Donnerstag, 25. April 2024

Junge Schule

 Schülerinnen und Schüler machen Schule. Das nahm die Schülervertretung an der Willy-Brandt-Schule in Styrum an einem von ihr organisierten Projekttag zum Thema Diskriminierung, sexualisierte Gewalt und Stress beim Wort.

Nachdem sie sich selbst mit einer Schulung darauf vorbereitet hatten, boten die Mitglieder der Schülervertretung ihren Mitschülern Workshops zu den genannten Themen an und präsentierten deren Ergebnisse am Abend des Projekttages der über die Schulgemeinde hinausgehenden interessierten Öffentlichkeit im Rahmen eines Marktes der Möglichkeiten.

"Was ihr heute hier gemeinsam erarbeitet habt zeigt uns, dass Rassismus und Diskriminierung an unseren Schulen keinen Platz habt. Deshalb: Macht weiter so!" lobte Bildungsdezernent David Lüngen das Enagagement der Schülerinnen und Lehrer, das durch die Assistenz der Lehrkräfte und externer Fachleute der Mülheimer Stadtverwaltung und der Mülheimer Sozialverbände unterstützt worden war.

Im Mittelpunkt der abschließenden Präsentation standen ein Schüler-Theaterstück, dass Mülheimer Opfer des Holocaust in Erinnerung rief und das Einreißen einer aus Pappkartons gebauten Mauer, hinter der eine vom Essener Bildhauer Roger Löcherbach geschaffene Holzskulptur Willy Brandt freigab. Zweifellos wäre Willy Brandt stolz auf das Engagement der Jugendlichen an der 1986 gegründeten und seit 1992 nach ihm benannten Schule gewesen. 

„Wir haben uns besser kennengelernt und Mauern in unseren Köpfen abgebaut und wir haben gezeigt, dass Diskriminierung, Rassismus und sexualisierte Gewalt viele Gesichter haben können“, bilanzierte Schülersprecherin Farida Kepekpassi.

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Samstag, 20. April 2024

Wo die Kumpel zuhause waren

 Der Mülheimer Bergbau ist Geschichte. 1966 machte mit Rosen Blumen gelle die letzte Zeche dicht Punkt Mülheim war damals die erste Bergbau freie Stadt des Ruhrgebietes. In einer Zeit als noch rund 3000 Bergleute auf den Mülheimer Zechen Humboldt, Wiesche, Sellerbeck und Rosenblumendelle arbeiteten, begann der Mülheimer Bergwerksverein 1899 mit dem Bau der Colonie Wiesche. Der Name war Programm. In der Siedlung, die bis 1911 fertiggestellt wurde, fanden die Bergleute der Zeche Wiesche und ihre Familien ein preiswertes zu Hause inklusive Garten, Hof und Schweinestall. Doch das hatte seinen Preis.

Zwei Seiten der selben Medaille 

Wer politisch aufmüpfig wurde, streikte oder überzogene Lohnforderungen stellte, riskierte mit seinem Arbeitsplatz auf der Zeche Wiesche auch seinen Wohnraum in der Colonie. Denn der Arbeits- und der Mietvertrag waren zwei Seiten derselben Medaille. "Der Bergmann muss sich auch zu Hause wohlfühlen, damit er seine Arbeit gut und gerne tut", begründete der Industrielle Hugo Stinnes den Bau der Colonie Wiesche, die heute aus 106 Doppelhäusern besteht. Heute leben nur noch wenige ehemalige Bergleute in der Siedlung Mausegatt und Kreftenscheer: Die Straßennamen gehen auf ehemalige Kohlenflöze der Mülheimer Zechen zurück.

Erinnerung an den Bergbau

Loren und eine 2006 vom Mülheimer Bildhauer Jochen Leyendecker geschaffene Bergmannsskulptur weisen am Siedlungseingang auf die Geschichte der ehemaligen Bergmannssiedlung an der Schnittstelle zwischen Heißen und Holthausen hin. Die meisten Menschen, die heute in den Häusern an der Mausegattstraße und an der Kreftenscheerstraße zu Hause sind, sind die Erben ehemaliger Bergmannsfamilien oder sie haben sich als Zugezogene ein ehemaliges Zechenwerkshaus von ehemaligen Bergmannsfamilien gekauft. So sieht der Strukturwandel aus.

Wirtschaftlicher Strukturwandel

Nachdem mit Rosenblumendelle 1966 die letzte Zeche Mülheims stillgelegt worden war, verkaufte Stinnes auch seine Bergmannssiedlung. Eine Bürgerinitiative, aus der die heutige Siedlergemeinschaft hervorgegangen ist, sorgte 1977/78 dafür, dass die damaligen Bewohner zwischen einem Vorkaufsrecht zum Vorzugspreis oder einem lebenslangen Mietrecht wählen konnten. Die meisten der Bewohner entschieden sich für den Kauf ihres Häuschens, auch wenn das viel Arbeit und Geld für die Modernisierung des nicht mehr zeitgemäßen Whnraums in der alten Zechensiedlung bedeutete.

Vom Plumpsklo zum Badezimmer

Erst Mitte der 1950er Jahre wurde die Mausegattstraße asphaltiert. Erst Anfang der 1960er Jahre bekamen die Menschen in der Siedlung ein eigenes Bad. Bis dahin waren das Duschen auf der Zeche und das samstägliche Zinkwannenbad in der Küche, nebst Plumpsklo für die Bergmannsfamilien, die sich selbstironisch auch als Püttologen bezeichneten, Standard. Das Badewasser wurde samstags auf dem Herd heiß gemacht. Die Sickergrube des Plumpsklos wurde regelmäßig von der Zeche ausgepumpt.

Bis Mitte der 1980er Jahre, als die Siedlung unter Denkmalschutz gestellt wurde, wurde in allen Häusern noch mit Kohle geheizt. Das sogenannte Bergmannsdeputat (125 Zentner Kohle pro Jahr) machte es möglich. Dabei arbeiteten viele ehemalige Mülheimer Bergleute damals schon bei den Mannesmannröhrenwerken, die ab 1970 durch das deutsch-sowjetische Erdgasröhrengeschäft eine Hochkonjunktur mit rund 15.000 Arbeitsplätzen erlebte.

Erstaunlich progressiv

Hugo Stinnes und August Thyssen, die Mülheimer Industriellen, die 1898 zusammen mit dem Bankier Leo Hanau den Mülheimer Bergwerksverein gegründet hatten und in seinem Auftrag die heutige Mausersiedlung errichten ließen, waren bekanntermaßen Gewerkschaftsfresser, auch wenn Hugo Stinnes 1918 mit dem Gewerkschaftsführer Carl Legien für die deutschen Arbeitgeber ein Abkommen aushandelte, das die Gewerkschaften als Tarifpartner und als Vertretung der Arbeiter anerkannte und der Einführung des Achtstundentages zustimmte, um damit im Gegenzug die Sozialisierung der deutschen Wirtschaft und damit die Enteignung der deutschen Unternehmer zu verhindern. Aber ihre Idee, als Arbeitgeber für ihre Arbeiter preiswerten Wohnraum zu schaffen, der sie ihren Arbeitsplatz fußläufig erreichen ließ, wirkt heute geradezu progressiv. Angesichts hoher Mieten und Lebenshaltungskosten würde man sich manchmal jene Unternehmer zurückwünschen, die es als ihre Pflicht ansahen, ihren Arbeitern, natürlich aus auch im eigenen Interesse, ein Dach über den Kopf zu verschaffen. Heute wissen wir, dass preiswerter Wohnraum, verbunden mit einem guten sozialen Umfeld, wie es die heutige Mauseganttsiedlung bietet, einen sozialen und wirtschaftlichen Standortvorteil darstellt, wenn es darum geht, in einer demografisch gewandelten Gesellschaft darum geht, Arbeitskräfte zu gewinnen und zu behalten.
 gewinnen und zu behalten.

Donnerstag, 18. April 2024

Planet Ozean

 1929 als Gasbehälter errichtet, dient der 117 Meter hohe Gasometer in Oberhausen seit 30 Jahren als extravaganter Ausstellungsraum. Dieser Ausstellungsraum hat es in sich. "Schauen Sie immer auf den Boden. Denn wir haben hier mit den Widrigkeiten eines alten Industriebaus zu kämpfen", sag Gästeführerin Ramona Mohr mit Blick auf das tückische Bodenrelief, inklusive Stahlträgern, in einem dunklen Raum, in dem nur die Exponate von Scheinwerfern angestrahlt werden. 

Noch bis Ende des Jahres sind dort mehr als 200 großformatige Fotografien und Objekte aus der Meeresfauna und Meeresflora zu sehen, Wer mit Kulturmanagerin Ramona Mohr, die sich als nebenberufliche Gästeführerin das Wissen einer Meeresbiologin angeeignet hat und es anschaulich an die Teilnehmenden ihrer 90-minütigen Führungen weitergibt, muss ihr Recht geben, wenn sie mit Blick auf unseren blauen Planeten Erde sagt: "Angesichts der Tatsache, dass 70 Prozent der Erdoberfläche mit Wasser bedeckt ist, müsste die Erde eigentlich Planet Ozean heißen."

Diesen Titel haben die Ausstellungsmacher aus dem Gasometer denn auch ihrer aktuellen Schau gegeben, die faszinierende und zugleich auch erschreckende Einblicke in die fünf Weltmeere gibt, die zwischen 4000 und 11.000 Metern tief sind. Der tiefste Punkt des Planeten Ozean ist der Mariannengraben, benannt nach der spanischen Königin Anna Maria von Österreich. Der Imperialismus des 17. Jahrhunderts lässt grüßen.

Ein bezeichnendes Licht auf den Imperialismus heutiger Tage, der auf den Weltmeeren zum Beispiel in Form von Kreuzfahrtouristen, überbevölkerter und durch Bettenburgen flankierten Meeresstrände an der Costa Brava oder  in Person asiatischer Gourmets mit Vorleibe für Haifischflossensuppe für 80 Euro, pro Teller, daher kommt.

Wer zum Beispiel das Kreuzfahrtschiff sieht, dass durch die Lagune fährt und dabei den venezianischen Dogenpalast um das Doppelte überragt, braucht kein Statiker zu sein, um zu begreifen, dass der so erzeugte Wellengang die ohnehin maroden und aus dem 13. und 16. Jahrhundert stammenden Fundamenten Venedigs zusetzt und dessen ohnehin bis 2100  befürchteten Untergang beschleunigt. 

Nach mir die Sintflut. Das scheinen auch jene Zeitgenossen zu denken, die sich sündhaft teure und buchstäblich auch sündhaft hergestellte Haifischflossensuppe schmecken lassen. Wenn Ramona Mohr berichtet, dass die im Meer gefangenen Haie an Bord der Fangschiffe brutal um ihre Flossen gebracht und anschließend schwer verwundet und manövrierunfähig ins Meer zurückgeworfen werden, wo sie dann auf den Meeresboden absinken und dort langsam und qualvoll ersticken, raubt das auch dem profanen Fischstäbchenesser den Atem.

Zum Gasometer

Montag, 15. April 2024

Heiße Nächte

 "Heiße Nächte"! So heißt die neueste Komödie aus der Feder von Martina Rudziok, die am 13 April im Zimmertheater des Arteliers Rudziok am Heelweg 10 in Winkhausen Premiere hatte. Wer diesen Abend mit den Schauspielerinnen Andrea Hagemeier-Gilga (als Brunnhilde), Ines Klappers (als ihre Nichte Jennifer) und Martina Rudziok (als Brunhildes beste Freundin Karla) erleben durfte, kann die von ihrem Wortwitz und ihrer temporeichen Situationskomik lebende Komödie dem geneigten Publikum nur wärmstens empfehlen.

In den "Heißen Nächten" geht es um Wunsch und Wirklichkeit dreier Frauen, von denen zwei als Mittfünfzigerinnen mit den Risiken und Nebenwirkungen der Wechseljahre zu kämpfen haben. Während sie die Hitze der Nacht in ihrem Liebesleben schmerzlich vermissen müssen, machen ihnen ihre Hitzewellen und ihre Schlaflosigkeit das Alltagsleben schwer. Als Dritte im Frauenbunde versucht die Nichte ihre Tante und deren beste Freundin auf Trab zu bringen und das Beste aus ihrem fortgeschrittenen Leben zu machen. Es mangelt ihr nicht an guten und wohlfeilen Ratschlägen, die manchmal auch als Schläge und manchmal auch als Bumerang daher und zurückkommen.
Denn auch als Frau, die noch weit von den Wechseljahren entfernt ist, erlebt man in Liebesdingen und anderen Lebenslagen nicht nur angenehme Überraschungen. Das ist vor allem dann der Fall, wenn es um die Risiken und Nebenwirkungen des anderen Geschlechts geht.

Kurzweilige Unterhaltung

90 Theaterminuten vergehen im kleinen und feinen Zimmertheater, in dem 25 Zuschauerinnen und Zuschauer Platz finden, vergehen angesichts der weiblichen Spitzfindigkeiten und Raffinessen wie im Flug. Sie trainieren die Lachmuskeln und sorgen damit beim geschätzten Publikum für die Erhöhung der sozialen Resilienz im Sinne der Erkenntnis, die der Schriftsteller und Satiriker Joachim Ringelnatz einst so formuliert hat: "Humor ist der Knopf, der verhindert, dass uns der Kragen platzt." Insofern erkennen auch die Protagonistinnen der jüngsten Rudziok-Komödie, dass das Leben eine Baustelle ist und bleibt. Egal, wie schön man es sich redet, so muss man auf der Baustelle des Lebens immer wieder erkennen, dass der Mensch, ob weiblichen oder männlichen Geschlechts, alles andere als perfekt ist. Und so zeigen und die drei großartigen Darstellerinnen auf der keinen Bühne des Zimmertheaters am Heelweg, mit ihren urkomischen Schlagfertigkeiten, dass die größte Lebenskunst darin besteht, in jeder Lebenslage und in jedem Lebensalter, aus dem allzu menschlich imperfekten hier und jetzt das Beste zu machen. Nicht von ungefähr war es ein Komödienregisseur, Billy Wilder, der aus seinen fröhlichen Lebensweisheiten, zu denen auch die Erkenntnis gehört: "Altern ist nichts für Feiglinge", unsterblich schöne Filmkomödien, wie: "Manche mögen's heiß auf die Kinoleinwand und in die Herzen seiner Zuschauerinnen und Zuschauer zauberte. Hätte Wilder die Premiere von "Heiße Nächte" im Artelier Rudziok noch miterleben können, hätte er sich sicher die Filmrechte der Komödie gesichert.

Gut zu wissen

Die Komödie "Heiße Nächte" ist am im Atelier Rudiok an der Hellweg 10 in Mülheim-Winkhausen noch einmal an folgenden Terminen zu sehen.

- Freitag, 26.04.24, um 19:30 Uhr
- Sonntag, 26.05.24, um 15:00 Uhr
- Freitag, 07.06.24, um 19:30 Uhr

Der Eintritt ins Theatervergnügen kostet 14 €. Aufgrund des begrenzten Platzangebotes ist eine telefonische Anmeldung bzw. Reservierung unter der Rufnummer 0208 444 209 48 oder online unter: www.artelier-rudziok.de erforderlich.

Zum Artelier Rudziok



Donnerstag, 11. April 2024

Das walte Hugo

 Vor 100 Jahren starb der Mülheimer Industrielle Hugo Stinnes. Dass er am 10. April 1924 an den Folgen einer misslungenen Gallenblasenoperation im Alter von 54 Jahren sterben musste, zeigt Reichtum schützt vor Unglück nicht.

Reich wie Stinnes

"Reich, wie Stinnes!" oder: "Das walte Hugo!", waren auf dem Höhepunkt seines unternehmerischen Schaffens in Deutschland ein geflügeltes Wort. Seine Zeitgenossen sahen den 1870 in Mülheim geborenen Hugo Stinnes als "den König an der Ruhr" und sagten ihm nach: "Er kauft Unternehmen, wie andere Leute Briefmarken." Tatsächlich war Stinnes ein geschickter Sanierer, der auch marode Unternehmen wieder auf Gewinnkurs bringen und so einen vertikal und international organisierten Mischkonzern mit mehr als 4500 Unternehmen und rund 3000 Betriebsstätten aufbauen konnte.

In seinem Todesjahr beschäftigte Hugo Stinnes, der sich selbst als "Kaufmann aus Mülheim" bezeichnete, 600.000 Menschen. Doch auf seinem Sterbebett warnte er seine Erben: "Meine Kredite sind Eure Schulden!" Doch sein namensgleicher Sohn und Nachfolger an der Spitze des Stinnes-Konzern schlug die Mahnung des Vaters in den Wind, sich auf das Kerngeschäft, den Kohlenhandel und die Kohlenförderung zu beschränken und alle anderen Unternehmen des Konzerns zu verkaufen. 

Schon im Jahr nach dem Tod von Hugo Stinnes geriet sein Konzern in finanzielle Schieflage und unter die Kontrolle amerikanischer Geldgeber.

In den Fußstapfen seines Großvaters

Zufall der Geschichte. Hugo Stinnes wurde genauso alt, wie sein Großvater Mathias Stinnes, der 1845, ebenfalls mit nur 54 Jahren gestorben war. Ebenso wie sein Großvater, der sein Geld als Kohlenhändler, Zechenbesitzer und Reeder verdient hatte, gehörte sein Enkel dem Mülheimer Stadtrat an und war mit seinem Mülheimer Industriellen Kollegen August Thyssen der größte Steuerzahler der Stadt.

Mit August Thyssen und dem Mülheimer Bankier Leo Hanau gründete Stinnes 1897 den Mülheimer Bergwerksverein und ließ ab 1899 die Colonie Wiesche errichten, in der die Bergleute der gleichnamigen Heißener Zeche und deren Familien ein Zuhause fanden. "Der Arbeiter muss sich auch zuhause wohlfühlen, damit er seine Arbeit gut und gerne tut", wusste Hugo Stinnes. Und er wusste auch, dass Werkswohnungen mit Gärten, Ställen und Höfen ein probates Mittel waren, um Arbeiter an ihren Arbeitgeber zu binden und sie von überzogenen Lohnforderungen, Streiks und gewerkschaftlichem Engagement abzuhalten.

Der Pragmatiker und Pionier

Stinnes kannte den Arbeitsalltag der Bergleute. Im Rahmen seiner kaufmännischen und bergbautechnischen Ausbildung war er 1890 selbst als Bergmann auf Wiesche eingefahren. Von ihm ist auch die Selbsterkenntnis überliefert: "Wäre ich als Arbeiterkind geboren, wäre ich wahrscheinlich ein Arbeiterführer geworden." Zu dieser Erkenntnis gehörte auch sein Engagement als Stipendiengeber für begabte, aber materiell minderbemittelte junge Menschen.

Doch Hugo Stinnes war Spross einer Unternehmerfamilie und hatte die Ambition, als Unternehmer Großes zu leisten. Dabei war Pragmatismus sein prägender Wesenszug. Seine Ausbildung und sein Studium in Mainz und Berlin brach er ab, als er den Eindruck gewonnen hatte, alles gelernt zu haben, was er als Unternehmer wissen müsse.

In atemberaubender Dynamik wuchs sein 1892 mit einem Mitarbeiter gegründetes Unternehmen zu einem branchenübergreifenden und internationalen Konzern heran. Mit August Thyssen war er 1898  maßgeblich an der Gründung des bis heute bestehenden und für seine Anteilseigner gewinnbringenden Rheinisch-Westfälischen Elektrizitätswerk beteiligt.

Auch politisch war Stinnes, der von 1918 bis 1924 dem Deutschen Reichstag angehörte, ein Pragmatiker. Als Nationalliberaler lehnte er bis zum Ende des Deutschen Kaiserreiches die Gewerkschaften ab, weil er sich von ihnen in seiner unternehmerischen Handlungsfreiheit beschnitten sah. Doch unter dem Eindruck der Novemberrevolution von 1918 schloss er sich der von Gustav Stresemann gegründeten national- und wirtschaftsliberalen Deutschen Volkspartei an und wurde zum Verhandlungsführer der deutschen Arbeitgeber, um mit den Gewerkschaften einen historischen Kompromiss auszuhandeln.

Während die von Carl Legien angeführten Gewerkschaften auf die Sozialisierung der Wirtschaft und damit auf die Enteignung der Unternehmer verzichteten, erkannten Stinnes und seine Arbeitgeberkollegen die Gewerkschaften als Tarifpartner und damit als legitime Vertretung der Arbeitnehmer an. Hinzu kam die von den Gewerkschaften schon lange geforderte Einführung des Achtstundentages.

Umstrittener Unternehmer und Politiker

In seiner letzten Lebensphase war Hugo Stinnes, der sich auch in die Reparationsverhandlungen mit den alliierten Siegermächten des Ersten Weltkrieges einschaltete, politisch umstritten.

In der Kritik stand Stinnes als "Inflationskönig", der seinen kreditabhängigen Konzern im Hyperinflationsjahr 1923 konsolidieren konnte. Kritisiert wurde aber auch seine politische Nähe zu den Putschisten Wolfgang Kapp, dem er auf seinem schwedischen Landgut Asyl gewährte und mit dem Weltkriegsgeneral Erich Ludendorff, dessen gemeinsamer Putschversuch mit Adolf Hitler im November 1923 gescheitert war. Stinnes liebäugelte mit einer Diktatur auf Zeit, weil die politischen Mühlen der Republik für ihn zu langsam mahlten. Adolf Hitler, den er 1923 traf, lehnte Stinnes aber als gefährlichen politischen Fantasten ab.

Auch wenn 100 Jahre nach dem Tod von Hugo Stinnes sein einstiger Weltkonzern Wirtschaftsgeschichte ist, wirken die aus der Familie Stinnes hervorgegangenen Stiftungen als Geldgeber für soziale und kulturelle Zwecke bis heute in unserer Stadtgesellschaft segensreich. Mehr über Hugo Stinnes


Zum Autor & Zur Cläre- und Hugo-Stinnes-Stiftung & Zur Leonhard-Stinnes-Stiftung

Freitag, 5. April 2024

Schon einmal wieder aufgemacht

 Als Ruhrbastion wurde er am 8. Juli 1927 eröffnet. Doch der Volksmund taufte ihn schon bald in "Wasserbahnhof" um. Errichtet auf einem ehemaligen Werft- und Schlachthofgelände wurde er als Start- und Zielpunkt der Weißen Flotte zu einem Mülheimer Wahrzeichen.

Als der Urlaub noch vor der Haustür stattfand, ließen sich Ende der 1920er Jahre bis zu 500.000 Fahrgäste von den damals acht Schiffen der Weißen Flotte von deren Kapitänen mit auf die Reise nach Kettwig oder Duisburg nehmen.

Doch die Weltwirtschaftskrise und der Zweite Weltkrieg unterbrachen die Erfolgsgeschichte der Weißen Flotte und des Wasserbahnhofes. Nach dem Krieg quartierten sich dort Offiziere der britischen Besatzungsarmee und machten den Wasserbahnhof zu ihrem Club.

Doch am 7. April 1949 bekamen die Mülheimerinnen und Mülheimer ihren Wasserbahnhof, wie es in der Lokalpresse hieß, "als angenehme Erholungsstätte zurück." Nicht nur Oberbürgermeister Heinrich Thöne freute sich vor 75 Jahren darüber, "dass wir jetzt endlich wieder Herr im eigenen Haus des Wasserbahnhofes sind." Und Baurat Borchert ließ beim Eröffnungsfrühstück im Wasserbahnhof mit seinen 600 Sitzplätzen keinen Zweifel daran, dass die städtischen Handwerker 66 Tage lang alle Hände voll zu tun hatten, um die Spuren "des ungezwungenen Soldatenlebens" im Wasserbahnhof zu beseitigen.

"Was unsere Handwerker geleistet haben, kann sich bei den zukünftigen Gästen sehen lassen", lobte die Lokalpresse und hob in diesem Zusammenhang den Lichterglanz hervor, den die neue Außenbeleuchtung des Wasserbahnhofes auf die Wasserfläche der Ruhr zaubere. Nicht alle, die den Wasserbahnhof in den nachfolgenden Jahrzehnten gastronomisch bewirtschafteten, erfüllten den Wunsch Heinrich Thönes nach "so gut kalkulierten Preisen, dass sich auch der Mann im einfachen Kleid hier wohlfühlen kann."

Doch heute, da der Wasserbahnhof nicht mehr der Stadt, sondern der Schweizer Conle-Gruppe gehört, kann man im dritten Jahr nach dem Ruhrhochwasser des Sommers 2021 noch nicht mal über die gastronomische Preisgestaltung im Wasserbahnhof streiten, Denn seit der Überflutung der Schleuseninsel ist im Wasserbahnhof der Ofen aus und die Küche kalt. "Wie lange noch?", fragt sich so mancher Mölmsche und wünscht sich eine zweite Renaissance des Wasserbahnhofes, wie einst im April 1949.

Donnerstag, 4. April 2024

Helden des Alltags

 Sie sind nicht von ungefähr die in allen Berufsimage-Umfragen hoch gepriesenen Helden des Alltags. Feuerwehrleute bringen sich in Gefahr, um Menschen zu retten und Schlimmeres zu verhindern, wenn es brennt.

Seit 100 Jahren gibt es in Mülheim eine Berufsfeuerwehr. Ihr 2019 aus dem Dienst geschiedener ehemaliger Chef Burkhard Klein hat zur Feier dieses Jahrestages jetzt eine Chronik des Mülheimer Brandschutzes vorgelegt, der unter dem Titel: "Von Spritzenmeistern, Pümpern und Gehilfen" im Verlag Stumpf & Kroessedey erschienen und für 29,50 Euro im Buchhandel erhältlich ist.

Klein, der von 1991 bis 2019 Teil der Mülheimer Feuerwehrgeschichte war, erinnert sich noch gut an große Einsätze der Mülheimer Berufsfeuerwehr, etwa beim Brand der Grillo-Villa im Uhlenhorst (1993), beim Großbrand am Dickswall (2008) oder an den Jahrhundert-Einsatz nach dem Pfingssturm Ela, der 2014 Bäume wie Streichhölzer knickte und umfallen ließ.

Besonders gerne erinnert sich der ehemalige Branddirektor an die Neugründung der Freiwilligen Feuerwehr im Jahre 2001 und an die Eröffnung der neuen Hauptfeuerwache an der Duisburger Straße 2010, die von einer Nebenwache an der Seilfahrt in Heißen komplettiert wird.

Angesichts von zwei Mülheimer Feuerwachen, einer Berufs- und einer Freiwilligen Feuerwehr, kann man es sich heute nicht mehr vorstellen, dass der Brandschutz in Mülheim bis zum 1. April 1924 allein auf den Schultern Freiwilliger Feuerwehrleute lastete, die größtenteils aus der Turnerschaft kamen. "Die Turner waren körperlich fit und hatten keine Probleme mit dem Leitersteigen", erklärt Feuerwehr-Chronist Burkhard Klein den Zusammenhang. Mülheims erste Freiwillige Feuerwehr war 1852 mit dem Inkrafttreten des Mülheimer Feuerschutzreglements entstanden. Zuvor galt das von der Bergischen Brandschutzordnung des Jahres 1555 festgelegte Prinzip: Im Brandfall hilft jeder jedem.

Am 1. April traten die ersten 18 Berufsfeuerwehrleute auf der Feuerwache an der Aktienstraße, dort, wo heute das Rotkruzzentrum steht, ihren Dienst an. Dort mussten sich die Feuerwehrmänner, die alle eine handwerkliche Berufsausbildung mitbrachten, den Platz mit der städtischen Strom- und Gasversorgung teilen. Erst ab 1960 hatte die Mülheimer Berufsfeuerwehr an der Aktienstraße eine neugebaute und moderne Feuerwache für sich.

Einer der ersten großen Einsätze, die Burkhard Klein, im Stadtarchiv recherchiert hat, war ein Tribünenbrand an der Rennbahn Raffelberg. Viel gefährlicher, als jeder Großbrand, waren die politischen Brandstifter der NSDAP, die auch in Mülheim ab März 1933 das Sagen hatten. Ihre Macht nutzten sie, um den 1924 vom Baurat zum Branddirektor umgeschulten Paul Sorge durch Mülheims SS-Chef Alfred Freter zum Feuerwehrchef zu machen, obwohl dieser keinerlei Qualifikationen für dieses Amt mitbrachte. Im Sinne der NS-Ideologie wurde Mülheims oberster Brandbekämpfer in der Reichspogromnacht 1938 in der Synagoge am Viktoriaplatz zum Brandstifter. 

Obwohl sich Freter Ende der 1950er Jahre in Duisburg vor Gericht für seine Tat verantworten musste, wurde er freigesprochen. Das Gericht begründete seinen Freispruch damit, dass es sich um "einen leichten Fall von Brandstiftung" gehandelt habe, der inzwischen verjährt sei. Seine Einschätzung begründete das Gericht damit, dass die Jüdische Gemeinde ihre 1907 eingeweihte Synagoge am 5. Oktober 1938, also gut einen Monat vor der Reichspogromnacht vom 9. November 1938 an die Stadtsparkasse verkauft habe. Deshalb habe es sich bei der Synagoge zum Zeitpunkt der Brandstiftung nicht mehr um ein jüdisches Gotteshaus gehandelt.

Freter wurde nach dem Krieg nicht mehr in den Dienst der Mülheimer Berufsfeuerwehr eingestellt und arbeitete stattdessen bei einer Werksfeuerwehr in Duisburg.

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Mittwoch, 3. April 2024

Lauf für die Liebe

 Lauf für die Liebe. Der Name ist Programm. Mit seinen Lieben gemeinsam Spaß an der Bewegung und eine gute Zeit haben, um damit auch etwas Gutes zu tun. Das ist der Lauf für die Liebe (LFDL), zu der die Werbegemeinschaft Saarn am Sonntag, 28. April, einlädt. „Wir möchten den Stadtteil Saarn positiv hervorheben und gleichzeitig der Gesellschaft etwas zurückgeben“, erklärt Vorsitzender Marcel Leydag, warum die aktuell 120 Mitglieder zählende Werbegemeinschaft inzwischen zum achten Lauf für die Liebe (LFDL) einlädt.

 

Zum Organisationsteam gehört auch Peter Brill vom Wünschewagen-Team des Arbeitersamariterbundes ASB Ruhr. Unter anderem mit den LFDL-Erlösen finanziert der ASB-Ruhr mithilfe seines ehrenamtlichen Wünscheagenteams letzte Wünsche. Fahrgäste sind schwerstkranke und sterbende Menschen, die zum Beispiel mit dem Wünschewagen noch einmal ans Meer, in den Zoo, zu einem Fußballspiel, zu einem entfernt lebenden Freund, zu einer Musicalaufführung oder auf den Bauernhof fahren wollen, auf dem sie mit ihrer Familie immer Urlaub gemacht haben.

 

„Der Wünschewagen muss angeschafft, aufgetankt und versichert werden. Außerdem müssen zum Beispiel Eintrittskarten und gegebenenfalls auch Hotelübernachtungen finanzieren“, erklärt Peter Brill. Die Erfüllung ihres letzten Wunsches ist für die Fahrgäste, bei denen es sich nicht nur um alte Menschen handelt, unentgeltlich. Der Lauf der Liebe und andere Spendenaktionen von Menschen, die etwas zurückgeben wollen, machen es möglich.

 

Brill weiß, dass etwa die Hälfte der jährlich mehr als 200 Wünschewagen-Anfragen nicht mehr realisiert werden können, weil die angemeldeten Fahrgäste bereits vor der Erfüllung ihres letzten Wunsches verstorben sind oder weil sich der Gesundheitszustand der Fahrgäste akut verschlechtert hat. „Doch wenn wir mit unseren Fahrgästen dann unterwegs sein und ihnen ihre letzten Wünsche erfüllen können, ist das für alle Beteiligten keine traurige Angelegenheit. Die meisten unserer Fahrgäste haben sich bereits mit ihrem Tod abgefunden und können noch einmal ganz intensiv und lebensfroh den glücklichen Lebensmoment im Hier und Jetzt ganz intensiv genießen“, schildert Brill seine Wünschewagenerfahrungen, die ihn immer wieder aufs Neue ermutigen, seinem höchst sinnvollen Ehrenamt treu zu bleiben. Weitere Informationen über den nach niederländischem Vorbild seit zehn Jahren fahrenden Wünschewagen des ASB-Ruhr findet man online unter: www.wuenschewagen.de. Informationen rund um den Lauf für die Liebe und die Möglichkeit zur Online-Anmeldung findet man auf der Internetseite der Werbegemeinschaft Saarn unter: www.meinsaarn.de

Der siebte Lauf für die Liebe startet am Sonntag, 28. April, um 12 Uhr für die U6-Bambinis und für alle anderen Teilnehmenden ab 13 Uhr auf dem Sportplatz an der Mintarder Straße. Dort erwartet die Gäste auch ein Familienfest mit kulinarischen Köstlichkeiten und zahlreichen Spielangeboten für den Nachwuchs.

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Dienstag, 2. April 2024

Der Theatermann

 1 April 1934. Auf den Tag genau 119 Jahre nach Otto von Bismarck wird in Mailand Roberto Cuilli geboren. Der Name ist Musik, vor allem für Theaterfreunde. 1980 kommt er von Düsseldorf nach Mülheim, um hier das Theater an der Ruhr zu gründen. Am 19. November 1981 feiert das Theater an der Ruhr mit seiner Inszenierung von Frank Wedekinds „Lulu“ seine erste Premiere.

Seit 1981 spielt das Theater, das er bis heute mit dem Dramaturgen Dr. Helmut Schäfer führt, im ehemaligen Kurhaus des 1909 eröffneten und 1992 geschlossenen Solbades im Raffelbergpark. In dem Park, in dem früher Kurgäste verweilten, wird heute in den Weißen Sommer-Nächten Theater gespielt.

Schon in seiner Heimatstadt hat der promovierte Philosoph, der seine Doktorarbeit über den deutschen Philosophen Hegel geschrieben hat, mit Il Globo/Die Welt 1960 ein eigenes Theater gegründet. Auch mit dem Theater an der Ruhr hat Ciulli Grenzen überschritten und Grenzen überbrückt, zum Beispiel, wenn er 2003 mit Patienten aus der forensischen Psychiatrie in Langenfeld das Theaterstück: „Wie hast du geschlafen?“ inszenierte. Unter seiner Leitung tourte das Theater an der Ruhr seit 1983 durch bisher 38 Länder der Welt und war selbst Gastgeber internationaler Partnerensembles.

1965 kam der Italiener Roberto Ciulli nach Deutschland. Hier verdiente er zunächst als LKW-Fahrer und als Fabrikarbeiter seinen Lebensunterhalt, ehe er sich am Deutschen Theater in Göttingen zwischen 1965 und 1972 vom Bühnenarbeiter und Beleuchter über den Regieassistenten bis zum Regisseur und Schauspieler hocharbeitete. 1968 erlebte er mit der Inszenierung von: Federico Garcia Lorcas „Bernarda Albas Haus“. 1972 wechselte er vom Deutschen Theater Göttingen als Schauspieldirektor zum Kölner Schauspielhaus. Vom Rhein kam er 1980 an die Ruhr. Mit finanzieller Unterstützung der Stadt Mülheim an der Ruhr, sie stellte ein Startkapital von 535.000 Mark und eine Bürgschaft von 900.000 Mark zur Verfügung,  gründete er zusammen mit dem Dramaturgen Helmut Schäfer und dem inzwischen verstorbenen Bühnenbildner Gralf-Edzard Habben das Theater an der Ruhr als gemeinnützige Gesellschaft mit beschränkter Haftung. 20 Schauspielerinnen und Schauspieler gehören 1981 zum ersten Ensemble des Theaters an der Ruhr. Sie richten das alte Kurhaus für den Spielbetrieb her. Als „Theater ohne Wenn und Aber“ beschreibt Roberto Ciulli 1981 sein Konzept. Bis heute werden, diesem Leitbild Ciullis folgend,  auf der Theaterbühne im Raffelbergpark Klassiker in zeitgemäßer Form inszeniert. Sein Publikum, das er immer persönlich begrüßt, wenn er seine Eintrittskarten abreist, kennt Roberto Ciulli nicht nur als Regisseur und Schauspieler, sondern auch als Gastgeber zahlreicher Matineen und politischer Salons im Theater an der Ruhr.

Für seine Verdienste ist „der letzte Theaterprinzipal Deutschlands“, wie ihn die Frankfurter Allgemeine Zeitung in einem Beitrag zu seinem 90. Geburtstag genannt hat, ist Roberto Ciulli unter anderem mit dem Ehrenring der Stadt Mülheim, mit dem Ehrenpreis der Bürgergesellschaft Mausefalle, mit dem Bundesverdienstkreuz, mit dem polnischen Kulturpreis, dem Deutschen Kritikerpreis,mit  dem Staatspreis des Landes Nordrhein-Westfalen und mit dem Deutschen Theaterpreis ausgezeichnet worden. Die Theaterkritikerin Christine Dössel, die für die Süddeutsche Zeitung mit Roberto Ciulli jüngst ein Geburtstagsinterview geführt hat, schreibt über ihn: „Ciullis Inszenierungen bewegen sich zwischen Poesie, Clownerie und Gesellschaftskritik, sind immer auch Selbstfeier und kultisches Fest.“

Zusammen mit den 1976 begründeten Mülheimer Theatertagen hat das von Roberto Ciulli geleitete Theater an der Ruhr Mülheim bundesweit als Stadt des zeitgenössischen deutschsprachigen Theaters bekannt gemacht.

Zum Autor & Zum Theater an der Ruhr

Sonntag, 31. März 2024

Letzte Hilfe

 Schon Benjamin Franklin, Mitautor der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, Diplomat und Erfinder, wusste: "Nichts ist so sicher, wie die Steuer und der Tod." Dennoch verdrängen wir diese Tatsache, obwohl wir wissen, dass unser Tod schon feststeht, wenn wir geboren werden.

Das 1996 gegründete Hospiz begleitet aktuell mit 40 ehrenamtlich und damit unentgeltlich aktiven Frauen und Männern schwerstkranke und sterbende Menschen, um damit auch die betroffenen Angehörigen zu entlasten. Ab Juni startet ein neuer Ausbildungskurs, zu dem auch die Auseinandersetzung mit der eigenen Sterblichkeit gehört. 

Genau das taten jetzt auch zwölf Männer und Frauen, die im Ladenlokal des Ambulanten Hospizes am Kohlenkamp einen Letzte-Hilfe-Kurs besuchten, den die neue Koordinatorin des Ambulanten Hospizes, Rafaela Schmitz zusammen mit ihrer Essener Kollegin leitete.

Unter den Teilnehmenden waren nicht nur mittlere Jahrgänge, sondern auch junge Menschen, die zeigten, dass uns der Tod oder die Herausforderung, einen lieben Menschen viel zu früh auf seinem letzten Weg zu begleiten, in jeder Generation ereilen kann. Kursteilnehmer, die diese Erfahrung schon mindestens einmal in ihrem Leben machen mussten, berichteten davon, wie schwierig es ist, sich im Sinne des Sterbenden im Krankenhaus gegen Ärzte und Pflegekräfte durchzusetzen, selbst, wenn der Sterbende bei Zeiten seinen vorletzten Willen in einer Patientenverfügung festgelegt hat,

"Im Klinikbetrieb steht nicht der Mensch, sondern die Wirtschaftlichkeit des Krankenhauses im Vordergrund", schilderte eine 61-Jährige ihre Erfahrungen in der Sterbebegleitung. Dennoch ermutigte Rafaela Schmitz, die als Koordinatorin des Ambulanten Hospizes die Nachfolge von Andrea Guntermann angetreten hat, ihr Auditorium zur Abfassung einer Patientenverfügung, deren unterschiedliche Formate sie ebenso vorstellte, wie die zunehmend vernetzten und professionalisierten Möglichkeiten einer schmerzlindernden Palliativversorgung. In diesem Zusammenhang stellten die ambulanten Hospizkoordinatorinnen auch Medikamente vor, die klassische Symptome der letzten Lebensphase, wie etwa Angst, Luftnot, Übelkeit und Depression, mildern können.

Wenn Menschen sich zunehmend ins Bett zurückziehen, Berührungen abwehren und aufhören zu essen und zu trinken, ist das, laut Schmitz, ein Zeichen dafür, dass der Sterbeprozess begonnen hat. In dieser Phase können nach ihrer Erfahrung leichte Hand- und Fußmassagen, das Befeuchten des Mundraumes mit watteähnlichen Stäbchen oder auch das klassische Halten der Hand und das Dasein und die Situation mit aushalten, für den sterbenden Menschen hilfreich und entlastend sein.

Das Ambulante Hospiz ist auch online unter: www.ambulantes-hospiz-mh.de erreichbar.



Samstag, 30. März 2024

In Memoriam Jochen Leyendecker

Vielseitig, kreativ, zugewandt und bodenständig. So werden all jene, die den Künstler Jochen Leyendecker kennengelernt haben, immer wieder gerne an ihn zurückdenken. Am 23. März ist der gebürtige Mülheimer im Alter von 67 Jahren viel zu früh verstorben,

Zuletzt war eine Auswahl seiner Werke in der Galerie 46 zu sehen. Nach einem Schlaganfall musste er sich in den letzten neun Jahren seines Lebens auf das Malen, Zeichnen und Drucken von Grafiken beschränken, nachdem er sich auch einen Namen als Bildhauer gemacht und den jetzt zur Disposition stehenden Bismarckturm am Kahlenberg als Atelier und Ausstellungsort mit Leben gefüllt hat. 

Durch sein Engagement in der 1995 von ihm mitgegründeten Gruppe AnDer, für die Saarner Aktion Kunst Raus und in der Arbeitsgemeinschaft Mülheimer Künstler war er nicht nur durch gemeinsame Ausstellungen mit seinen Kolleginnen und Kollegen verbunden. Nicht nur als freischaffender Künstler, sondern auch als Lehrer am Gymnasium Heißen vermittelte er das Schaffen von Kunst und das Staunen über die Kunst und ihre Ausdruckskraft. 

Nach dem Abitur an der Otto-Pankok-Schule und seinem Zivildienst in der Evangelischen Akademie erwarb er sich mit einem Praktikum beim Mülheimer Bildhauer Ernst Rasche, einer Ausbildung zum Steinmetz und Steinbildhauer und dem anschließenden Studiums der Architektur und der Bildhauerei das Fundament seiner technischen und künstlerischen Ausdrucksfähigkeiten.

Nicht nur seine Frau Heidemarie und sein Sohn Johannes trauern um Johannes trauern um Jochen Leyendecker, der uns als Mensch und Künstler in lebendiger Erinnerung bleiben wird.

Donnerstag, 28. März 2024

Augen auf bei der Berufswahl

 Was soll ich werden? Bei dieser lebensentscheidenden Frage, die man sie sich vor dem Schulabschluss zwangsläufig stellen muss, bekamen etwa 500 Mülheimer Oberstufenschüler und jetzt eine Entscheidungshilfe. Eine Berufsmesse in der Hochschule Ruhr West, zu der die drei Mülheimer Rotarier Clubs eingeladen hatten, machte es möglich. 

Die Bandbreite in der potentiellen Arbeitgeber, die sich im Foyer mit der Hochschule präsentierten, um potenziellen Berwerberinnen und Bewerbern Rede und Antwort zu stehen, reichte von der Bundeswehr über die Sparkasse und die Hochschule Ruhr West bis hin zum IT-Unternehmen Turck und der im Pflegebereich aktiven Contilia Gruppe. Der eine oder andere junge Messebesucher vermissten allerdings Informationsangebote aus dem Handwerk. Insgesamt stieß die Berufsbörse auf dem Hochschulparkett bei allen Beteiligten auf Gegenliebe. 

So nutzten einige Oberstufenschü ler zum Beispiel die Gelegenheit, um sich im Rahmen einer Medizinpräsentation über die Möglichkeiten zu informieren, wie man auch mit einem Numerus Clausus jenseits der 1,0 den Weg ins gewünschte Medizinstudium finden kann. Wer mit den angehenden Abiturienten ins Gespräch kam, konnte feststellen, dass es ihnen bei der Berufswahl weniger um eine möglichst hohen Verdienst, sondern vor allem um soziale Anerkennung und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ging. Während einige der jungen Berufstätigen von morgen nach einem krisensicheren Arbeitsplatz Ausschau hielten, liebäugelten andere mit einer beruflichen Selbstständigkeit oder mit einem ortsunabhängigen Online-Arbeitsplatz, der sie in die Lage versetzen würde, wie es ein Schüler sagte, "möglichst viel zu erleben und von der Welt zu sehen, weil mein Horizont nicht auf seinem heutigen Status begrenzt bleiben sollte, ehe ich mich vielleicht mit dem Thema Familiengründung auseinandersetze."

Dass die HRW bereits zum zweiten Mal als Gastgeber ihre großzügigen Räumlichkeiten für die früher vor Ort in den Gymnasien organisierte Berufsorientierungsmesse der Mülheimer Rotarier zur Verfügung gestellt hatte, kam bei Schülern, Lehrern und Arbeitgebern gleichermaßen gut an, werden doch viele der jungen Messebesucher nach ihrem Abitur studieren, ob an der HRW oder an einer anderen Hochschule. Da konnte es ihnen nicht schaden, vorsorglich schon mal etwas Uni-Luft zu schnuppern.

Mittwoch, 27. März 2024

100 Plus

Wenn man 100 Jahre alt wird, wie das der Mülheimer Jurist Raymund Krause jetzt geschafft hat, kann man was erzählen.

In seinem Falle ist es zum Beispiel die Geschichte seines Vaters. Der war wie die Mutter Volksschullehrer. Er trat 1933 in die NSDAP ein, weil er im Ersten Weltkrieg einen Arm verloren hatte und die "Kriegsschuldlüge des Versailler Friedensvertrages", wie er sie bezeichnete, durch einen Revanche-Krieg getilgt wissen wollte.

Es ist aber auch die Geschichte seiner Mutter, von der er erzählen kann. Auch sie oder war Volksschullehrerin. Sie musste aber nach 10 Jahren im Schuldienst 1923 als Frühpensionärin wider Willen aus dem Schuldienst ausscheiden, da die Herren der Schöpfung und des Schulverwaltungsamtes der Ansicht waren, dass eine mitverdienende und berufstätige Ehefrau zugunsten alleinverdienender Familienväter beruflich zurücktreten hatte.

Krauses früheste Erinnerung ist die seines ersten Schultages nach Ostern im Weltwirtschaftskrisenjahr 1930. Als einziger ABC-Schütze seiner ersten Klasse an der Evangelischen Volkschule an der Mellinghofer Straße stand er ohne Schultüte da. Denn seinen Eltern war es peinlich, wenn er als einziger mit einer Schultüte zum Schulstart angetreten wäre, während seine oft aus armen Verhältnissen stammenden Mitschüler und Mitschülerinnen ohne Süßes zum Beginn des Schullebens dagestanden hätten. "Meine Mutter hatte aber Gott sei Dank vorgesorgt. Und ich bekam die Schultüte anschließend daheim", erinnert sich der Nestor im Wohnzimmer seiner Wohnung an der Schloßstraße.

Er gehörte als Mülheimer des Jahrgangs 1924 und als Abiturient das Jahrgangs 1942 zur Kriegs- und Nachkriegsgeneration. Wenige Tage nach seinem Abitur, das er unter anderem mit einem Aufsatz zur "erzieherischen Wirkung eines Militärs" bestanden, wurde er zur Luftwaffe eingezogen. Seine bereits erfolgte Einschreibung zum Jurastudium in Marburg musste er revidieren und stattdessen eine Ausbildung zum Bordfunker absolvieren. Krause hatte Glück im Unglück des Krieges. Mehr als einmal überlebte er eine Bruchlandung. Einmal war sein Retter in der Not eine Mülheimer Mitbürger, wie sich an der Absturzstelle herausstellte. 

Nach dem Kriegsende hatte er wieder Glück. Er nicht in sowjetische, sondern in amerikanische Kriegsgefangenschaft. Und nach einem Arbeitseinsatz bei einem Landwirt von Bayern wurde er vorzeitig zurück an die Ruhr geschickt. Weil sein Elternhaus an der Aktienstraße ausgebombt worden war, musste er bei seinem unverheirateten Tanten einziehen. Deren Haus im Dichterviertel hatte die 161 Luftangriffe auf Mülheim unbeschadet überstanden.

"Ich habe meine jüngere Schwester gar nicht wiedererkannt, weil ich sie fünf Jahre nicht gesehen hatte", erinnert sich Krause an das Wiedersehen mit den Eltern und der Schwester, die 1947 aus der kriegsbedingten Landverschickung heimkehrten. Er selber verdiente sich als kaufmännischer Angestellter bei einem Werkzeughändler das Geld für den Start ins Jurastudium, das er 1950 mit einem Staatsexamen und einer Doktorarbeit abschließen konnte. 

Als junger Richter wurde Krause im Wirtschaftswunder-Deutschland mit den Folgen der nationalsozialistischer Verbrechen gegen die Menschlichkeit konfrontiert. Denn er musste unter anderem Wiedergutmachungs- und Entschädigungsfälle von Menschen verhandeln, deren Angehörige Opfer des Holocaust geworden waren. Sein ganz persönliches Wirtschaftswunder erlebte er 1957 als er sich einen schwarzen VW Käfer mit dem damals typischen kleinen Rückfenster für 3000 Mark kaufen konnte. 

Dienstag, 26. März 2024

Ein Konservativer

 Wir wissen nicht, was Matthias Kuhlenkötter wählt. Doch beruflich ist er ein Konservativer. Denn der 38-Jährige ist als Nachfolger von Martina Erm der neue Restaurator des Stadtarchivs,

Nach einem Schülerpraktikum in einem Münsteramer Museum kam er als 15-Jähriger auf die Idee, das Restaurieren sein Beruf werden könnte. Nach dem Abitur studierte der Westfale an der Technischen Hochschule in Köln Papierrestauration und arbeitete anschließend als Restaurationsberater für Archive in Nordrhein-Westfalen und in Schleswig-Holstein. 

Jetzt hat es den Münsterländer, der seinen Beruf als eine "spannende Mischung aus Handwerk und Wissenschaft" beschreibt also ins Ruhrgebiet gezogen.

Im Haus der Stadtgeschichte sorgt er in seiner Werkstatt zum Beispiel mit kleinen Schwämmen, hauchdünnem Japanpapier und einer Schimmelabzugshaube dafür, dass uns unser papiernes kollektives Gedächtnis nicht abhanden kommt.

Vor allem das holz- und säurehaltige Papier, auf dem zwischen 1840 und 1980 gedruckt und aufgeschrieben wurde, was wichtig und erinnernswert erschien, macht dem Restaurator sein Arbeitsleben im Haus der Stadtgeschichte an der Von-Graefe-Straße nicht leichter.

Auch Mäusefraß und Papierfischen sagt er von Berufswegen den Kampf an. Ohne die knifflige Einbettung in hauchdünnes und durchsichtiges Japanpapier würden zum Beispiel die Zeitungsseiten von Anno Dazumal als wichtige Zeitdokumente  irgendwann unlesbar und am Ende ganz zerfallen.

Auch hohe Luftfeuchtigkeit, extreme Temperaturen und zu viel Licht mögen Kuhlenkötters alte Schätze gar nicht. Deshalb ist er als Restaurator auch für die Digitalisierung von Urkunden und anderen Dokumenten zu haben, um die Zeitdokumente möglichst dauerhaft für die Nachwelt zu erhalten, damit wir auch morgen und übermorgen übermorgen noch nachlesen Können, was unsere Vorfahren taten und ließen, um vielleicht aus ihrer Geschichte, die heute die Unsere ist, vielleicht doch das eine oder andere zu lernen, um ihre Fehler nicht zu wiederholen.


Autor & Stadtarchiv

Freitag, 1. März 2024

Ihre Wiege stand in Mülheim

 Der Mülheimer Heimatforscher Dirk von Eicken liebt Geschichte(n), die nicht jeder kennt. Eine dieser Geschichten hat er für die Internetseite des Mülheimer Geschichtsvereins recherchiert und aufgeschrieben.

Es ist die Geschichte der schwarzen Sängerin und Schauspielerin Marie Nejar, die zwischen 1952 und 1957 zu den Stars und Publikumslieblingen des Wirtschaftswunderdeutschlands gehörte. Von Eicken bekam diese Geschichte schon als Kind von seiner Mutter erzählt. Ihr Vater, sin Großvater kannte und schätzte einen schwarzen Nachbarn (Max Bissong), der aus der ehemaligen deutschen Kolonie Kamerun stammte und 1918 nach Deutschland kam, wo er als Zirkusartist seinen Lebensunterhalt verdiente und eine deutsche Frau heiratete.

Mit ihr lebte er seit 1927 am Hingberg. Der letzte Gastspielort seiner Artistenkarriere wurde seiner Frau und ihm zur zweiten Heimat. Damals waren schwarze Menschen in Mülheim, wo heute Menschen aus fast 150 Nationen zusammenleben, noch eine Seltenheit. Deshal war Bissong, der auf der Saarner Kirmes Kokosnüsse verkaufte und als Nachtwächter im Styrumer Röhrenwerk arbeitete stadtbekannt. Da er und seine Frau kinderlos waren, trug ihnen ein Mülheimer Waisenhaus 1930 die Pflegeelternschaft für ein schwarzes Mädchen, das nach seiner Geburt von der Mutter im Waisenhaus abgegeben worden war.

Die Bissongs nahmen diess Lebensaufgabe gerne an. Doch nach drei Jahren mussten sie ihr Pflegekind an dessen Großmutter abgeben, die ihre Enkelin in Hamburg großzog. Wenn man die erstaunlich jugendliche Stimme der heute 93-jährigen Marie Nejar in einem in einem Interview des Westdeutschen Rundfunks hört, sieht man eine Hamburger Dirn vor sich.

Obwohl man Marie aufgrund ihrer Hautfarbe die Aufnahme in den Bund Deutscher Mädel verweigerte, konnte sie, trotz mancher Diskrinierungserfahrung, vergleichsweise unbehelligt im nationalsozialistischen Deutschland aufwachsen. Dass hatte auch mit ihrer unerwarteten Filmkarriere bei der UFA zu tun. Dorthin hatte sie eine selbst farbige Freundin ihrer Großmutter als schwarze Statistin vermittelt. So kam es, dass Marie zwischen 19442 und 1944 mit Heinz Rühmann und Hans Albers in den UFA-Streifen "Quax der Bruchpilot" und "Baron Münchhausen" vor der Kamera stand.

Doch nach dem Kriegsende ging es für Marie erst mal alles andere als filmreif weiter. Die über alles geliebte, weil fürsorgliche und herzensgute Großmutter, mit der sie zusammenlebte, starb 1949. Marie wurde, obwohl noch keine 21, für volljährig erklärt, weil sie als Garderobiere uns als Zigarettenverkäuferin bereits ihren eigenen Lebensunterhalt verdienen konnte.

Bei einer Mikrofonprobe in Timmendorfer Strand wurde ihre schöne Stimme 1950 vom Musiker Horst Harry Winter und vom Komponisten Michael Jary für die Film- und Schlagerbranche entdeckt. Sie bekam einen Schallplattenvertrag, nahm als Leila Negra insgesamt 30 Schlager und stand in  fünf Kinofilmen, unter anderem mit Peter Alexander vor der Kamera. Mit ihm sang sie auch 1954 ihren größten Hit: "Die süßesten Früchte fressen immer die großen Tiere." 

Weil das Medium Fernsehen, das erste Mülheimer Fernsehgerät wurde erst im Sommer 953 ausgeliefert, noch in den Kinderschuhen steckte, mussten Marie und ihre Kollegen aus der Showbranche durch das unterhaltungs- und nachholbedürftige Wirtschaftswunderdeutschland tingeln. Zwischen 1952 und 1955 trat sie auch dreimal bei Schlagershows in ihrer Geburtsstadt auf. Sowohl im Handelshof als auch im Löwenhofkino begeisterte sie das Mülheimer Publikum.

Doch schon 1957 stieg Leila Negra aus dem Showbusiness aus und begann als Marie Nejar 1957 ein Berufsleben als Krankenschwester in ihrer Heimatstadt Hamburg. Auch im Rückblick war es für sie die richtige und nie bereute Entscheidung für ein selbstbestimmtes und erfülltes Leben, weil sie mit 27 keine Lust mehr hatte, sich als Kinderstar vermarkten zu lassen, der mit einem Teddybären auftreten musste.


Der Autor & Presse

Sonntag, 25. Februar 2024

Bodenständige Geschichte

 Wir wussten es schon immer. Die Altstadt ist der historische Kern unserer Stadt. Hier residierten die 1093 erstmals urkundlich erwähnten Edelherren von Mülheim in ihrem Muhrenhof. Hier weihten sie ihre Hofkapelle dem heiligen Petrus. Im 13. Jahrhundert wurde aus der Kapelle die Petrikirche, an der nicht nur ein Wochenmarkt abgehalten, sondern die Mülheimer auch zur letzten Ruhe gebettet wurden. Wenn man sich Vorkriegsfotografien anschaut, sieht man, wie eng die Altstadt auf dem Kirchenhügel bebaut war, ehe der schwerste Luftangriff des Zweiten Weltkrieges in der Nacht vom 22. auf den 23. Juni die Innen- und Altstadt mit 1600 Bomben in Schutt und Asche legte.

Heute sind wir dankbar für jedes Fachwerkhaus, dass in der Altstadt die 161 Luftangriffe des Zweiten Weltkrieges überstanden hat, um uns vom Leben unserer Vorfahren zu erzählen. Diese Dankbarkeit drückt sich jetzt auch darin aus, dass der Kirchenhügel und seine angrenzenden Straßen in die Denkmalliste der Stadt und in die Bodendenkmalliste des Landschaftsverbandes Rheinland aufgenommen worden sind.

Diese Dankbarkeit gab es nicht immer. So wurde das 1530 errichtete Tersteegenhaus 1950 als Heimatmuseum wiederaufgebaut, aber das Geburtshaus des Arztes und Dichters Karl Arnold Kortum 1957 abgerissen und 1962 an der Kettwiger Straße 6 durch ein neues Haus für den CVJM ersetzt.

Eben dort, an der Kettwiger Straße sind seit 1969 auch Uwe und Irmtraud Baumann zuhause. "Die hört man kaum noch", beschreibt Uwe Baumann den Gewöhnungseffekt eines Alltags in Sicht und Hörweite der Glocken von Petri. Auch die seit der Reformation evangelische Petrikirche wurde durch den Luftkrieg bis auf die Grundmauern zerstört und dann, von 1949 bis 1958 mühsam wieder aufgebaut. Alte Fotos aus den 1950er Jahren zeigen eine Petrikirmes auf dem Kirchenhügel, deren Erlös in den Wiederaufbau der Petrikirche investiert wurde.

Dass die Altstadt jetzt offiziell zum Denkmal und zum Bodendenkmal erklärt worden ist, beeindruckt den Altstadtmitbewohner Uwe Baumann weniger, als die Tatsache, dass die Altstadt seit 2005 eine verkehrsberuhigte Zone ist und darüber hinaus alle Jahre wieder mit einem beliebten Adventsmarkt die Altstadt zum Treffpunkt macht. Apropos Treffpunkt. Auch darüber kann sich Baumann freuen, dass zuletzt wieder viele lange verwaiste Lokale der Altstadt jetzt mit neuer Gastronomie belebt worden sind.

Auch das, auf Initiative des Unternehmers Ulrich Turck, als Gemeindehaus neu errichteten Petrikirchenhaus zwischen Petrikirche und Tersteegenhaus, sieht Baumann ebenso als sinnvolle Wiederbelebung alter Traditionen wie die 2006 vom Verein der Altstadtfreunde neu errichtete Kortumbrunnen an der Petrikirche. Auch sein Vorgänger war 1943 ein Opfer der Bomben geworden.

Auch über die Wiedereröffnung des Heimatmuseums im Tersteegenhaus würde sich Altstadtbewohner Uwe Baumann freuen. Das älteste noch existierende Haus der Altstadt ist bereits seit 2011 wegen Baufälligkeit geschlossen und wird mit Unterstützung eines Freundeskreises derzeit restauriert. Ende offen.

Ende offen. Das gilt auch für die Frage, wann sich auch Radfahrer an das auf dem Kirchenhügel vorgeschriebene Schritttempo halten werden. Allerdings konnte die Stadt mit ihren historischen Recherchen jetzt auch die Frage beantworten, wie Altstadt zu ihrer Ringmauer gekommen ist. Sie war demnach eine Schutzmauer, die die alten Mölmschen errichtet hatten, nachdem der Mülheimer Kirchenhügel 1442 von Truppen des Kölner Erzbischofs angegriffen worden war.


Zum Autor & Mülheimer Presse

Samstag, 17. Februar 2024

NÄRRISCHE NACHLESE

Der Mülheimer Karneval ist in der abgelaufenen Session kleiner, aber nicht schlechter geworden. Die Zahl der aktiven Karnevalisten ist in den vergangenen 25 Jahren von 1600 auf 1000 zurückgegangen. Auch der organisierte Frohsinn wird vom demografischen Wandel getroffen. Die Zahl der Menschen mit einer karnevalsafinen Sozialisation nimmt ab. Die Zahl der Menschen, due mit dem Karneval kulturell nichts anfangen können, nimmt zu. Menschen mit Migrationshintergrund, die sich aktiv in die Fünfte Jahreszeit einbringen, sind selten. 

Jeder Jeck ist anders

Die Saal- und Straßenveranstaltungen der abgelaufenen Session 2023/2024 haben aber auch gezeigt: Das Brauchtum Karneval ist auch in der Ruhrstadt, die nicht mit den rheinischen Karnevalshochburgen vergleichbar ist, weiterhin gesellschaftlich relevant. Es ist gewollt und wird auch sozial gebraucht, ob in der Jugendarbeit, beim Thema Inklusion und mit Blick auf den Kreis der Senioren. Auch in der Session, in der mit dem Aschermittwoch am 14, Februar 2024 erst mal als vorbei war, haben die Tollitäten und Karnevalsgesellschaften Menschen in den örtlichen Pflegeeinrichtungen den Spaß an der Freude ins Haus gebracht. Bei der inklusiven Karnevalsparty, zu der die Karnevalsgesellschaft Mülheimer Stadtwache und der Verein für Bewegungsförderung und Gesundheitssport am 26. Januar 2024 in den Festsaal der Stadthalle eingeladen hatten, waren 440 kostümierte und begeisterungsfähige Jecken mit von der närrischen Partie. Die Auftritte des Tanzkorps der KG Dürscheider Mehlsäcke, der inklusiven Tanzgruppe Flotte Socken und der inklusiven Närrischen Zuggemeinschaft, dem Prinzen Andy an der Spitze, gehörten zu den Höhepunkten des von Musik und Tanz bestimmten Bühnenprogramms. Im Rahmen der vom städtischen Kulturbetrieb geförderten Grenzenlos-Party, die bereits seit mehr als 25 Jahren über das Parkett der Stadthalle geht, wurde ihr sowohl an der Spitze des Vereins für Bewegungs- und Gesundheitssport als auch im Vorstand der Mülheimer Stadtwache aktiver Initiator Alfred Beyer mit dem Prinzenorden für seine Verdienste um die Inklusion innerhalb und außerhalb des Karnevals ausgezeichnet.

Einen Rückschlag in Sachen Inklusion musste, die durch den Selbecker Dorfkarneval seit 1992 mit den BewohnerInnen der Theodor-Fliedner-Stiftung hinnehmen. Aufgrund des Personalmangels der Theodor-Fliedner-Stiftung konnten diesmal keine BewohnerInnen aus dem Selbecker Fliednerdorf auf dem Rosenmontagswagen der KG Röhrengarde mitfahren. Nicht nur bei der Röhrengarde, die auch bei ihrem volkstümlichen Karnevalsfest in der Realschule Stadtmittel Gäste aus dem Fliednerdorf gerne willkommen heißt, hofft man, dass dieser schmerzliche Ausfall eine Ausnahme bleibt.

Jung, jeck und Spitze

Gemäß dem Sessionsmotto: "Karneval für jedermann. Jetzt sind mal die jungen dran!", zeigte sich der Mülheimer Karneval zwischen dem 11.11. 2023 und dem Aschermittwoch an seiner Spitze mit den Tollitäten, Fabienne Brugheat, Yannik Jungblut (Rote Funken) und Zoé-Lynn Espelmann und Schumann von seiner nachwuchsfreundlichsten Seite. Tatsächlich haben die jungen Tollitäten, inklusive der Paginnen Antonia Gehlhaus, Michelle Jungblut und Julia und die Hofmarschälle Michael Becker, Christina Schwab und Thomas Brugheat ihre Aufgabe als sympathische und eloquente Botschafter des in aktuell zwölf Karnevalsgesellschaften und im Hauptausschuss Groß-Mülheimer Karneval organisierten Mülheimer Frohsinns bestens gemeistert. Neben ihren Shows kamen beim Publikum auch ihre Bekenntnisse zu einem im umfassenden Sinne inklusiven und integrativen Karneval beim Publikum gut an. Generell lässt sich mit Blick auf den Saalkarneval aktuell feststellen, dass der Publikumstrend eher zum Partymodus als zur wortgewitzten Büttenredenschlacht geht.

Ein Klassiker des Mülheimer Straßenkarnevals blieb und bleibt dagegen dankenswerterweise der diesmal von Elli Schott und Josephine Stachelhaus moderierte Möhnensturm des Rathauses, inklusive der Möhnenparty, die auch diesmal, trotz Regen, gut und gerne von den Jeckinnen auf dem Pastor-Luhr-Platz in Saarn gefeiert wurde.

66 Jahre Mölmsch jeck

Der vom Präsidenten Markus Uferkamp und von seinem Geschäftsführer Hans Klingels angeführte Hauptausschuss Groß-Mülheimer Karneval konnte in der Session 2023/2024 sein 66-jähriges Bestehen am Karnevalsfreitag, 9. Februar 2024, mit einer Närrischen Nacht unter dem Motto "66 Jahre Mölmsch jeck" im Altenhof an der Kaiserstraße feiern. Diese neue Veranstaltung am Karnevalsfreitag soll dauerhaft den zwischen 1984 und 2020 in der Stadthalle gefeierten Prinzenball ersetzen.

Nicht nur der am 11. Dezember 1957 im Handelshof gegründete Hauptausschuss Groß-Mülheimer Karneval, sondern auch die Karnevalsgesellschaften der Roten Funken und Blau Weiß freute sich in der vergangenen Session, dass ihnen der 1930 als Haus der Evangelischen Kirche errichtete Altenhof als geeigneter und allgemein geschätzter Veranstaltungsort wieder zur Verfügung stand. Auch das Autohaus Wolf in Saarn und das Dümptener Autohaus der Deichmanngruppe bewährte sich 2023/2024 zum Beispiel bei der Prinzenproklamation, bei den Herren- und Mädchensitzungen der Roten Funken und beim Gemeindekarneval "Firlefanz im Engelkranz" mit der von Rolf Völker angeführten MüKaGe. Und auch in der zurückliegenden Session haben die Autohäuser der Wolf- und Deichmanngruppe mit der Bereitstellung der Prinzenmobile die mölmschen Tollitäten in Fahrt gebracht.

Kirche und Karneval zeigten sich auch bei der ökumenischen Festmesse in St. Mariae Geburt an der Althofstraße und beim Karnevalsgottesdienst in der Imanuellkirche an der Kaiser-Wilhelm-Straße von ihrer fröhlichsten und ökumenischsten Seite. Deshalb waren auch nicht nur Oberbürgermeister Marc Buchholz, sondern auch Stadtdechant Michael Janßen und Superintendent Michael Manz beim 61. Rosenmontagszug des Hauptausschusses Groß-Mülheimer Karneval gern gesehene Mitfahrer. Der närrische Zug, der sich mit 23 Wagen, drei Musikkapellen und elf Fußgruppen am Rosenmontag, 12. Februar auf seiner 3,5 Kilometer langen Route in jeder Hinsicht unfallfrei und bei besten Wetterbedingungen durch die Innenstadt bewegte lockte insgesamt rund 26.000 Menschen ins Mülheimer Stadtzentrum.

Oberbürgermeister Marc Buchholz, der an den Tollen Tagen mit den Stadtschlüsseln seine Macht symbolisch an die Tollitäten abgeben musste, hatte  schon im Vorfeld der Session bei den Karnevalisten Pluspunkte gesammelt, nachdem er sich erfolgreich in ihren Sponsorensuche und in ihre Bestrebungen, nach einer Freigabe des Altenhofes für den Saalkarneval eingeschaltet hatte.

Ohne Moos nichts los

Trotz ihres unschätzbaren und bezahlbaren ehrenamtlichen Engagements sind Mülheims Karnevalisten auf Geldgeber aus der Stadtgesellschaft angewiesen, um zum Beispiel am Rosenmontag einen Zug durch die Gemeinde schicken und Kamelle, Schokoriegel, Bälle, Kekse und die besonders beliebten Plüschtiere unters närrische Volk zu bringen.

Deshalb hat das Brauchtum Mülheimer Karneval auch in der Session 2023/2024 nicht nur in seinem von Hans Klingels verantworteten Narrenkurier bei seinen Partnern Westenergie, RWW, Aldi-Süd, AZ Clean Group, MEG, Hagebaumarkt, RS-Reisemobile, Ruhrdeichgruppe, Sparkasse Mülheim an der Ruhr, Gerüstwerk, und bei der Wartseiner Brauerei gerne bedankt,  verbunden mit der Hoffnung auf eine auch weiterhin gute Zusammenarbeit im Sinne von Uss Mölm, Helau und Spaß an der Freude. 


Zum Mülheimer Karneval & Zum Autor

 


Sonntag, 11. Februar 2024

Gut gefahren?

 Der Klimawandel ist ein sozialer Megatrend, dem sich niemand entziehen kann. Der Ausbau des öffentlichen Personennahverkehrs und die Reduzierung des motorisierten Individualverkehrs ist zweifellos eine Handlungsoption, um denklimaschädlichen CO2-Ausstoß signifikant zu senken. Folgt man den Angaben und Berechnungen des Umweltbundesamtes sowie den Statistikern des Statistischen Bundesamtes  und der EU-Statistikbehörde Eurostat, so zeigt sich aktuell folgende Ausgangslage.

Der Straßenverkehr ist für 22 Prozent der klimaschädlichen Treibhausgasemissionen verantwortlich. Zum Vergleich: Die Energiewirtschaft stößt 37 Prozent, Industrie und Gewerbe 23 Prozent und die privaten Haushalte 17 Prozent der Treibhausgase aus. Im Weltmaßstab produziert Deutschland 2,5 Prozent der globalen CO2-Emissionen.  Abhängig davon, mit welchen Fahrzeugen man den Öffentlichen Nahverkehr organisiert, lassen sich im Verkehrssektor 40 bis 80 Prozent der Treibhausgasemissionen einsparen.

Vor diesem Hintergrund fragte sich jetzt die Kommunalpolitische Vereinigung der Mülheimer und Duisburger CDU: "Wie läuft es eigentlich mit Bus und Bahn?" Das am 7. August 2023 in Mülheim eingeführte Busnetzes, das unter anderem den Wegfall des Kahlenberg-Astes der Straßenbahnlinie 104 kompensieren soll, mangelnde Pünktlichkeit, zum Teil überfüllte Busse und Personalmangel bei der Ruhrbahn, aber auch ein jährlicher Zuschussbedarf, der sich auf der Mülheimer Seite auf 35 Millionen Euro beläuft, machen den öffentlichen Personennahverkehr zum Politikum, 

Dieses Politikum, verbunden mit den vergleichbaren, aber noch viel größeren Strukturproblemen der 1996 privatisierten Deutschen Bahn diskutierten Mülheimer und Duisburger Kommunalpolitiker der CDU mit ihrem Parteifreund, Frank Heidenreich, der für die CDU im Duisburger Stadtrat und in der Verbandsversammlung des Verkehrsverbundes Rhein-Ruhr (VRR) sitzt, wo er die CDU-Fraktion anführt.

Heidenreich nannte in seinem Impulsreferat die Diskussion anregende Zahlen: Mülheim und Duisburg sind zwei der sieben kreisfreien Städte, die zusammen mit sieben Landkreisen, die den VRR als Gewährsträger zusammen mit den Geldgebern Bund und Land das Fundament des größten Verkehrverbundes in Europa bilden. In einer Region mit 7,8 Millionen Einwohnern transportiert der VRR täglich 30 Millionen Fahrgäste und erwirtschaftet damit Einnahmen von jährlich 1,1 Milliarden Euro. Hinzu kommen 710 Millionen Euro, die Bund und Länder jährlich für die Mobilitätsdienstleistungen des VRRs zahlen. Doch der VRR muss von diesen 710 Millionen Euro 380 Millionen Euro für die Nutzung der DB-Infrastruktur (Gleise und Bahnhöfe) zahlen.

Da die Bundesrepublik Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten nur ein Siebtel der Investiotionen für den Straßenbau in die Erhaltung und des Ausbau des noch aus Kaiser Zeiten stammenden Gleis- und Bahnhofsnetzes investiert hat, muss die im demografischen Wandel auch unter Personalmangel leidende DB zurzeit unter erschwerten Bedingungen einen riesigen Investitionsstau abarbeiten. Das gilt für den VRR und seine kommunalen Mitgliedsunternehmen, wie die Ruhrbahn im kleineren Vergleichsmaßstab auch.

Angesichts der von der schwarzgrünen Landesregierung angestrebten Verkehrswende, die den öffentlichen Personennahverkehr bis 2030 um 60 Prozent ausbauen will, ließ Frank Heidenreich durchblicken, dass er die Ausdünnung des Ruhrbahn-Fahrplans mit Verständnis für die finanzpolitische Zwangslage Mülheims, insgesamt kritisch sieht, weil sie in die entgegengesetzte Richtung weise. 

Das 175.000 Einwohner zählende Mülheim gilt mit insgesamt rund 90.000 Kraftfahrzeuge n zu den deutschen Städten mit der größten KFZ-Dichte. In der Ruhrstadt hat sich die Zahl der Kraftfahrzeuge seit Mitte der 1950er Jahre verneunfacht.

Der Mülheimer CDU-Stadtrat Dr. Siegfried Rauhut, der auch dem Aufsichtsrat der Ruhrbahn angehört, verteidigte den Mülheimer Sparkurs bei Bussen und Bahnen damit, "dass wir als Haushaltskonsolidierungskommune keinen Bock auf einen Sparkommissar aus Düsseldorf haben, der unseren kommunalpolitischen Spielraum auf Null reduzieren würde."

Der Vorsitzende der Kommunalpolitischen Vereinigung, Matthias Lincke, räumte ein, dass er: "das Neun-Euro-Ticket ausprobiert hat, dann aber aus Pünktlichkeits- und Bequemlichkeitsgründen wieder aufs Auto umgestiegen ist." Am Ende der Diskussion zeigte sich in folgenden Punkten ein Konsens: Erstens: U- Bahn- und Stadtbahntunnel sind ein überholtes Relikt aus den 1970er Jahren, als man noch das moderne und autogerechte Deutschland schaffen wollte, Und zweitens: Es wäre strategisch sinnvoller gewesen, die jeweils drei Milliarden Euro, die Bund und Land bisher in das Neun- und in das 49-Euro-Deutschland-Ticket investiert haben, in die Ertüchtigung der Bus- und Bahn-Infrastruktur zu investieren, ehe man an die Aufstellung eines kundenorientierten Tarifangebotes realisiere. "Die Menschen steigen erst dann dauerhaft vom Auto auf Bus und Bahn um, wenn diese sauber, sicher und pünktlich fahren,"


Zum Autor & Zur Ruhrbahn &Zum VRR & Zur CDU Mülheim an der Ruhr

Dienstag, 6. Februar 2024

Bodenständig und bürgernah

 "Das schönste Denkmal, dass sich ein Mensch bauen kann, steht im Herzen seiner Mitmenschen." Dem jetzt im Alter von 88 Jahren verstorbenen ehemaligen Bürgermeister und Landtagsabgeordneten Günter Weber ist diese Lebensleistung vergönnt gewesen. Wer ihn kannte, wird ihn als bürgernahen und bodenständigen Sozialdemokraten in Erinnerung behalten, der sich politisch vor allem für den Öffentlichen Personennahverkehr und einen ausgewogenen Mobilitätsmix, aber auch für seine Wahlheimat Dümpten stark gemacht hat. Die Stärken, Schwächen und unausgeschöpften Potenziale von Bus und Bahn kannte Weber nicht nur vom Hörensagen oder aus seinem Aktenstudium, sondern als täglicher Nutzer und Mitfahrer seiner Mitbürgerinnen und Mitbürger, für die er ein offenes Ohr hatte.

Seine Wiege stand in der Mausegattsiedlung. Dort wurde er 1935 in eine Bergmannsfamilie hineingeboren. Als Kind erlebte und überlebte er den Zweiten Weltkrieg, unter anderem durch die Kinderlandverschickung nach Württemberg, 

Nach dem Krieg fand er seine berufliche Heimat bei Siemens in Dümpten. Politisch wurde der Bergmannssohn bei den Falken und in der SPD aktiv, für die er 1961 erstmals in den Rat der Stadt einzog. Mit seiner viel zu früh verstorbenen Frau Christel teilte er das sozial- und kommunalpolitische Engagement in der SPD und in der Arbeiterwohlfahrt, aber auch ab 1960 als ehrenamtlicher Leiter des Jugendzentrums an der Nordstraße.

Als Stadtverordneter, Bürgermeister und Landtagsabgeordneter hat er in mehr als drei Jahrzehnten für seine Heimatstadt wichtige Projekte, wie etwa den Stadtbahnbau, die erste Mülheimer Gesamtschule im Norden der Stadt, den Erhalt des Hor- und Hexbachtales, die Beschleunigung der Straßenbahnlinie 102, den Umgehungsstraßenbau der Mannesmannallee zur Entlastung der Mellinghofer Straße, den Ausbau der Weißen Flotte und den Volkshochschulbau an der Bergstraße politisch begleitet und/oder federführend auf den Weg gebracht.

Montag, 5. Februar 2024

Demokratie unter Druck

 Tausende Menschen sind in den vergangenen Wochen für unsere Demokratie auf die Straße gegangen. Auch in Mülheim nahmen sich 7000 Menschen dafür Zeit, den eisigen Temperaturen zum Trotz. Auch wenn diese 7000 Demonstrierenden angesichts der Teilnehmendenzahlen in anderen Großstädten vergleichsweise erscheinen mögen, ist diese Zahl für unsere Stadt mit derzeit 174.000 Einwohnern beachtlich, zumal die Kundgebung sehr kurzfristig initiiert wurde. Der DGB wäre froh, wenn er bei seiner Kundgebung am 1. Mai eine solche Zahl von Menschen mobilisieren könnte. Nur der Rosenmontagszug bringt mehr Menschen in unserer Stadt im Grenzbereich zwischen Ruhr und Rhein auf die Straße. Aber Spaß bei Seite. 

Die Frage bleibt: Was wird aus unserer Demokratie und wie bleibt sie funktionsfähig? Denn darum geht es im Kern. Warum werden antidemokratische Positionen politisch wieder salonfähig. Warum  gründen sich derzeit neue Parteien mit Aussicht auf Erfolg. Ist mit den bestehenden Parteien kein Staat mehr zu machen? Die Werteunion und das Bündnis Sarah Wagenknecht, aber auch die dem türkischen Staatspräsidenten Erdogan und seiner Partei AKP nahestehende Demokratische Allianz für Vielfalt und Aufbruch, die sich als Migrantenlobby profilieren und positionieren will, sehen Lücken im demokratischen Parteienspektrum, die sie ausfüllen wollen, ob mit rechts- und nationalkonservativer oder mit sozialkonservativer Ausrichtung.

Vor allem bei den Wahlen des Europäischen Parlaments im Juni 2024 sind ihre Chancen vergleichsweise gut, weil hier nach dem reinen Verhältniswahlrecht, ohne Sperrklausel, gewählt wird.

Sind neue Parteien Teil der Lösung oder Teil des Problems? Aus der Kommunalpolitik aber auch aus dem historischen Beispiel des Reichstages der Weimarer Republik wissen wir: Das reine Verhältniswahlrecht erschwert die Parlamentarische Mehrheitsbildung und damit auch die politische Entscheidungsfindung.

Das ist der Kern unserer Demokratiekrise. Wo die Mehrheitsbildung immer schwieriger werden auch politische Entscheidungen immer schwieriger. Damit wird die Handlungsfähigkeit des demokratischen Staates und infolge dessen auch seine Funktionsfähigkeit beeinträchtigt. Und genau dies schwächt die soziale Akzeptanz des demokratisch-parlamentarischen Regierungssystems, über das der britische Premierminister Winston Churchill (1874-1965) zurecht festgestellt hat: "Die Demokratie ist die schlechteste Regierungsform, außer aller anderen."

Der soziale Wandel unserer Gesellschaft, weg von einer nivellierten  Mittelstandsgesellschaft, weg von identitäts- und gemeinschaftsstiftenden sozialen Milieus und hin zu einer stark differenzierten und individualisierten Gesellschaft. Die Umfrage- und Wahlergebnisse der letzten Jahre zeigen uns dies überdeutlich.

Wollen wir als Staat und Gesellschaft in einer globalisierten Welt wieder mehr soziale und politische Stabilität, so müssen wir erkennen, verstehen und akzeptieren, dass unsere Demokratie nicht nur von der diskursiven Willensbildung, sondern auch von der zeitnahen Entscheidungsfindung leben.

Eine Option zur Erreichung dieses Ziels könnte die Einführung eines Mehrheitswahlrechtes sein, wie es derzeit in Großbritannien, in den USA und in Frankreich praktiziert wird und wie es auch im Deutschland vor 1918 praktiziert wurde. Das wahlkreisbasierte Mehrheitswahlrecht erleichtert die parlamentarische Mehrheitsbildung und damit auch die Entscheidungsfindung. Außerdem zwingt es die mit der Stimmenmehrheit in ihrem Wahlkreisen gewählten Abgeordneten zur Bürgernähe. 

Doch das allein würde die Handlungs- und Funktionsfähigkeit unsere demokratischen und sozialen Bundesstaates nicht erhöhen, wenn wir die handlungshemmende Verschränkung von Bundestag und Bundesrat. Der erste deutsche Bundeskanzler Konrad Adenauer (1876-1967) hat als Präsident des Parlamentarischen Rates (1948/49) dies bereits vorausgesehen. Deshalb plädierte er mit anderen Mitgliedern des Parlamentarischen Rates, die sich jedoch am Ende nicht durchsetzen konnten, den Bundesrat nicht als Parlamentskammer der in der Regel koalitionsbasierten Landesregierungen, sondern vergleichbar dem US-Senat, zu einer von den Bürgerinnen und Bürgern direkt gewählten Ländervertretung zu machen. Dies würde die parlamentarische Entscheidungsfindung konstruktiv erleichtern und beschleunigen, zumal dann, wenn man den deutschen Föderalismus noch einmal eine Aufgaben- und Strukturkritik unterziehen würde, mit dem Ziel zu definieren, für welche Aufgaben es Sinn macht, die alleinige politische Verantwortung den Ländern oder dem Bund zuzuweisen und in welchen Aufgabenfeldern eine gemeinsame Gesetzgebungskompetenz von Bund und Ländern, die naturgemäß im die Gefahr eines Entscheidungen blockierenden Interessenkonfliktes unausweichlich ist.

Angesichts der aktuell 299 Bundestagswahlkreise zeigt sich, dass die Einführung eines Mehrheitswahlrechtes problemlos eine Zahl der Mandate mit sich bringen würde, weil Listen,- Überhang- und Ausgleichsmandate im vergleichsweise einfachen und damit transparenten Mehrheitswahlrecht entfallen würde. Im Sinne der Bürgernähe könnte man die Wahlkreise sogar verkleinern und ihre Zahl damit erhöhen und damit trotzdem einen erheblich schlankeren und damit auch für die SteuerzahlerInnen preiswerteren Bundestag schaffen.


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Freitag, 26. Januar 2024

NEUE GEWALT GEGEN FRAUEN

Neue Gewalt gegen Frauen? In einer Gesellschaft, die die Gleichberechtigung der Geschlechter seit 75 Jahren in ihrer Verfassung stehen hat und mehrheitlich aus Frauen besteht, sollte kein Problem mit Gewalt gegen Frauen haben. Dieser Eindruck drängt sich vor allem angesichts zahlreicher Spitzenpolitikerinnen und beruflich erfolgreicher Frauen auf.

Doch der Eindruck täuscht. Die Journalistin Dr. Susanne Kaiser, Autorin der Bücher "Neue Gewalt gegen Frauen" und: "Politische Männlichkeit" macht bei einer Fachtagung zum Thema deutlich, "dass gerade erfolgreiche und sichtbare Frauen auch ein hohes Risiko haben, Opfer von häuslicher Gewalt zu werden."
Sie nennt Zahlen aus der polizeilichen Kriminalstatistik. Danach ist die Zahl der Gewalttaten gegen Frauen in den vergangenen beiden Jahren zehn Prozent angestiegen, während die Zahl der Frauen, die durch ihre Männer zu Tode gekommen sind von 120 auf 133 angestiegen sei.

Wie kann das sein? Die Ursache erkennt Kaiser in einem sozialen Zwiespalt zwischen gesellschaftlichem Anspruch und gesellschaftlicher Wirklichkeit. Aus Gesprächen mit eiblichen Opfern männlicher Gewalt weiß sie, das Frauen in vermeintlich liberalen Akademikerehen von ihren Männern, trotz ihrer eigenen Berufstätigkeit, mit der klassischen Rollenerwartung konfrontiert werden, ihnen durch die Übernahme der Familien- und Erziehungsarbeit den Rücken freizuhalten. Diese Paradoxie führe in der Realität zu Frustration und im nächsten Schritt zu männlicher Gewalt.

Die Tatsache, dass sich zum Beispiel im Rechtspopulismus und im konservativen Islam Widerstand gegen die Emanziptationsfortschritte der vergangenen Jahrzehnte regt, sieht Kaiser "als ein Zeichen dafür, dass wir mit der Emanzipation auf dem richtigen Weg sind und weiter vorangehen müssen." Die wird Frauen nach Kaisers Einschätzung aber nur mit männlichen Verbündeten gelingen.
Eine emanzipierte Gesellschaft ist für Kaiser "auch im Interesse der Männer, die noch viel häufiger als Frauen von männlicher und struktureller Gewalt in einer neoliberalen kapitalistischen Gesellschaft betroffen sind, die sie krank macht."
Männern und Frauen rät Kaiser gleichermaßen, "sich nicht ins unbezahlte Ehrenamt abdrängen zu lassen, um dort gesellschaftlich wichtige Arbeit zu leisten, die politisch und strukturell unterstützt und deshalb auch bezahlt werden müsse."

Junge Schule

 Schülerinnen und Schüler machen Schule. Das nahm die Schülervertretung an der Willy-Brandt-Schule in Styrum an einem von ihr organisierten ...