtsvereins. Das war die erste Dokumentation jüdischer Schicksale in der NS-Zeit.

Seine Begegnungen in Israel motivierten ihn, sich für eine deutsch-israelische Schul- und Städtepartnerschaft zu engagieren. Aus seiner Idee wurde die Städtepartnerschaft mit Kfar und eine Berufsschulpartnerschaft mit Karmiel. Karmiel, das wusste er aus seinen Recherchen, war unter anderem von David Tanne gegründet worden, dessen Wiege in Mülheim gestanden hatte und der mit seinen Eltern 1933 nach Palästina geflohen war, wo er im 1948 geborenen Staat Israel zum Staatssekretär im Bauministerium aufgestiegen war.

Zu den bewegendsten Momenten seiner Versöhnungsarbeit gehörte der Mülheim-Besuch von 17 jüdischen Mülheimern, die ihre Heimatstadt, aus der sie nach 1933 fliehen mussten, um ihr Leben zu retten, und die 50 Jahre nach der Reichspogramnacht als Gäste ihrer ehemaligen Heimatstadt Mülheim im November 1988 wiedersahen.

Gerhard Bennertz, der seinen Nachlass bei Zeiten dem Stadtarchiv übergeben hat, engagierte sich ehrenamtlich im Evangelischen Arbeitskreis der CDU, in der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit, in der Deutsch-Israelischen Gesellschaft und als Israel-Beauftragter im 1995 gegründeten Förderverein Mülheimer Städtepartnerschaften. In ihrem Auftrag reiste er mehr als 40 Mal nach Israel, um seinen Mülheimer Mitbürgerinnen und Mitbürgern die Partnerstadt Kfar Saba und Israel nahezubringen.

Mittwoch, 25. September 2024

Wer war Washington?

 Washington. Der Name dieser Stadt ist heute ein Synonym für die Politik der Supermacht USA, bei der auch nicht alles super läuft. Auf Hochtouren läuft derzeit der Präsidentschaftswahlkampf, an dessen Ende etwa 161 Millionen Amerikanerinnen und Amerikaner am 5. November darüber entscheiden, ob Donald Trump als 47. US-Präsident eine zweite Amtszeit bekommt oder ob es mit Kamala Harris eine 47. Präsidentin der USA geben wird.

Als Gorge Washington 1788 zum ersten Präsidenten gewählt wurde, war von Wahlkampf noch keine Rede. Der Landvermesser, Großgrundbesitzer und General aus Mount Vernon in Virginia ließ sich bitten, ehe er sich zur Wahl stellte und als einziger US-Präsident einstimmig in sein Amt gewählt wurde. 

Als Oberbefehlshaber der US-Truppen im 1783 beendeten Unabhängigkeitskrieg und als Vorsitzender des Verfassungskonvents in Philadelphia hatte sich Washington das Vertrauen seiner Landsleute verdient, dass ihn zum ersten Präsidenten der USA machte.

Am 4. März 1789 wurde er noch nicht in Washington auf den Stufen des Capitols, sondern auf dem Balkon der Federal Hall in New York in sein Amt eingeführt. Dass er dort eine gar nicht vorgesehene Antrittsrede an die vor der Federal Hall versammelten Bürgerinnen und Bürger hielt, war der erste Maßstab, den er als Erster in seinem Amt setzte. 

Ein jährlicher Bericht vor beiden Kammern des Kongresses zur Lage der Nation machte ebenfalls bei seinen Nachfolgern Schule. Auch mit seinem Verzicht auf eine dritte Amtszeit, die damals möglich gewesen wäre, weil die Begrenzung auf zwei Amtszeiten des US-Präsidenten erste 1951 in der US-Verfassung verankert wurde, setzte Maßstäbe. 

Gleiches galt für seinen Anspruch, als Präsident gezielt, aber nicht übertrieben von seinem Veto gebrauch zu machen, wenn er einen Gesetzesentwurf des Kongresses für mit den nationalen Interessen nicht vereinbar hielt. Auch sein Beharren darauf, dass er als Präsident die Richtlinien der amerikanischen Außenpolitik bestimmte und sich Minister seines Vertrauens auswählte, die nach dem Ressort-Prinzip ein Kabinett bildeten, dessen Mitglieder wiederum nur vom Senat bestätigt werden mussten, bestimmt bis heute die Amtsführung der US-Präsidenten.

Erst sein Nachfolger John Adams regierte ab 1801 im Weißen Haus in Washington, wo der Namensgeber der neuen amerikanischen Hauptstadt 1798 den Grundstein für das Kapitol, den Sitz des Repräsentantenhauses und des Senates gelegt hatte.

Als sich der damals 64-jährige Washington 1796 in seiner Far-Well-Adress als Präsident von seinen Landleuten verabschiedete, riet ihr ihnen zu einer strikten außenpolitischen Neutralität und warnte sie vor der Entstehung politischer Parteien, die mit ihrem Geist dem Gemeinwohl zuwiderliefen. Wir wissen heute: Es sollte anders kommen.

Auch der 1799 verstorbene Washington, von dem es im Nachruf eines Freundes hieß: "Er war der Erste im Krieg, der Erste im Frieden und der Erste in den Herzen seiner Landsleute!" lebte in den Widersprüchen seiner Zeit. Als Anhänger der Aufklärung lehnte er die Sklaverei ab, obwohl er als Großgrundbesitzer Sklaven hielt. Allerdings entließ er seine Sklaven testamentarisch in die Freiheit. Doch die ehemaligen Sklaven blieben, wo sie waren und hielten auch Washingtons Frau Martha bis zu ihrem Tod (1802) die Treue, weil sie den Ort, an dem sie waren, als den für sie Bestmöglichen sahen, um dort als freie Menschen zu leben und zu arbeiten. Die Sklavenbefreiung durch Washingtons Amtsnachfolger, Abraham Lincoln, im Jahr 1863 sollten auch sie nicht mehr erleben.

Samstag, 21. September 2024

Denkmal Mülheim

 Auch wenn der Zweite Weltkrieg viele von ihnen zerstört hat, findet man in unserer Stadt bei genauerem Hinsehen noch etliche Fachwerkhäuser. Zwei von ihnen, die zurzeit restauriert werden, wurden jetzt beim Tag des offenen Denkmals der interessierten Öffentlichkeit vorgestellt.

Das Bekanntere von Beiden ist das sogenannte Tersteegenhaus an der Teinerstraße aus dem Baujahr 1536, das andere ein vormaliges Schifferhaus aus dem Baujahr 1841.

Beide Häuser wurden im bergischen Fachwerkstil, mir weiß gekalkten Ziegelsteinen, Lehm und Eichenholzbalken errichtet. "Hier haben die Menschen gelebt, die das Ruhrgebiet mit aufgebaut haben und die wussten, wie man gute Häuser baut!" sagt der Eigentümer des alten Schifferhauses am Scharpenberg, der dort mit seiner Familie lebt und das Haus unter der Federführung der Architekten Wolfgang Kamieth und Matthias Pawlik von Bauhandwerkern restaurieren. 

Wolfgang Kamieth, der selbst in einem 1784 errichteten Schifferhaus, gleicher Bauart an der Ruhr wohnt, das er Ende der 1980er Jahre selbst restauriert hat, ist sich mit seinem Auftraggeber, einem IT-Fachmann, einig: "Man kann in solch alten Häusern mit ihren natürlichen Baustoffen gut und komfortabel wohnen, ohne Abstriche beim modernen Wohnkomfort machen zu müssen."

Hausherr und Architekt hoffen, dass die Restauration des denkmalgeschützten Hauses 2025 nach dann fünf Jahren erfolgreich abgeschlossen werden kann. "Wenn es keine Dekmalbauförderung des Bundes und des Landes und die fachkundige Begleitung durch die Untere Denkmalbehörde gäbe, würde es solche Häuser heute nicht mehr geben", unterstreicht der Hauseigentümer mit Blick auf die Kosten. Dennoch möchte er sein Fachwerkhaus mit insgesamt 250 Quadratmetern Wohnfläche, zuzüglich Garten mit keinem modernen Reihenhaus oder mit einem Penthouse-Apartment tauschen. "Wenn Kinder ein Haus malen sollen, malen sie in der Regel ein Fachwerkhaus. Diese kompakte und überschaubare Architektur steckt wohl als Archetyp eines Wohnhauses in uns Menschen drin", sagt Architekt Kamieth, der bereits in den 1970er Jahren mit der Restauration alter Häuser begann, als das in seinem Metier noch als aus der Zeit gefallen belächelt wurde.

Auch das Tersteegenhaus, in dem von 1746 bis 1769 der Dichter, Prediger und Menschenfreund Gerhard Tersteegen lebte und wirkte, wird derzeit noch renoviert. 2017 musste das seit 1950 als Heimatmuseum genutzte Heimatmuseum geschlossen und eingerüstet werden. "Einsturzgefahr wegen Holzschwambefall!" lautete damals die Diagnose.

Der 2011 gegründete Förderverein des Tersteegenhauses plant seine Wiedereröffnung für Ende 2026. Doch bis dahin muss der dritte Bauabschnitt der rund 4,8 Millionen Euro kostenden Restauration bewältigt werden. Bund, Land, Stadt und spendable Bürgerinnen und Bürger sollen es möglich machen. 

Zurzeit liegt die Sache zur Beratung im Rathaus. Das Konzept für eine moderne, interaktive, generationsübergreifende und barrierearme Nutzung des neuen/alten Heimatmuseums, das um einen modernen Anbau erweitert werden soll, hat der Förderverein bereits ausgearbeitet und ebenfalls am Tag des offenen Denkmals der interessierten Öffentlichkeit vorgestellt.


Zum Förderverein des Tersteegenhauses  


Donnerstag, 19. September 2024

Wenn die Feuerwehr feiert

Solche Tage lieben Gäste und Gastgeber. Es ist Samstag, Es ist arbeitsfrei und die Sonne scheint. Und alle sind entspannt und gut gelaunt. Genau so einen Tag erwischte jetzt die Berufsfeuerwehr, die mit ihrem Tag der Offenen Türe ihren 100. Geburtstag feierte und dabei, nach eigenen Schätzungen, mindestens 10.000 Besucher aus allen Generationen begrüßen konnte. Feuerlöschen und im Feuerwehrauto hinter dem Lenkrad sitzen. Das kam beim Nachwuchs ebenso gut an, wie das Üben der Reanimation mit einem Dummy. 

Gefühlt waren alle 350 Mitarbeitende der Mülheimer Berufsfeuerwehr im Einsatz, ob beim Catering, ob bei einer Modenschau, bei der Feuerwehrleute zu Models wurden und ihre ganz unterschiedliche Arbeitskleidung, von der Ausgehuniform bis zum Spezialanzug für die Bewältigung von Chemieunfällen vorführten, Beeindruckend war auch die Einsatzdemonstration des Feuerwehrnachwuchses. Er zeigte am 35 Meter hohen Übungsturm, der nicht von ungefähr an ein Hochhaus erinnert, wie man sich als Feuerwehrmann oder Feuerwehrfrau, via Seil und Hakenleiter über den Balkon Zugang in eine brennende Wohnung verschafft oder sich im Notfall auch wieder abseilt, wenn der Brandherd den Hausein- udn Ausgang unpassierbar macht. Unter den mehr als 100 Feuerwehrfahrzeigen, die beim Tag der Offenen Türe auf dem Geländer der Feuerwache an der Duisburger Straße und vor der angrenzenden Alten Dreherei präsentiert wurden, waren auch etliche Feuerwehr-Oldtimer aus den 1950er, 1960er und 1970er Jahre. 

Apropos Oldtimer: Weil nicht nur bei der Berufsfeuerwehr viele Fachkräfte aus den geburtenstarken Jahrgängen demnächst in den Ruhestand gehen, nutzten nicht nur die Gastgeber, sondern auch befreundete Hilfsorganisationen, wie Polizei, Deutsches Rotes Kreuz, Malteser, Johanniter Unfallhilfe und die Ökumenische Notfallseelsorge den Tag der Offenen Tür, um ihre Arbeit vorzustellen und um Nachwuchs zu werben. Weil der demografisch bedingte  Fachkräftemangel auch bei der Berufsfeuerwehr angekommen ist, verzichtet sie bei Einstellungen inzwischen auf die früher obligatorische Handwerksausbildung. Nur eine Sanitäts- und Rettungsausbildung bleibt weiterhin verpflichtend.

Berufsfeuerwehr Mülheim an der Ruhr

Dienstag, 10. September 2024

Ein Amt im Wandel der Zeit

 Es gilt als das mächtigste Amt der Welt, das amerikanische Präsidentenamt. Egal, ob die Demokratin Kamala Harris oder der Republikaner Donald Trump 47. Präsident der USA werden. Im Oval Office des um 1800 erbauten Weißen Hauses in Washington sitzt der Mann oder demnächst auch die Frau, die die US-Armee kommandiert, an der Staatsspitze steht und die Regierung einer Supermacht leitet.

Zur Supermacht wurden die USA erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Der Kalte Krieg machte es möglich und erforderlich. Inzwischen können sich die Nato-Partner der USA des amerikanischen Schutzschirms nicht mehr so sicher sein, wie bis zum Ende des Kalten Krieges in den Jahren 1989/90.

Waren die US-Präsidenten des 18. und 19. Jahrhunderts im Grunde Einzelkämpfer, die vom Kongress bestenfalls Sekretäre und Kammerdiener bewilligt bekamen. So wuchs der präsidiale Mitarbeiterstab mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts auf mehr als 100 Mitarbeitende an.

Die Administration des Weißen Hauses ist seitdem in dem Maße weiter angewachsen, in dem die administrativen Aufgaben des US-Präsidialamtes angewachsen sind. 

Hatte der erste US-Präsident George Washington noch die amerikanische Neutralität betont, so erweiterte der 4. US-Präsident James Monroe den Einflussbereich der USA 1823 auf den amerikanischen Kontinent, betonte aber die politische Abstinenz seines Landes im Verhältnis zu Europa.

Erst mit dem spanisch-amerikanischen Krieg um Kuba traten die USA unter ihrem Präsidenten William McKinley 1898 in die Weltpolitik ein. Und sein Nachfolger Theodore Roosevelt wurde 1906 für seine Friedensvermittlung zwischen Russland und Japan mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet, obwohl er 1903 den Bau des Panamakanals auch mit militärischen Mitteln durchgesetzt hatte.

Mit dem Eintritt der USA in den Ersten Weltkrieg wurde das damals von Woodrow Wilson geführte Land 1917 endgültig zur Weltmacht, auch wenn seine republikanischen Nachfolger die USA während der 1920er Jahre in eine außenpolitische Isolation führten.

Doch spätestens mit der Weltwirtschaftskrise (1929-1933) und dem Zweiten Weltkrieg (1939-1945), in denen die USA 1941 eintraten, wurde der Mitarbeiterstab des Präsidenten zur großen Regierungsbehörde, zu dessen Mitarbeitern seit 1929 auch ein Pressesprecher gehörte, wobei Franklin D. Roosevelt im Rahmen seiner New-Deal-Politik gegen die Folgen der Weltwirtschaftskrise sich als erster US-Präsident ab 1933 in wöchentlichen Radioansprachen an die Nation wandte.

Sein Nachfolger Harry S. Truman, der 1945 den Einsatz amerikanischer Atombomben gegen Japan befohlen hatte, ging auch als der Präsident in die Geschichte ein, der 1951 die präsidiale Amtszeit auf maximal zweimal vier Jahre beschränkte und als erster Ex-Präsident ein steuerfinanziertes Ruhegehalt bekam.

Der Demokrat John F. Kennedy war nicht nur der erste katholische Präsident der USA, sondern auch der erste Amtsinhaber, der seine Wahl auch einer erfolgreichen Fernsehdebatte gegen seinen republikanischen Kontrahenten Richard Nixon zu verdanken hatte. Außerdem war Kennedy der erste US-Präsident, der regelmäßig Pressekonferenzen abhielt, die live im Fernsehen übertragen wurden.

Richard Nixon, unter ihm wuchs die Mitarbeiterzahl des Weißen Hauses auf mehr als 600 an, trat 1974 als erster US-Präsident von seinem Amt zurück, um einem Amtsenthebungsverfahren infolge der Watergate-Affäre zuvorzukommen, bei der er 1972 das Wahlhauptquartier seines demokratischen Widersachers George McGovern hatte abhören lassen. Irrsinnig. Denn Nixon gehörte 1972, nach Franklin D. Roosevelt (1936) und Lyndon B. Johnson (1964) zu den US-Präsidenten, die mit mehr als 60 Prozent der Stimmen wiedergewählt worden waren.

Nixons republikanischer Nachfolger Gerald Ford war der einzige US-Präsident der USA, der nur als Vizepräsident und damit als Ersatzmann für seinen Vorgänger ins Weiße Haus einziehen konnte. Dass ihm 1976 eine Wiederwahl gegen den Demokraten Jimmy Carter versagt blieb, war vor allem darauf zurückzuführen, dass er seinem im Amt straffällig gewordenen Vorgänger Nixon eine Generalamnestie für seine Amtsvergehen gewährt hatte.

Der später mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnete Demokrat Jimmy Carter war, neben George Washington, der bisher einzige US-Präsident, in dessen Amtszeit kein US-Soldat einen Schuss abgegeben hatte.

Und während mit dem Demokraten Barack Obama 2009 erstmals ein Afroamerikaner als Präsident ins Weiße Haus einzog, könnte seine Parteifreundin Kamala Harris als erste US-Präsidentin am 20. Januar 2025 ins Weiße Haus einziehen.




Donnerstag, 5. September 2024

"Wozu sind denn Kriege da?"

 "Wozu sind die Kriege da?"Udo Lindenberg schrieb und sang dieses Lied 1981 auf dem Höhepunkt der Atomraketenrüstung des Kalten Krieges. Dieses, nicht nur angesichts des Russland-Ukraine-Krieges leider immer noch aktueller denn je. Das zeigte sich auch am Antikriegstag, zu dem der Deutsche Gewerkschaftsbund seit 1957, so auch jetzt ins Luisental einlud, und damit diesmal besonders großen Anfang fand, auch deshalb, weil die 32 Schülerinnen und Schüler der Musical-Klasse 7d von der Gesamtschule Saarn Lindenbergs Friedenslied vor dem 1956 vom Bildhauer Josef Rübsam geschaffenen Mahnmal für die NS- und Kriegsopfer bewegend interpretierten. 

"Das ist für uns eine wichtige Botschaft, die wir in die Köpfe der Menschen hineinbekommen wollen, wie wichtig und zerbrechlich der Frieden ist. Deshalb wollen wir uns als Schule öffnen und auch bei dieser Veranstaltung, bei der viele Menschen sind, weitergeben, weil das viel stärkere Wirksamkeit hat, als wenn wir dieses Lied nur in der Schule singen würde", erklärt Musiklehrer Sebastian klein, warum die Musical-Kinder der Gesamtschule auch diesmal wieder bei der Friedenskundgebung zum 1. September sicht- und hörbar motiviert mit von der Partie waren.

"Der Antikriegstag erinnert uns daran, dass wir alle dazu aufgefordert sind, unseren Beitrag zum Frieden auf dieser Welt zu leisten", betonte die stellvertretende Bezirksvorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes, Katrin Schledorn.

Oberbürgermeister Marc Buchholz erinnerte in seiner Ansprache als daran, dass der Antikriegstag als Friedenstag bewusst am Jahrestag des deutschen Überfalls auf Polen begangen wird, mit dem 1939 der Zweite Weltkrieg begann und allein in Mülheim fast 8000 Menschenleben forderte. "Indem wir uns heute nicht nur vor allen Kriegsopfern verneigen, erinnern wir uns auch an unsere eigene und nicht immer leichte Aufgabe, mit einer Diplomatie im Kleinen, auch bei uns in Mülheim für den Frieden einzusetzen und mit den Worten der Dichterin Marie Ebner von Eschenbach zu verstehen: 'Frieden kannst du nur bekommen, wenn du ihn gibst."

Samstag, 31. August 2024

Warum immer wieder dienstags?

 In Deutschland wählen wir sonntags, an dem Tag, an dem Gott, der biblischen Überlieferung zufolge, an dem Gott sich von seinem Schöpfungswerk ausruhte und an dem auch wir eine schöpferische Pause einlegen dürfen, nicht nur um zu wählen. 

Übrigens. Merken Sie sich schon mal den Sonntag, 28. September 2025, vor. Dann steht die Bundestagswahl und damit voraussichtlich auch die Kommunalwahl in unserem Kalender. Nicht nur in Thüringen, Sachsen und Brandenburg wird, immer wieder sonntags, gewählt, sondern auch in den USA, aber nicht an einem Sonntag, sondern an einem Dienstag, dem ersten Dienstag im November.

Wenn es nach den Deutschen ginge, wäre die 60. Präsidentschaftswahl schon zugunsten der Demokratin Kamala Harris entschieden, die damit als erste Präsidentin der USA und als 47. Präsident der USA ins Weiße Haus einziehen könnte, nachdem die erste Präsidentschaftskandidatin der US-Geschichte 2016 gegen den späteren US-Präsidenten Trump verloren hatte

Der jüngste Deutschlandtrend der ARD zeigt: 77% der Befragten würden das demokratische Ticket Harris/Walzt wählen und nur 10% das republikanische Ticket Trump/Vance 

Aber wir Deutschen dürfen in den USA natürlich nicht mitwählen, obwohl uns das Wahlergebnis in jedem Fall unmittelbar beeinflussen wird. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass sowohl Trump als auch Walz deutsche Vorfahren haben, die aus der Pflaz und aus Baden in die USA eingewandert sind.

Immerhin einem Viertel der Amerikaner geht es so, wie Trump und Walz. Sie haben deutsche Vorfahren.

Während die Wahl von Kamala Harris ein historisches Novum wäre. Sie ist nicht nur eine Frau, sondern hat auch indische und jamaikanische Wurzeln, würde für den erneuten Einzug des 2020 abgewählten Präsidenten Trump ins Weiße Haus gelten müssen: Alles schon mal da gewesen. Denn der Demokrat Grover Cleveland wurde 1884 zum 22. und 1892 zum 24. Präsident der USA gewählt. Der vormalige Bürgermeister von Buffalo und Gouverneur von New York war auch der erste Junggeselle, der ins Weiße Haus einzog und sich dort 1886 traute seine First Lady NN zu heiraten.

Wie Trump 2016, wurde auch Cleveland, der in den USA die progressive Einkommenssteuer einführte, an einem ersten Dienstag im November in sein Amt gewählt. Warum nicht an einem Sonntag?

Die Kongressabgeordneten und US-Senatoren entschieden sich 1845 für eine Dienstagswahl, die sie 1872 und 1915 auch auf das Repräsentantenhaus und auf den Senat übertrugen, weil für sie der Sonntag als Tag des Herrn nicht für einen politischen Wahlakt eigne. Auch den Samstag und den Donnerstag schlossen sie als Markttag und als traditionellen Wahltag der ehemaligen britischen Koilonialtag kategorisch aus. Der Freitag galt ihnen als Vorbereitungstag für den Markttag am Samstag. Und der Montag wurde von ihnen als notwendiger Anreisetag der Wähler angesehen, so dass für sie nur der Dienstag als Wahltag in Frage kam.

Einen Anreisetag brauchten, die frühen Präsidentschaftswähler, weil sie nach der Einführung des allgemeinen und freien Männerwahlrechtes, im Jahre 1830, nur in den Bezirkshauptstädten der USA wählen und deshalb zu Fuß oder per Kutsche anreisen mussten. Das galt auch für die von ihnen gewählten Wahlmänner, die im Wahlmännerkollegium als Repräsentanten der Bundesstaaten, die eigentliche Präsidentschaftswahl im Kongress zu Washington vollzogen.

Dieses für uns Europäer ungewöhnliche indirekte Mehrheitswahlrecht kann im Extremfall dazu führen, zuletzt bei der Präsidentschaftswahl 2016, dass auch ein Kandidat zum Präsidenten gewählt wird, der in der Urwahl weniger Stimmen als sein Kontrahent, aber die Mehrheit im Wahlmännerkollegium gewonnen hat. Denn bei den US-Präsidentschaftswahlen, an denen seit 1865 auch schwarze Männer und seit 1920 auch Frauen teilnehmen können, gilt in allen Bundesstaaten: "The Winner takes it all!" ("Der Sieger bekommt alles!") Wer in einem Bundesstaat im Zweifel auch nur eine knappe Mehrheit der Stimmen gewinnt, bekommt alle Wahlmännerstimmen des jeweiligen Bundesstaaten.

Wahlentscheidend ist dabei der Ausgang in den sogenannten Swing States, die mal mehrheitlich für einen demokratischen oder für einen republikanischen Kandidaten stimmen. Als Swing States gelten zurzeit: Michigan, Ohio, Florida, Pennsylvania, South und North Carolina, Minnesota, Wissconssin, Arizona, Georgia, Nevada und New Mexico. Diese Wechselwählerstaaten stellen aktuell, gemessen an ihrer Bevölkerung, 130 der aktuell 538 Wählmänner und Wahlfrauen.

Sollte tatsächlich mit der ersten Vizepräsidentin der USA, Kamala Harris, am 20. Januar 2025 erstmals eine US-Präsidentin ins Weiße Haus einziehen, würde ihr Ehemann, der Rechtsanwalt, Douglas Emhoff, der erste First Gentleman der USA. Und des würde sich die Prognose des republikanischen US-Präsidenten Gerald Ford bewahrheiten. Er hatte während seiner Amtszeit (1974-1977) die entsprechende Frage einer Schülerin dahingehend beantwortete, dass die erste Frau, die als US-Präsidentin ins Weiße Haus einziehen werde, eine ehemalige Vizepräsidentin sein werde, deren Präsident gestorben oder aus gesundheitlichen Gründen auf eine Wiederwahl verzichtet habe.



Freitag, 30. August 2024

Kommunalpolitik trifft Kunst

 Auch während der Sommerferien haben sich Ratsfraktionen auf ihren Mülheim-Touren ein Bild von unserer Stadt gemacht, so auch die CDU-Fraktion die ich begleiten durfte.


Wohltemperiert ging es an einem heißen Sommertag zum Beispiel in das nach sechs Jahren Umbau im Mai 2024 wiedereröffnete Kunstmuseum Alte Post. Dessen Direktorin Dr. Stefanie Kreuzer stellte das breite Angebot des städtischen Kunstmuseums vor, das 1200 Exponate in seinen Ausstellungsräumen und Magazinen hütet und ausstellt. Zu diesen Exponaten gehören auch 35 von Mülheimer Künstlern geschaffene Werke.

Starke Stifter für die Kunst


Beim Rundgang stellte sie nicht nur Werke der klassischen Moderne aus der Sammlung Ziegler, sondern auch Zille-Zeichnungen aus der Sammlung Themel und die jüngste Neuanschaffung des Förderkreises Kunstmuseum Alte Post vor. Dabei handelte es sich um ein 2023 entstandenes Werk der Malerin, Shannon Bool, mit dem sie, unter dem Titel "33 Säulen", die Architektur Mies van der Rohes aus weiblicher Sicht ins Bild setzt und kommentiert.

Angesichts der unter anderem mit Joseph-Beuys-Werken bestückten Ausstellung "Demokratie ist lustig", diskutierten Gastgeberin und Gäste darüber, was Kunst gesellschaftlich bewirken kann und wie politisch sie sein kann und sein muss. Auch der Blick auf das beeindruckende Triptychon "Die geistige Emigration" zeigte die politische Dimension der Kunst am Beispiel der nationalsozialistischen Judenverfolgung, die nicht nur jüdische Intellektuelle, wie sie der aus Mülheim stammende jüdische Maler Arthur Kaufmann auf seinem Triptychon zwischen 1939 und 1964 portraitiert hat, zur Flucht aus ihrer Heimat zwang.

Dialog mit Zille


Mit Blick auf die themen- und zielgruppenorientierten Ausstellungen, Führungen, Workshops, Lesungen und Diskussionsveranstaltungen des städtischen Kunstmuseums, brachte die Kunsthistorikerin Stefanie Kreuzer ihre Überzeugung zum Ausdruck, dass Kunst gemeinschafts- sinn- und identitätsstiftend wirken könne. In diesem Sinne will sie auch Künstler von heute dazu einladen, Arbeiten zu schaffen, die einen inhaltlichen Dialog mit den sozialkritischen und zeitlos aktuellen Milieustudien Heinrich Zilles aufnehmen sollen.

Samstag, 17. August 2024

Erste Wahl

 Vor 75 Jahren sind 102.000 Mülheimerinnen und Mülheimer zur Wahl des ersten Deutschen Bundestages aufgerufen. Sechs Kandidaten stehen auf ihrem Wahlzettel, sechs Männer, keine Frau. Am Ende des ersten Bundestagswahltages haben 77 Prozent der Wahlberechtigten von ihrem Wahlrecht Gebrauch gemacht.

Und sie haben gegen den Bundestrend gewählt. Denn in Mülheim liegt die CDU Konrad Adenauers nicht knapp vor der SPD, sondern genau umgekehrt. Mit 34,9 Prozent der Stimmen wird der Sozialdemokrat Otto Striebeck. Der Christdemokrat Heinz Langner landet mit 28,2 Prozent der Stimmen auf Platz 2, gefolgt vom Liberalen Wilhelm Dörnhaus, für den sich 13,1 Prozent der Wahlberechtigten entscheiden. Aber auch der Kommunist Friedrich Müllerstein, dessen Partei 1956 vom Bundesverfassungsgericht vcrboten wird, kann bei der ersten Bundestagswahl noch 10,1 Prozent der Stimmen erreichen. Und 7,1 Prozent der Wählerinnen und Wähler entscheiden sich für den Bewerber der Deutschen Konservativen Partei, Wolfgang Kujath.

Anders, als heute, wählen die Menschen in Mülheim nur ein westdeutsches Teilparlament. Eine Zweitstimme ist damals ebenso noch Zukunftsmusik, wie die Möglichkeit der Briefwahl. Nicht nur die KPD, sondern auch das katholische Zeentrum und die Radikalsoziale Freiheitsunion, die bei der ersten Bundestagswahl noch auf dem Wahlzettel stehen und einige 1000 Stimmen auf sich vereinigen können, werden schon in wenigen Jahren aus dem politischen Spektrum der Bonner Republik verschwinden. Am Ende bleibt ein Dreiüarteiensystem aus Christ- Sozial- und Freidemokraten für Jahrzehnte politisch bestimmend, ehe ab 1980 die Grünen auf den Plan treten.

Westbindung contra Deutsche Einheit und Marktwirtschaft contra Sozilaisierung und Planwirtschaft. Das sind die für den ersten Bundestagswahlkampf bestimmenden Themen und Konfliktlinien.

Nach der Wahl vom 14. August zieht der Mülheimer Otto Striebeck (1894-1972) als einer von 402 Abgeordneten in den ersten Deutschen Bundestag ein. Der Bergmann, der sich zum Redakteur weitergebildet hat, sitzt für die SPD im Stadtrat und leitet bis zu seinem Einzug ins Parlament die Lokalredaktion der 1946 von seinem Parteifreund Dietrich Oppenberg gegründete Neuen Ruhr Zeitung. Striebeck, der unter den Nationalsozialisten im Gefängnis gesessen hat, wird dem Deutschen Bundestag, mit kurzen Unterbrechungen, bis 1965 angehören.


Mülheimer Geschichtsverein

Freitag, 16. August 2024

Denk ich an Kortum

Denk ich an Kortum, denke ich an den Jobs. Der Jobs, der uns seit 2006 wieder vom Kortumbrunnen an der Petrikirche grüßt, ist als literarischer Antiheld des 1745 in Mülheim geborenen und 1824 in Bochum gestorbenen Dichters und Arztes Karl Arnold Kortum zeitlos aktuell. Er steht als Sinnbild für Schein und Sein, für Anspruch und Wirklichkeit, für all das, was uns als unzulängliche Menschen manchmal tragisch und komisch werden lässt.

Kortum hat sein 1783 verfasstes Knittelgedicht über die Taten und Meinungen das Kandidaten Jobs als ein grotesk komisches Heldengedicht bezeichnet, dass er zum reinen Zeitvertreib für sich und seine Leser geschrieben habe. Tiefstapelei! Denn sein tragikomisches Sittengeschichte rund um den trinkfesten und arbeitsscheuen Theologiestudenten, der am Ende nicht Pfarrer, sondern Nachtwächter wird, hat nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen europäischen Ländern und in der Nordamerika ein vergnügtes Lesepublikum gefunden. Die Jobsiade, die 1872 auch von Wilhelm Busch nachgeahmt wurde, weist den Arzt, Dichter und Gelehrten Kortum als ein Kind der Aufklärung aus. 

Mit seinem seinem lehrreichen Humor versuchte er, frei nach Kant, einen Beitrag zur Ermutigung seiner Mitmenschen zu leisten, sich ihres eigenen Verstandes zu bedienen und damit jede Scheinheiligkeit und jede Doppelmoral ihrer Mitmenschen entlarven zu können. Doch weil der Mülheimer Apothekerssohn Kortum auch ein Zeitgenosse der Restauration war, erschien seine satirische Jobsiate zeitlebens nur unter seinem Kürzel D.C.A.K. Erst ab 1854 erschien die Geschichte des Hieronymus Jobs unter seinem Namen. 

Carl Arnold Kortum Sohn des Apothekers Christian Friedrich Kortum und seiner Frau Helena Künzel war selbst ein erfolgreicher Akademiker. Nach dem Abitur in Dortmund und dem medizinischen Examen in Duisburg praktizierte er bis 1770 in seinem Elternhaus an der Kettwiger Straße, ehe er seiner Frau Margarete nach Bochum folgte. Hier war er auch als Bergarzt Teil des gesellschaftlichen Establishments. Das zeigte sich 1816 an der Verleihung der Ehrendoktorwürde der Universität Duisburg und am königlichen Ehrentitel eines Hofrates. Als solcher fand Kortum nach seinem Tod am 15 August 1824 auf dem Bochumer Friedhof an der Wittener Straße seine letzte Ruhe. Sein Grab ist dort als Teil des Kortumparks bis heute erhalten.

Wer Kortums Jobsiade und seine Biografie noch einmal nachlesen möchte, dem sei die 2007 von den Altstadtfreunden herausgegebene, von Heinz Hohensee eingeleitete und von Klaus Wichmann illustrierte Neuauflage aus dem Essener Klartextverlag zur Lektüre empfohlen. 

Freitag, 9. August 2024

Ins Werk gesetzt

Helmut Schauenburg arbeitet an der Restauration eines alten Hallenfensters. Schon vor 70 Jahren hat er hier in der Alten Dreherei des Eisenbahnausbesserungswerkes Speldorf gearbeitet. Damals war er 14 und hatte gerade mit seiner Schlosserlehre begonnen. "Mir hat die Arbeit Freude gemacht und ich bin immer gut zurecht gekommen", sagt Schauenburg.

Er ist kein Mann der großen Worte. Er ist ein Mann der Tat. Auch mit 84 kommt er, immer wieder dienstags, mit seinem Rollator in die Alte Werkshalle, die als Alte Dreherei inzwischen mehreren Vereinen als Quartier dient.

"Wir werden immer wieder gefragt, was war hier früher. Und deshalb habe ich es aufgeschrieben", erklärt der Vorsitzende des Trägervereins der Alten Dreherei, Martin Menke. "150 Jahre Eisenbahnausbesserungswerk Speldorf" lautet der Titel seines 150 Seiten starken Fakten- und Bild-reichen Buches, das jetzt bei Suton erschienen und für 29,99 € im Buchhandel erhältlich ist. 150 Jahre Eisenbahn Ausbesserungswerk Speldorf. Dieser Titel macht für Menke Sinn, obwohl das Eisenbahnausbesserungswerk Speldorf 1959 stillgelegt wurde. "Hier haben damals mehr 2000 Menschen gearbeitet. Das Werk war bis zum Schluss hoch rentabel.  Es wurde aber der Zonenrandförderung und dem Erhalt des Eisenbahnausbesserungswerkes Braunschweig geopfert, weil man damals der Meinung war, dass es im Ruhrgebiet genug andere Arbeitsplätze gäbe. Tatsächlich haben nach der Schließung alle Mitarbeiter des Eisenbahnausbesserungswerkes einen anderen Job in der Industrie gefunden", weiß Autor Menke aus seinem Recherchen zu berichten.

Heute legen Menke und seine Mitstreiter ehrenamtlich Hand an, um die Alte Dreherei als Veranstaltungs- und Werkraum in neuem Glanz erstrahlen zu lassen. Die Hühner- und Kaninchenzüchter sind hier heute ebenso zu Hause, wie die Eisenbahnfreunde und die Opel-Kadett-Fans. Ein Opel Kadett, mit dem die Speldorfer Schokoladenfabrik Wissoll 1950 ihre süße Fracht auslieferte, zeigt hier ebenso die Richtung an, in die es geht, wie ein Straßenbahnwagen aus dem Baujahr 1927. Hier hat man offensichtlich keine Angst vor Handwerklicher Arbeit und krempelt, immer wieder dienstags und samstags, gemeinsam die Ärmel hoch.

"Solche und ähnliche Gebäude aus unserer Industriegeschichte sollte man schon deshalb erhalten, weil hier Gemeinschaft entsteht, die es so in Hochhäusern nicht geben kann", findet Helmut Schauenburg.

Mittwoch, 7. August 2024

Ein echter Kumpel

Gefühlt ist er Mülheims letzter Bergmann. Jetzt hat Willi Bruckhoff seinen 90 Geburtstag gefeiert. Seine Nachbarn nennen ihn den Bürgermeister von Winkhausen. Nicht nur an sich, sondern auch an seine Nachbarn und Kollegen zu denken, das ist die charakterliche DNA des ehemaligen Bergmanns.

Wie sein Vater und Großvater war auch Willi Bruckhoff ein engagierter Gewerkschafter und Sozialdemokrat. "Wenn ich nicht sofort in die Industriegewerkschaft Bergbau eingetreten wäre hätte, ich gar nicht nach Hause kommen dürfen", erinnert sich der 90-Jährige an seinen ersten Arbeitstag auf der Heißener Zeche Rosenblumendelle. Das war im Frühjahr 1948. Damals hatte Willi Bruckhoff gerade die Volksschule abgeschlossen und war 13 Jahre alt. 

Seinen ersten Lohn bekam der Berglehrling noch in Richsmark ausgezahlt. "Außerdem bekamen wir als Schwerstarbeiter auch eine Sonderration an Butterbroten und Bonbons", erzählt Bruckhoff. Als Gewerkschafter, über mehr als 30 Jahre stand er der Mülheimer Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie und Energie vor, hat er mit und für seine Kollegen nicht nur Lohnerhöhungen, sondern auch mehr Arbeitssicherheit, mehr betriebliche Mitbestimmung und eine Verringerung der Wochenarbeitszeit, die anfangs bei 48 Stunden lag, erkämpfen können. Und darauf ist er auch heute noch stolz. Bei der Arbeit und im Arbeitskampf galt für ihn stets die Devise: "Einer für alle und alle für einen!"

Nicht nur auf Rosenblumendelle, sondern auch auf Kronprinz und Hagenbeck war Bruckhoff als Bergmann eingesetzt. "Die steilen Kohlenlagen und niedrigen Flöze auf Rosenblumendelle waren für uns Bergleute besonders schwierig", erinnert er sich an die letzte Zeche Mülheims, die nach der letzten Schicht am 29 Juli 1966 stillgelegt wurde und Mülheim damit zur ersten bergbaufreien Stadt des Ruhrgebietes machte. 

Für Bruckhoff ging sein Berufsleben noch bis 1984 weiter, ehe er nach der Stilllegung der Essener Zeche Zollverein, die heute als Designer- und Kulturzentrum genutzt wird, in den Vorruhestand geschickt wurde. 

Nicht nur als Gewerkschafter, sondern auch als Bezirksvertreter hat sich der Kumpel aus Winkhausen für seine Nachbarn und Kollegen stark gemacht. Ein Kumpel zu sein, das war, ist und bleibt sein Lebensprogramm, auch in einer zunehmend von Individualisierung und Egoismus geprägten Gesellschaft.

Besonders bedauert der ehemalige Bergmann, dass die Zahl der Gaststätten in den letzten 40 Jahren rapide zurückgegangen ist und damit auch die Zahl der Orte an denen Menschen zwanglos zusammenkommen und Geselligkeit erleben können, um sich auszutauschen. Dass diese Form von Gemeinschaft und Kommunikation heute an vielen Ecken und Enden fehlt, macht er mitverantwortlich für so manche sozialen Fehlentwicklungen. 

Schöne Straße?!

  Für die Mülheimer Presse und das neue Mülheimer Jahrbuch habe ich mich an 50 Jahre Schloßstraße erinnert. So alt bin ich also schon, dass ...