Donnerstag, 5. September 2024

"Wozu sind denn Kriege da?"

 "Wozu sind die Kriege da?"Udo Lindenberg schrieb und sang dieses Lied 1981 auf dem Höhepunkt der Atomraketenrüstung des Kalten Krieges. Dieses, nicht nur angesichts des Russland-Ukraine-Krieges leider immer noch aktueller denn je. Das zeigte sich auch am Antikriegstag, zu dem der Deutsche Gewerkschaftsbund seit 1957, so auch jetzt ins Luisental einlud, und damit diesmal besonders großen Anfang fand, auch deshalb, weil die 32 Schülerinnen und Schüler der Musical-Klasse 7d von der Gesamtschule Saarn Lindenbergs Friedenslied vor dem 1956 vom Bildhauer Josef Rübsam geschaffenen Mahnmal für die NS- und Kriegsopfer bewegend interpretierten. 

"Das ist für uns eine wichtige Botschaft, die wir in die Köpfe der Menschen hineinbekommen wollen, wie wichtig und zerbrechlich der Frieden ist. Deshalb wollen wir uns als Schule öffnen und auch bei dieser Veranstaltung, bei der viele Menschen sind, weitergeben, weil das viel stärkere Wirksamkeit hat, als wenn wir dieses Lied nur in der Schule singen würde", erklärt Musiklehrer Sebastian klein, warum die Musical-Kinder der Gesamtschule auch diesmal wieder bei der Friedenskundgebung zum 1. September sicht- und hörbar motiviert mit von der Partie waren.

"Der Antikriegstag erinnert uns daran, dass wir alle dazu aufgefordert sind, unseren Beitrag zum Frieden auf dieser Welt zu leisten", betonte die stellvertretende Bezirksvorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes, Katrin Schledorn.

Oberbürgermeister Marc Buchholz erinnerte in seiner Ansprache als daran, dass der Antikriegstag als Friedenstag bewusst am Jahrestag des deutschen Überfalls auf Polen begangen wird, mit dem 1939 der Zweite Weltkrieg begann und allein in Mülheim fast 8000 Menschenleben forderte. "Indem wir uns heute nicht nur vor allen Kriegsopfern verneigen, erinnern wir uns auch an unsere eigene und nicht immer leichte Aufgabe, mit einer Diplomatie im Kleinen, auch bei uns in Mülheim für den Frieden einzusetzen und mit den Worten der Dichterin Marie Ebner von Eschenbach zu verstehen: 'Frieden kannst du nur bekommen, wenn du ihn gibst."

Samstag, 31. August 2024

Warum immer wieder dienstags?

 In Deutschland wählen wir sonntags, an dem Tag, an dem Gott, der biblischen Überlieferung zufolge, an dem Gott sich von seinem Schöpfungswerk ausruhte und an dem auch wir eine schöpferische Pause einlegen dürfen, nicht nur um zu wählen. 

Übrigens. Merken Sie sich schon mal den Sonntag, 28. September 2025, vor. Dann steht die Bundestagswahl und damit voraussichtlich auch die Kommunalwahl in unserem Kalender. Nicht nur in Thüringen, Sachsen und Brandenburg wird, immer wieder sonntags, gewählt, sondern auch in den USA, aber nicht an einem Sonntag, sondern an einem Dienstag, dem ersten Dienstag im November.

Wenn es nach den Deutschen ginge, wäre die 60. Präsidentschaftswahl schon zugunsten der Demokratin Kamala Harris entschieden, die damit als erste Präsidentin der USA und als 47. Präsident der USA ins Weiße Haus einziehen könnte, nachdem die erste Präsidentschaftskandidatin der US-Geschichte 2016 gegen den späteren US-Präsidenten Trump verloren hatte

Der jüngste Deutschlandtrend der ARD zeigt: 77% der Befragten würden das demokratische Ticket Harris/Walzt wählen und nur 10% das republikanische Ticket Trump/Vance 

Aber wir Deutschen dürfen in den USA natürlich nicht mitwählen, obwohl uns das Wahlergebnis in jedem Fall unmittelbar beeinflussen wird. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass sowohl Trump als auch Walz deutsche Vorfahren haben, die aus der Pflaz und aus Baden in die USA eingewandert sind.

Immerhin einem Viertel der Amerikaner geht es so, wie Trump und Walz. Sie haben deutsche Vorfahren.

Während die Wahl von Kamala Harris ein historisches Novum wäre. Sie ist nicht nur eine Frau, sondern hat auch indische und jamaikanische Wurzeln, würde für den erneuten Einzug des 2020 abgewählten Präsidenten Trump ins Weiße Haus gelten müssen: Alles schon mal da gewesen. Denn der Demokrat Grover Cleveland wurde 1884 zum 22. und 1892 zum 24. Präsident der USA gewählt. Der vormalige Bürgermeister von Buffalo und Gouverneur von New York war auch der erste Junggeselle, der ins Weiße Haus einzog und sich dort 1886 traute seine First Lady NN zu heiraten.

Wie Trump 2016, wurde auch Cleveland, der in den USA die progressive Einkommenssteuer einführte, an einem ersten Dienstag im November in sein Amt gewählt. Warum nicht an einem Sonntag?

Die Kongressabgeordneten und US-Senatoren entschieden sich 1845 für eine Dienstagswahl, die sie 1872 und 1915 auch auf das Repräsentantenhaus und auf den Senat übertrugen, weil für sie der Sonntag als Tag des Herrn nicht für einen politischen Wahlakt eigne. Auch den Samstag und den Donnerstag schlossen sie als Markttag und als traditionellen Wahltag der ehemaligen britischen Koilonialtag kategorisch aus. Der Freitag galt ihnen als Vorbereitungstag für den Markttag am Samstag. Und der Montag wurde von ihnen als notwendiger Anreisetag der Wähler angesehen, so dass für sie nur der Dienstag als Wahltag in Frage kam.

Einen Anreisetag brauchten, die frühen Präsidentschaftswähler, weil sie nach der Einführung des allgemeinen und freien Männerwahlrechtes, im Jahre 1830, nur in den Bezirkshauptstädten der USA wählen und deshalb zu Fuß oder per Kutsche anreisen mussten. Das galt auch für die von ihnen gewählten Wahlmänner, die im Wahlmännerkollegium als Repräsentanten der Bundesstaaten, die eigentliche Präsidentschaftswahl im Kongress zu Washington vollzogen.

Dieses für uns Europäer ungewöhnliche indirekte Mehrheitswahlrecht kann im Extremfall dazu führen, zuletzt bei der Präsidentschaftswahl 2016, dass auch ein Kandidat zum Präsidenten gewählt wird, der in der Urwahl weniger Stimmen als sein Kontrahent, aber die Mehrheit im Wahlmännerkollegium gewonnen hat. Denn bei den US-Präsidentschaftswahlen, an denen seit 1865 auch schwarze Männer und seit 1920 auch Frauen teilnehmen können, gilt in allen Bundesstaaten: "The Winner takes it all!" ("Der Sieger bekommt alles!") Wer in einem Bundesstaat im Zweifel auch nur eine knappe Mehrheit der Stimmen gewinnt, bekommt alle Wahlmännerstimmen des jeweiligen Bundesstaaten.

Wahlentscheidend ist dabei der Ausgang in den sogenannten Swing States, die mal mehrheitlich für einen demokratischen oder für einen republikanischen Kandidaten stimmen. Als Swing States gelten zurzeit: Michigan, Ohio, Florida, Pennsylvania, South und North Carolina, Minnesota, Wissconssin, Arizona, Georgia, Nevada und New Mexico. Diese Wechselwählerstaaten stellen aktuell, gemessen an ihrer Bevölkerung, 130 der aktuell 538 Wählmänner und Wahlfrauen.

Sollte tatsächlich mit der ersten Vizepräsidentin der USA, Kamala Harris, am 20. Januar 2025 erstmals eine US-Präsidentin ins Weiße Haus einziehen, würde ihr Ehemann, der Rechtsanwalt, Douglas Emhoff, der erste First Gentleman der USA. Und des würde sich die Prognose des republikanischen US-Präsidenten Gerald Ford bewahrheiten. Er hatte während seiner Amtszeit (1974-1977) die entsprechende Frage einer Schülerin dahingehend beantwortete, dass die erste Frau, die als US-Präsidentin ins Weiße Haus einziehen werde, eine ehemalige Vizepräsidentin sein werde, deren Präsident gestorben oder aus gesundheitlichen Gründen auf eine Wiederwahl verzichtet habe.



Freitag, 30. August 2024

Kommunalpolitik trifft Kunst

 Auch während der Sommerferien haben sich Ratsfraktionen auf ihren Mülheim-Touren ein Bild von unserer Stadt gemacht, so auch die CDU-Fraktion die ich begleiten durfte.


Wohltemperiert ging es an einem heißen Sommertag zum Beispiel in das nach sechs Jahren Umbau im Mai 2024 wiedereröffnete Kunstmuseum Alte Post. Dessen Direktorin Dr. Stefanie Kreuzer stellte das breite Angebot des städtischen Kunstmuseums vor, das 1200 Exponate in seinen Ausstellungsräumen und Magazinen hütet und ausstellt. Zu diesen Exponaten gehören auch 35 von Mülheimer Künstlern geschaffene Werke.

Starke Stifter für die Kunst


Beim Rundgang stellte sie nicht nur Werke der klassischen Moderne aus der Sammlung Ziegler, sondern auch Zille-Zeichnungen aus der Sammlung Themel und die jüngste Neuanschaffung des Förderkreises Kunstmuseum Alte Post vor. Dabei handelte es sich um ein 2023 entstandenes Werk der Malerin, Shannon Bool, mit dem sie, unter dem Titel "33 Säulen", die Architektur Mies van der Rohes aus weiblicher Sicht ins Bild setzt und kommentiert.

Angesichts der unter anderem mit Joseph-Beuys-Werken bestückten Ausstellung "Demokratie ist lustig", diskutierten Gastgeberin und Gäste darüber, was Kunst gesellschaftlich bewirken kann und wie politisch sie sein kann und sein muss. Auch der Blick auf das beeindruckende Triptychon "Die geistige Emigration" zeigte die politische Dimension der Kunst am Beispiel der nationalsozialistischen Judenverfolgung, die nicht nur jüdische Intellektuelle, wie sie der aus Mülheim stammende jüdische Maler Arthur Kaufmann auf seinem Triptychon zwischen 1939 und 1964 portraitiert hat, zur Flucht aus ihrer Heimat zwang.

Dialog mit Zille


Mit Blick auf die themen- und zielgruppenorientierten Ausstellungen, Führungen, Workshops, Lesungen und Diskussionsveranstaltungen des städtischen Kunstmuseums, brachte die Kunsthistorikerin Stefanie Kreuzer ihre Überzeugung zum Ausdruck, dass Kunst gemeinschafts- sinn- und identitätsstiftend wirken könne. In diesem Sinne will sie auch Künstler von heute dazu einladen, Arbeiten zu schaffen, die einen inhaltlichen Dialog mit den sozialkritischen und zeitlos aktuellen Milieustudien Heinrich Zilles aufnehmen sollen.

Samstag, 17. August 2024

Erste Wahl

 Vor 75 Jahren sind 102.000 Mülheimerinnen und Mülheimer zur Wahl des ersten Deutschen Bundestages aufgerufen. Sechs Kandidaten stehen auf ihrem Wahlzettel, sechs Männer, keine Frau. Am Ende des ersten Bundestagswahltages haben 77 Prozent der Wahlberechtigten von ihrem Wahlrecht Gebrauch gemacht.

Und sie haben gegen den Bundestrend gewählt. Denn in Mülheim liegt die CDU Konrad Adenauers nicht knapp vor der SPD, sondern genau umgekehrt. Mit 34,9 Prozent der Stimmen wird der Sozialdemokrat Otto Striebeck. Der Christdemokrat Heinz Langner landet mit 28,2 Prozent der Stimmen auf Platz 2, gefolgt vom Liberalen Wilhelm Dörnhaus, für den sich 13,1 Prozent der Wahlberechtigten entscheiden. Aber auch der Kommunist Friedrich Müllerstein, dessen Partei 1956 vom Bundesverfassungsgericht vcrboten wird, kann bei der ersten Bundestagswahl noch 10,1 Prozent der Stimmen erreichen. Und 7,1 Prozent der Wählerinnen und Wähler entscheiden sich für den Bewerber der Deutschen Konservativen Partei, Wolfgang Kujath.

Anders, als heute, wählen die Menschen in Mülheim nur ein westdeutsches Teilparlament. Eine Zweitstimme ist damals ebenso noch Zukunftsmusik, wie die Möglichkeit der Briefwahl. Nicht nur die KPD, sondern auch das katholische Zeentrum und die Radikalsoziale Freiheitsunion, die bei der ersten Bundestagswahl noch auf dem Wahlzettel stehen und einige 1000 Stimmen auf sich vereinigen können, werden schon in wenigen Jahren aus dem politischen Spektrum der Bonner Republik verschwinden. Am Ende bleibt ein Dreiüarteiensystem aus Christ- Sozial- und Freidemokraten für Jahrzehnte politisch bestimmend, ehe ab 1980 die Grünen auf den Plan treten.

Westbindung contra Deutsche Einheit und Marktwirtschaft contra Sozilaisierung und Planwirtschaft. Das sind die für den ersten Bundestagswahlkampf bestimmenden Themen und Konfliktlinien.

Nach der Wahl vom 14. August zieht der Mülheimer Otto Striebeck (1894-1972) als einer von 402 Abgeordneten in den ersten Deutschen Bundestag ein. Der Bergmann, der sich zum Redakteur weitergebildet hat, sitzt für die SPD im Stadtrat und leitet bis zu seinem Einzug ins Parlament die Lokalredaktion der 1946 von seinem Parteifreund Dietrich Oppenberg gegründete Neuen Ruhr Zeitung. Striebeck, der unter den Nationalsozialisten im Gefängnis gesessen hat, wird dem Deutschen Bundestag, mit kurzen Unterbrechungen, bis 1965 angehören.


Mülheimer Geschichtsverein

Freitag, 16. August 2024

Denk ich an Kortum

Denk ich an Kortum, denke ich an den Jobs. Der Jobs, der uns seit 2006 wieder vom Kortumbrunnen an der Petrikirche grüßt, ist als literarischer Antiheld des 1745 in Mülheim geborenen und 1824 in Bochum gestorbenen Dichters und Arztes Karl Arnold Kortum zeitlos aktuell. Er steht als Sinnbild für Schein und Sein, für Anspruch und Wirklichkeit, für all das, was uns als unzulängliche Menschen manchmal tragisch und komisch werden lässt.

Kortum hat sein 1783 verfasstes Knittelgedicht über die Taten und Meinungen das Kandidaten Jobs als ein grotesk komisches Heldengedicht bezeichnet, dass er zum reinen Zeitvertreib für sich und seine Leser geschrieben habe. Tiefstapelei! Denn sein tragikomisches Sittengeschichte rund um den trinkfesten und arbeitsscheuen Theologiestudenten, der am Ende nicht Pfarrer, sondern Nachtwächter wird, hat nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen europäischen Ländern und in der Nordamerika ein vergnügtes Lesepublikum gefunden. Die Jobsiade, die 1872 auch von Wilhelm Busch nachgeahmt wurde, weist den Arzt, Dichter und Gelehrten Kortum als ein Kind der Aufklärung aus. 

Mit seinem seinem lehrreichen Humor versuchte er, frei nach Kant, einen Beitrag zur Ermutigung seiner Mitmenschen zu leisten, sich ihres eigenen Verstandes zu bedienen und damit jede Scheinheiligkeit und jede Doppelmoral ihrer Mitmenschen entlarven zu können. Doch weil der Mülheimer Apothekerssohn Kortum auch ein Zeitgenosse der Restauration war, erschien seine satirische Jobsiate zeitlebens nur unter seinem Kürzel D.C.A.K. Erst ab 1854 erschien die Geschichte des Hieronymus Jobs unter seinem Namen. 

Carl Arnold Kortum Sohn des Apothekers Christian Friedrich Kortum und seiner Frau Helena Künzel war selbst ein erfolgreicher Akademiker. Nach dem Abitur in Dortmund und dem medizinischen Examen in Duisburg praktizierte er bis 1770 in seinem Elternhaus an der Kettwiger Straße, ehe er seiner Frau Margarete nach Bochum folgte. Hier war er auch als Bergarzt Teil des gesellschaftlichen Establishments. Das zeigte sich 1816 an der Verleihung der Ehrendoktorwürde der Universität Duisburg und am königlichen Ehrentitel eines Hofrates. Als solcher fand Kortum nach seinem Tod am 15 August 1824 auf dem Bochumer Friedhof an der Wittener Straße seine letzte Ruhe. Sein Grab ist dort als Teil des Kortumparks bis heute erhalten.

Wer Kortums Jobsiade und seine Biografie noch einmal nachlesen möchte, dem sei die 2007 von den Altstadtfreunden herausgegebene, von Heinz Hohensee eingeleitete und von Klaus Wichmann illustrierte Neuauflage aus dem Essener Klartextverlag zur Lektüre empfohlen. 

Freitag, 9. August 2024

Ins Werk gesetzt

Helmut Schauenburg arbeitet an der Restauration eines alten Hallenfensters. Schon vor 70 Jahren hat er hier in der Alten Dreherei des Eisenbahnausbesserungswerkes Speldorf gearbeitet. Damals war er 14 und hatte gerade mit seiner Schlosserlehre begonnen. "Mir hat die Arbeit Freude gemacht und ich bin immer gut zurecht gekommen", sagt Schauenburg.

Er ist kein Mann der großen Worte. Er ist ein Mann der Tat. Auch mit 84 kommt er, immer wieder dienstags, mit seinem Rollator in die Alte Werkshalle, die als Alte Dreherei inzwischen mehreren Vereinen als Quartier dient.

"Wir werden immer wieder gefragt, was war hier früher. Und deshalb habe ich es aufgeschrieben", erklärt der Vorsitzende des Trägervereins der Alten Dreherei, Martin Menke. "150 Jahre Eisenbahnausbesserungswerk Speldorf" lautet der Titel seines 150 Seiten starken Fakten- und Bild-reichen Buches, das jetzt bei Suton erschienen und für 29,99 € im Buchhandel erhältlich ist. 150 Jahre Eisenbahn Ausbesserungswerk Speldorf. Dieser Titel macht für Menke Sinn, obwohl das Eisenbahnausbesserungswerk Speldorf 1959 stillgelegt wurde. "Hier haben damals mehr 2000 Menschen gearbeitet. Das Werk war bis zum Schluss hoch rentabel.  Es wurde aber der Zonenrandförderung und dem Erhalt des Eisenbahnausbesserungswerkes Braunschweig geopfert, weil man damals der Meinung war, dass es im Ruhrgebiet genug andere Arbeitsplätze gäbe. Tatsächlich haben nach der Schließung alle Mitarbeiter des Eisenbahnausbesserungswerkes einen anderen Job in der Industrie gefunden", weiß Autor Menke aus seinem Recherchen zu berichten.

Heute legen Menke und seine Mitstreiter ehrenamtlich Hand an, um die Alte Dreherei als Veranstaltungs- und Werkraum in neuem Glanz erstrahlen zu lassen. Die Hühner- und Kaninchenzüchter sind hier heute ebenso zu Hause, wie die Eisenbahnfreunde und die Opel-Kadett-Fans. Ein Opel Kadett, mit dem die Speldorfer Schokoladenfabrik Wissoll 1950 ihre süße Fracht auslieferte, zeigt hier ebenso die Richtung an, in die es geht, wie ein Straßenbahnwagen aus dem Baujahr 1927. Hier hat man offensichtlich keine Angst vor Handwerklicher Arbeit und krempelt, immer wieder dienstags und samstags, gemeinsam die Ärmel hoch.

"Solche und ähnliche Gebäude aus unserer Industriegeschichte sollte man schon deshalb erhalten, weil hier Gemeinschaft entsteht, die es so in Hochhäusern nicht geben kann", findet Helmut Schauenburg.

Mittwoch, 7. August 2024

Ein echter Kumpel

Gefühlt ist er Mülheims letzter Bergmann. Jetzt hat Willi Bruckhoff seinen 90 Geburtstag gefeiert. Seine Nachbarn nennen ihn den Bürgermeister von Winkhausen. Nicht nur an sich, sondern auch an seine Nachbarn und Kollegen zu denken, das ist die charakterliche DNA des ehemaligen Bergmanns.

Wie sein Vater und Großvater war auch Willi Bruckhoff ein engagierter Gewerkschafter und Sozialdemokrat. "Wenn ich nicht sofort in die Industriegewerkschaft Bergbau eingetreten wäre hätte, ich gar nicht nach Hause kommen dürfen", erinnert sich der 90-Jährige an seinen ersten Arbeitstag auf der Heißener Zeche Rosenblumendelle. Das war im Frühjahr 1948. Damals hatte Willi Bruckhoff gerade die Volksschule abgeschlossen und war 13 Jahre alt. 

Seinen ersten Lohn bekam der Berglehrling noch in Richsmark ausgezahlt. "Außerdem bekamen wir als Schwerstarbeiter auch eine Sonderration an Butterbroten und Bonbons", erzählt Bruckhoff. Als Gewerkschafter, über mehr als 30 Jahre stand er der Mülheimer Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie und Energie vor, hat er mit und für seine Kollegen nicht nur Lohnerhöhungen, sondern auch mehr Arbeitssicherheit, mehr betriebliche Mitbestimmung und eine Verringerung der Wochenarbeitszeit, die anfangs bei 48 Stunden lag, erkämpfen können. Und darauf ist er auch heute noch stolz. Bei der Arbeit und im Arbeitskampf galt für ihn stets die Devise: "Einer für alle und alle für einen!"

Nicht nur auf Rosenblumendelle, sondern auch auf Kronprinz und Hagenbeck war Bruckhoff als Bergmann eingesetzt. "Die steilen Kohlenlagen und niedrigen Flöze auf Rosenblumendelle waren für uns Bergleute besonders schwierig", erinnert er sich an die letzte Zeche Mülheims, die nach der letzten Schicht am 29 Juli 1966 stillgelegt wurde und Mülheim damit zur ersten bergbaufreien Stadt des Ruhrgebietes machte. 

Für Bruckhoff ging sein Berufsleben noch bis 1984 weiter, ehe er nach der Stilllegung der Essener Zeche Zollverein, die heute als Designer- und Kulturzentrum genutzt wird, in den Vorruhestand geschickt wurde. 

Nicht nur als Gewerkschafter, sondern auch als Bezirksvertreter hat sich der Kumpel aus Winkhausen für seine Nachbarn und Kollegen stark gemacht. Ein Kumpel zu sein, das war, ist und bleibt sein Lebensprogramm, auch in einer zunehmend von Individualisierung und Egoismus geprägten Gesellschaft.

Besonders bedauert der ehemalige Bergmann, dass die Zahl der Gaststätten in den letzten 40 Jahren rapide zurückgegangen ist und damit auch die Zahl der Orte an denen Menschen zwanglos zusammenkommen und Geselligkeit erleben können, um sich auszutauschen. Dass diese Form von Gemeinschaft und Kommunikation heute an vielen Ecken und Enden fehlt, macht er mitverantwortlich für so manche sozialen Fehlentwicklungen. 

Sonntag, 28. Juli 2024

Was uns der 20. Juli zu sagen hat

Gegenwart ist die Fortsetzung der Geschichte. Im deutschen Fall ist es eine über weite Strecken eine tragische und dunkle Geschichte, die zum Beispiel anhand der NS- und der SED-Diktatur zeigt, wohin politischer Extremismus und der damit verbundene absolute Machtanspruch einer Partei und ihrer Ideologie führen kann. Bei einer Ausstellungseröffnung im Haus der Stadtgeschichte hat Dr. Axel Smend darauf hingewiesen, dass nicht nur eine Diktatur, sondern auch eine Demokratie "wiederständisches Denken und Handeln" braucht, wenn es darum geht ihren Kern, die Bewahrung der Menschenwürde, siehe Artikel 1 des Grundgesetzes, zu bewahren. Was der Jurist Axel Smend meint, ist der Unterschied zwischen Legalität und Legitimität.

Nur weil eine bestimmte Ideologie und ihr daraus resultierendes Handeln und Denken vielleicht gesellschaftsfähig und politisch mehrheitsfähig und am Ende sogar legal zur Rechtsnorm erhoben wird, muss sie noch lange nicht legitim sein. Auch wenn die NS- und die SED-Diktatur nicht 1:1 miteinander zu vergleichen sind, so haben sie doch gemein, dass sie den Widerstand von Menschen hervorgebracht haben, die gegen jeden Mainstream der Inneren Stimme ihres Gewissens gefolgt sind.

Zu diesen Menschen gehörte auch Axel Smends Vater Günther Smend. Er wurde als Generalstabsoffizier des Heeres zum Mitglied und Mitwissers des Militärischen Wiederstandes um den Grafen von Stauffenberg, dessen Leben aktuell im Haus der Stadtgeschichte dargestellt wird. Der 1912 geborene und zwischen 1924 und 1932 in Mülheim aufgewachsene Generalstabsoffizier, wurde nach dem gescheiterten Hitler-Attentat verhaftet, verurteilt und hingerichtet, weil er im Angesicht der NS-Verbrechen versucht hatte, seinen Vorgesetzten, den Generalstabschef Kurt von Zeitzler, für eine Unterstützung des Umsturzes zu gewinnen.

Noch zehn Jahre nach dem gescheiterten Attentat auf Adolf Hitler wurde Axel Smend 1954 von seinem Schuldirektor als "Sohn eines Verräters" bezeichnet. Tatsächlich haben Günther Smend und andere Menschen, die, wie zum Beispiel die von den Nationalsozialisten ermordeten Stadtverordneten Fritz Terres, Otto Gaudig und Wilhelm Müller mit ihrem vergeblichen, aber deshalb nicht weniger mutigen und ethisch richtigen Widerstand gegen die menschenverachtende NS-Ideologie ein bis heute wirksames Beispiel gegeben, an das die deutsche Nachkriegsgesellschaft zum Beispiel mit ihrem 1949 in Kraft getretenen Grundgesetz anknüpfen konnte, in dem stärkenden Bewusstsein, dass nicht alle Deutsche zwischen 1933 und 1945 Mitläufer, Gefolgsleute und Handlanger der NS-Diktatur und ihrer Verbrechen war.

Der ebenfalls zum Militärischen Widerstand gehörende Generalmajor Henning von Tresckow hat dies schon im Juli 1944 erkannt, als er in einem Brief an den Grafen von Stauffenberg schrieb:

"Das Attentat muss erfolgen. Koste es, was es wolle. Sollte es nicht gelingen, so muss trotzdem in Berlin gehandelt werden. Denn es kommt nicht mehr auf den praktischen Zweck an, sondern darauf, dass die deutsche Widerstandsbewegung vor der Welt und vor der Geschichte unter Einsatz des Lebens den entscheidenden Wurf gewagt hat. Alles andere ist daneben gleichgültig.

In seinem Sinne sagt Axel Smend heute zurecht, "dass wir dem 20. Juli 1944 ebenso positiv gedenken können, wie dem Volksaufstand in der DDR am 17. Juni 1953 oder dem Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989."


Zum Stadtarchiv

Mittwoch, 10. Juli 2024

Lebendige Demokratie

 Unser Grundgesetz wird 75. Das war Anlass für eine Demokratiekonferenz. Eingeladen hatten die Katholische Akademie und das Centrum für bürgerschaftliches Engagement (CBE). 130 interessierte Menschen kamen zum Mitdenken und Mitreden in die Wolfsburg. 

"Wir sind als Demokratinnen und Demokraten viele und wir sind mächtig. Aber wir müssen mit unserem Engagement sichtbarer werden", sagte Johannes Karl. Der Mann vom Verein Artikel leitete einen Workshop mit dem vielsagenden Titel: "Das Grundgesetz, ein unbekanntes Buch!"

So unbekannt ist das Grundgesetz dann doch nicht, zumindest bei denen, die sich in den 15 Initiativen und Institutionen vor Ort für unsere Demokratie engagieren und an ihren Infoständen hinter der Akademie zum Gespräch einluden.

Stadtdirektor David Lüngen zeigte sich beeindruckt von der Vielfalt des Engagements, etwa am Stand des Jugendstadtrates oder am Stand der Astrid-Lindgren-Grundschule, die ihr Kinderparlament vorstellte. Einig war sich Lüngen mit Rektorin Katrin Grollmann, "dass Kinder schon früh in die Demokratie hineinwachsen müssen, indem sie merken, dass ihre Stimme gehört wird und das sie ihre Umwelt mitgestalten können.

Viel gewonnen wäre aus Lüngens Sicht, wenn Bund, Länder und Kommunen einen finanziell faire Lastenverteilung hinbekämen, "damit wir vor Ort auch noch etwas entscheiden und erleben können, dass Konrad Adenauer Recht hatte, als er sagte: 'Die Kommunalpolitik ist die beste Schule der Demokratie.'"

Manfred Zabelberg von der Mülheimer Zeitzeugenbörse und Andrea Stern vom Projekt "Schule ohne Rassismus - Schule mit Courage" sind sich einig, dass Schule Kindern und Jugendlichen mehr projekt- und praxisbezogene Demokratiebildung anbieten muss, zum Beispiel in Form von Projekttagen und Zeitzeugengesprächen.

Viel beachtet war bei der Demokratiekonferenz auch Annika Lante vom Evangelischen Kirchenkreis An der Ruhr. Denn sie präsentierte auf Bierdeckeln kompakte Argumente gegen menschenfeindliche Stammtischparolen und Vorurteile.


Zum CBE



Montag, 8. Juli 2024

Nachrüstung 2.0

 Sicherheitspolitik bleibt in der Katholischen Akademie Die Wolfsburg ein Thema. Nach dem Sicherheitspolitischen Berater Christian Mölling war hier jetzt der Generalinspekteur der Bundeswehr, Carsten Breuer, zu Gast. Der Jahresempfang des Ruhrbischofs Franz-Josef Overbeck macht es möglich. Im Podiumsgespräch mit Overbeck, der auch deutscher Militärbischof ist, betonte Breuer: "Kriege können nicht militärisch, sondern nur politisch gelöst werden. 

Eine dauerhafte Friedensordnung muss das Ziel sein." Dem schloss sich auch Bischof Overbeck an: "Frieden bleibt für uns Christen ein Ziel erster Ordnung. Aber es gibt auch keine Alternative zur Verteidigung unserer Freiheit", sagte Overbeck mit Blick auf den russischen Angriffskrieg in der Ukraine. Breuer machte deutlich, dass die Nato angesichts der stark voranschreitenden Aufrüstung Russlands zu einer Nachrüstung gezwungen sei. Nur mit einer glaubwürdigen militärischen Abschreckung könne man einen russischen Angriff auf die Nato dauerhaft verhindern und den notwendigen Verhandlungsspielraum für einen "fairen Frieden in der Ukraine" schaffen. Deshalb sieht Breuer die ukrainische Selbstverteidigung gegen den russischen Luftangriff als "aktuell größte Friedensbewegung Europas."

Der oberste der aktuell 180.000 Soldaten will die Truppenstäke unserer Armee, mittelfristig auf 203.000 und langfristig auf 450.000 Mann steigern. Deshalb begrüßt er den Plan des Bundesverteidigungsministers, Boris Pistorius, mithilfe einer Jahrgangsbefragung zusätzliche Soldaten zu rekrutieren. "Das gesellschaftliche Ansehen der Bundeswehr ist in den vergangenen zehn Jahren wieder gestiegen. Und es gibt genug Männer, die bereit sind, unsere Demokratie zu verteidigen. Auch unsere Nato-Partner erkennen unsere neuen militärischen Bemühung an."


Die Wolfsburg

Samstag, 6. Juli 2024

Partnerstädte hatten die Wahl

Wie im Landestrend, hat auch in Mülheims nordenglischer Partnerstadt Darlington die Kandidatin der Labour Party bei der Unterhaus-Wahl am 4. Juli das Parlamentsmandat gewonnen. Lola McEvoy (Labour) erhielt nach Angaben der Regionalzeitung Northern Echo 16.621 Stimmen. Ihr konservativer Vorgänger, Peter Gibson, landete mit 14.323 auf Platz 2. Michael Walker konnte auf Platz 3 für die rechte Reform-UK-Party 6852 Stimmen. Der Kandidat der Grünen, Mathew Snedker, erhielt 2847 Stimmen, während sich 1735 Wählerinnen und Wähler für den Liberaldemokraten Simon Thorley entschieden.

Gibson war 2019 für Darlington ins Parlament eingezogen und hatte vor fünf Jahren die damalige Labour-Abgeordnete Jenny Chapmann abgelöst. Nach ihrer Wahl nannte Darlingtons neue Labour-Abgeordnete die Stärkung des Öffentlichen Dienstes, die Förderung von Kindern und den ökologischen Umbau der britischen Wirtschaft als ihre wichtigsten politischen Ziele.

Anders, als wir, haben unsere europäischen Mitbürgerinnen und Mitbürger aus Großbritannien bei Parlamentswahlen nur eine Wahlkreisstimme. Wer ins Unterhaus einziehen will, muss in seinem Wahlkreis die einfache Mehrheit der Stimmen erringen. Es gilt das Prinzip "The winner takes it all!"! Wie der Name es sagt, fördert das Mehrheitswahlrecht die Bildung parlamentarischer Mehrheiten. Anders, als bei uns, sind Koalitionsregierungen in Großbritannien nicht die Regel, sondern die Ausnahme. Andererseits fallen durch das Mehrheitswahlrecht die Stimmen der im Wahlkreis unterlegenen Kandidatinnen und Kandidaten unter den Tisch.

Insofern ist unser seit 75 Jahren praktiziertes modifiziertes Wahlrecht mit seinen zwei Stimmen, die Mehrheits- und Verhältniswahlrecht miteinander verbinden weniger mehrheitsbildend, dafür aber repräsentativer und demokratischer.

Während des Kaiserreiches (1871-1918) wurde der deutsche Reichstag nach dem absoluten Mehrheitswahlrecht gewählt, das heute in Frankreich und damit auch in unserer Partnerstadt Tours angewandt wird. Deshalb kam es in den beiden Tourainer Stimmbezirken und in den 575 anderen Wahlkreisen bei der Wahl der neuen Nationalversammlung am 7. Juli zu einem zweiten Wahlgang, weil im ersten Wahlgang kein Bewerber die absolute Stimmenmehrheit auf sich vereinigen konnte. 
Nach Angaben der Regionalzeitung Nouvelle le Republique siegte im ersten Tourainer Wahlkreis der Abgeordnete der Neuen Volksfront Charles Fournier mit 57,9 Prozent der Stimmen. Sein Herausforderer, Pierre, aus der Präsidentenpartei Ensemble erreichte 42,1 Prozent. 61,8 Prozent der Wahlberechtigten stimmten ab.
Im zweiten Tourainer Wahlkreis lag die Wahlbeteiligung bei 70,3 Prozent. Hier konnte sich die Abgeordnete Sabine Thillaye aus der Präsidentenpartei Ensemble mit 59,7:42, Prozent gegen ihren RN-Herausforderer Ducamp durchsetzen.



Sonntag, 30. Juni 2024

Müssen wir uns warm anziehen?

 Dr. Christian Mölling ist Politikwissenschaftler und Politikberater. Jetzt stellte er in der Katholischen Akademie Die Wolfsburg sein Buch: "Fragile Sicherheit" vor und überraschte sein Auditorium mit seiner These vom "Ende des Friedens"! Das hört sich nicht christlich an. Ist es aber realistisch? Darüber wurde am Falkenweg diskutiert?

Der an der Universität Duisburg/Essen studierte Politikwissenschaftler, der heute für die Deutsche Gesellschaft für Außenpolitik und demnächst für die Bertelsmann-Stiftung arbeitet, plädiert für eine zehnjährige Aufrüstungsperiode, damit die Nato und Europäische Union im Konfliktfall mit Putin und bei einem möglichen Ausfall der USA unter einem erneuten Präsidenten Trump nicht erpressbar und politisch handlungsunfähig wird. 

Vor diesem Hintergrund sieht er Forderungen nach einem schnellen und bedingungslosen Waffenstillstand in der Ukraine, für die Teile der AfD und das BSW plädieren als eine "friedenspolitische Rattenfängerei", von der man sich nicht verführen lassen dürfe.

Für seine Position bekam er Applaus, aber auch Gegenwind. Es sei unrealistisch, so wurde aus dem Publikum heraus gesagt, dass Russland mit seinen 150 Millionen Einwohnern angesichts einer volkswirtschaftlichen Leistungsfähigkeit, die mit der Belgiens zu vergleichen sei, willens und in der Lage sei, nach der Ukraine auch die Nato anzugreifen.

Mölling hielt dem entgegen, dass Putin als Autokrat, "der die Demokratie nicht als sein Geschäftsmodell" ansehe, ganz anders, nämlich ohne Rücksicht auf Verluste, Menschen und Material einsetzen könne, um seine imperialistischen Ziele durchzusetzen und damit seine politische Macht auszubauen, die ihn davor bewahre, als politischer Verlierer "eines Tages aus dem Fenster zu fallen."

Die provokative Publikumsfrage: "Werden wir denn von Idioten regiert?", verneinte Mölling mit Blick auf die Reaktion der westlichen Demokratien auf den von Putin befohlenen Angriffskrieg in der Ukraine. Aber er räumte ein, dass die heutige politische Führung von der Friedensbewegung der frühen 1980er Jahre geprägt worden sei  und nach dem Ende des Kalten Krieges nicht mehr auf die Führung eines globalen Konfliktes mit den Mitteln der militärischen Abschreckung zu führen und zu bestehen, um den Weltfrieden zu bewahren. 

Dies zu leisten, sieht der Politikwissenschaftler und Buchautor auch vor dem Hintergrund der deutschen NS-Geschichte, als moralische Verantwortung Deutschlands, "um diesmal auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen."

Christian Möllings Buch: "Fragile Sicherheit" ist, 224 Seiten stark,  bei Herder erschienen und für 20 Euro im Buchhandel erhältlich.


Zur Wolfsburg

Samstag, 15. Juni 2024

Gut gepflegt

 Dem Vermächtnis eines Mülheimer Gastronomen hat es die Evangelische Kirche zu verdanken, dass sie vor 50 Jahren auf dem vormaligen Grundstücks einer Gartengaststätte mit Ruhrblick mit dem Haus Ruhrgarten ein Pflegeheim errichten konnte, zu dem heute auch das benachbarte Haus Ruhrblick gehört. Anfangs bestand das Haus Ruhrgarten aus einem Altenheim für 60 orientierte und 40 desorientierte Bewohnerinnen.

Trägerin beider Häuser ist die Evangelische Altenhilfe, deren Doppelspitze heute vom Pflegedienstleiter Marco Warnath und von der Verwaltungsleiterin Nina Eurmann geleitet wird. Sie haben 2022 die Nachfolge von Oskar Dierbach (Pflegedienstleitung) und Peter Steinbach (Verwaltungsleitung) angetreten. Vor 50 Jahren bildeten Pfarrer Walter Sänger (als Verwaltungsleiter) und Schwester Anni Ostermann (als Pflegedienstleiterin) das erste Führungstandem der von den evangelischen Kirchengemeinden Mülheims getragenen Altenhilfe.

Von einem Förderverein und 20 ehrenamtlich tätigen Grünen Damen und Herrn unterstützt, kümmern sich hier 90 hauptamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter um 113 pflegebedürftige Menschen. Zum Vergleich: 1983 hatte das Haus 36 hauptamtliche Pflegekräfte, die damals ehrenamtlich von 22 Grünen Damen und zwei Grünen Herren unterstützt wurden.

Finanziert wird ihre Arbeit durch die Beiträge der Bewohnerinnen und Bewohner sowie durch die Zuschüsse der Pflegekassen, des Sozialamtes und des Landschaftsverbandes Rheinland.

Eumann und Warnath führen das von ihren Vorgängern Dierbach und Steinbach  eingeführte Modell der therapeutischen und rehabilitativen Pflege durch. Dieses Modell wird inzwischen als Pilotprojekt der AOK Rheinland/Hamburg in Zusammenarbeit mit dem Gemeinsamen Bundesausschuss und der Fachhochschule Potsdam als Pilotprojekt einer künftigen Pflegestandardversorgung erprobt. 

Rehabilitation und Therapie in der Pflege sollen die Lebensqualität der pflegebedürftigen Menschen erhöhen und die Arbeitsbelastung der pflegenden Menschen und darüber hinaus auch den Einsatz von Medikamenten reduzieren.

Um diesen Ansatz in die Praxis umsetzen zu können, hat die Evangelische Altenhilfe in den Pflegesatzverhandlungen einen Personalzuschlag von 8,5 Prozent erhalten. Warnath, Eumann und ihr langjähriger Pflegedienstmitarbeiter Kofi Akoto sind sich einig, dass die stationäre Pflege, die zurzeit ein Drittel aller pflegebedürftigen Menschen in Deutschland versorgt, "ein schöner, sinnvoller, aber auch herausfordernder Beruf ist, dessen Realität viel besser ist als sein Ruf." Es ist ein Beruf, daran lassen die Drei keinen Zweifel, der neben Professionalität vor allem Empathie verlangt.


Zur Evangelischen Altenhilfe Mülheim an der Ruhr 

Donnerstag, 13. Juni 2024

Reden wir über Fußball

 Fußball regiert die Welt. So sagt der Volksmund. Hätte er doch Recht. Dann wäre manches in unserem Leben und in unserer Welt einfacher, Teamgeist und klare Regeln. Doch im kommerzialisierten Profifußball spielen keine elf Freunde, sondern elf Millionäre gegeneinander.

Als sich im frühen 20. Jahrhundert in Mülheim erste Fußballvereine mit so patriotischen Namen, wie Fürst Bismarck, Teutonia, Vorwärts, SC Preußen und Ballverein Rheinland gründeten, war der aus England importierte Fußball in Deutschland ein reiner Amateursport, der auch von den Schülern des Königlichen Gymnasiums an der Von-Bock-Straße, das wir heute als Otto-Pankok-Schule kennen, betrieben wurde. An Schulen und Hochschulen wurde auch schon im England um 1850 Fußball gespielt. 1857 gründete sich mit dem FC Sheffield der erste Fußballclub der Welt. 1863 entstand mit der Football Association der erste Fußballverband, der auch ein Spielreglement entwickelte, Ab 1888 wurde in Großbritannien in einer nationalen Liga um eine Fußballmeisterschaft gespielt. Im gleichen Jahr gründete sich in Berlin-Tempelhof der erste deutsche Fußballverein FC Germania, dem 1891 der Fußballverein Karlsruhe und 1893 der FC Altona folgte. Zehn Jahre später wurde erstmals eine Deutsche Fußballmeisterschaft ausgespielt, die der VFR Leiptig gewann. In Leipzig war 1900 auch der Deutsche Fußballbund (DFB) gegründet worden, dem heute 24.000 Fußballvereine angehören. 86 von ihnen sind Gründungsmitglieder. 16 von ihnen kommen aus Mülheim.

Fußball am Kahlenberg

Gespielt wurde zunächst auf dem Sportplatz am Kahlenberg, der mit Hilfe der Leonhard-Stinnes-Stiftung angelegt worden war, um dort die Vaterstädtischen Festspiele austragen zu können. Volkssport war damals nicht der Fußball, sondern das von Friedrich Ludwig Jahn im frühen 19. Jahrhundert auch als vormillitärische Leibesübung eingeführt wurde. Auch am Kahlenberg hatte man dem Turnvater Jahn ein Denkmal gesetzt. 

Der Fußball galt seinen deutschen Kritikern als "Fußlümmelei" und als "englische Krankheit", die eher das Risiko der Körperverletzung als die Chance der Körperertüchtigung mit sich brachte. Fußball war anfangs eher ein Mittelstandssport als ein Arbeitersport, Um 1910kostete ein Lederfußball zwischen 5 und 10 Mark. Fußballstiefel waren für 8,50 Mark zu haben, während der durchschnittliche Wochenlohn eines Arbeiters bei 21 Mark lag.

Mülheimer Erfolgsgeschichten

1919 gründete sich der VFB Speldorf und 1923 der 1. FC Mülheim-Styrum, die bisher die größten Erfolgsgeschichten des Mülheimer Fußballs geschrieben haben. Beide Vereine spielten zeitweise im 1925 nach Plänen des damaligen Baudezernenten Arthur Brocke errichteten Ruhrstadion, das heute 6000 Zuschauern Platz bietet.

Der 1. FC Mülheim Styrum spielte zischen 1974 und 1976 in der damals neu geschaffenen Zweiten Bundesliga. Der VFB Speldorf wurde 1956 Deutscher Vizemeister der Fußballamateure und qualifizierte sich 2010 für den DFB-Pokal. Der VFB Speldorf brachte mit Fritz Buchloh (*1909), Theodor Klöckner (*1934), Rudi Seeliger (*1951) und Hans-Günter Bruns (*1954) auch National- und Bundesliga-Spieler hervor.

Fritz Buchloh spielte ab 1927 am Blötter Weg als Torwart für den VFB Speldorf und ab 1929 auch für die Auswahlmannschaft des 1911 gegründeten Westdeutschen Fußballverbandes. So wurden Reichstrainer Otto Nerz und sein Co-Trainer Sepp Herberger auf Buchloh aufmerksam und beriefen ihn 1932 erstmals in die deutsche National-Elf. Bis 1936 stand Buchloh 17 Mal zwischen den deutschen Pfosten. Der 1998 verstorbene Buchloh gehörte zur Generation der deutschen Fußballamateure, die im besten Fall Fahrtkosten erstattet bekamen. 

Die Kommerzialisierung des deutschen Profi-Fußballs sah er kritisch. In dem Jahr, in dem Fritz Buchloh sein erstes Länderspiel absolvierte, beriet der DFB erstmals über die Einrichtung einer deutschen Fußballliga, die die damals 55 deutschen Regionalligen ersetzen sollte. Doch diese Pläne scheiterten am Widerstand der DFB-Regionalverbände, die um ihren Einfluss fürchteten, aber auch vor einer Kommerzialisierung des Fußballs warnten.

Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurde die Zahl der deutschen Regionalligen von 55 auf 16 reduziert,

Später Frauenfußball

Anders, als in Großbritannien, wo bereits 1895 mit den British Ladies der erste weibliche Fußballclub gegründet wurde, blieb der Frauenfußball vom DFB verboten. Mit Blick auf Mülheim gebührt dem Post SV und Rot Weiß Mülheim der historische Verdienst der ersten Frauenfußballmannschaften, Seit 1990 gibt es neben der Bundesliga der Männer auch eine Fußballbundesliga der Frauen, die seit 1984 auch eine Europameisterschaft, seit 1991 eine Weltmeisterschaft und seit 1996 ein Olympisches Fußballturnier austragen, während die Männer bereits seit 1908 ein Olmpisches Fußballturnier, seit 1930 eine Weltmeisterschaft und seit 1960 auch eine Europameisterschaft austragen.

Mittwoch, 5. Juni 2024

Reden wir über Europa

Am 9 Juni sind 350 Millionen  Menschen in Europa zur Wahl des Europäischen Parlaments aufgerufen. Wahlberechtigt sind diesmal alle Bürgerinnen und Bürger der EU, die 16 Jahre und älter sind. Gewählt werden kann man aber erst ab 18.

Früher wählen

Mit der Absenkung des Wahlalters steigt die Zahl der Wahlberechtigten um rund eine Million Menschen. Mehr Menschen sind nur bei den Parlamentswahlen in Indien, 790 Millionen, aufgerufen.

Anders, als bei Landtags- und Bundestagswahlen haben wir diesmal nur eine Stimme. Denn das EU-Wahlrecht, des seit 1979 direkt gewählten Europäischen Parlaments kennt keine Wahlkreise, auch wenn dies die Sozialdemokraten für die nächste Europawahl 2029 fordern. Anders als in Frankreich oder Tschechien gibt es in Deutschland zurzeit keine 5% Sperrklausel. 0,5% der Stimmen reichen, um mit einem Mandat ins Europäische Parlament einzuziehen und eine Wahlkampfkostenerstattung der öffentlichen Hand in Höhe von 0,83€ zu erhalten.

Eine Chance für kleine Parteien

Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass bei der letzten deutschen Europawahl 2019 mit der Tierschutzpartei, mit der Satirepartei Die Partei, mit den Piraten und mit dem Wahlbündnis Volt sowie mit der wertkonservativen Ökologisch Demokratischen Partei (ÖDP) auch Parteien ins Europäische Parlament eingezogen sind, die bei Bundestags- und Landtagswahlen aufgrund der dort angewendeten Fünfprozent-Sperrklausel keine Chance auf einen Parlamentssitz haben.

Bei der Europawahl stimmen die Wählerinnen und Wähler, 61 Millionen von ihnen kommen aus Deutschland und etwa 130.000 aus Mülheim, über eine Parteiliste ab. Gewählt wird nach dem reinen Verhältniswahlrecht, bei dem jede Stimme zählt. Dieses sehr demokratische Wahlrecht wurde in Deutschland auch während der Weimarer Republik von 1918 bis 1933 angewendet und wird heute auch in zahlreichen europäischen Staaten und in Israel praktiziert.

96 Abgeordnete kommen aus Deutschland

96 der 720 zu wählenden Mitglieder des Europäischen Parlaments, werden aus Deutschland kommen. Da die Bundesrepublik Deutschland ist das bevölkerungsreichste Land der EU und  stellt deshalb auch die größte Abgeordnetengruppe, gefolgt von Frankreich, dass 81 Abgeordnete ins Europäische Parlament entsendet. Doch einmal ins Europäische Parlament gewählt, die Wahlperiode dauert jeweils 5 Jahre, schließen sich die nationalen Abgeordneten zu transnationalen Fraktionen zusammen.

Seit 1979 direkt gewählt, geht das Europäische Parlament, mit dieser Wahl in seine 10. Wahlperiode. In der jetzt abgelaufenen neunten Wahlperiode stellten die europäischen Christdemokraten der Europäischen Volkspartei mit 176 Abgeordneten die stärkste Fraktion, gefolgt von den Sozialdemokraten mit 139 Abgeordneten, den Liberalen mit 102 Abgeordneten, den Grünen mit 72 Abgeordneten den europäischen konservativen Reformern mit 69 Abgeordneten und der Fraktion Identität und Demokratie mit 49 Abgeordnete. Weitere 29 Abgeordnete gehören zurzeit keiner Fraktion im Europäischen Parlament an. Das schränkt ihre parlamentarischen Rechte und Arbeitsmöglichkeiten stark ein.

Transnationale Fraktionen

Vor diesem Hintergrund ist der Ausschluss der deutschen AfD aus der rechtsextremen Fraktion Identität und Demokratie eine schwere Schlappe für die deutsche Rechtspartei, da sie sich nach einem Wiedereinzug ins Europäische Parlament zunächst um eine neue Fraktionszugehörigkeit kümmern müsste. Trotz der jüngsten Skandale um die beiden Listenführer der rechtspopulistischen AFD zeigen die jüngsten Umfragen, dass die AfD 14% der Stimmen erreichen könnte. Die in Berlin regierenden Sozialdemokraten von Bundeskanzler Olaf Scholz werden in den aktuellen Umfragen zwischen 14 und 16% und die Grünen bei etwa 14% gehandelt. Die FDP schwankt zwischen 4 und 5%. Die Linken schwanken zwischen 3 und 5%. Das Bündnis Sahra Wagenknecht, das sich von der Linken abgespalten hat, und zur Zeit als Gruppe im Deutschen Bundestag vertreten ist, kann laut den jüngsten Umfragen mit etwa 6% der Stimmen rechnen. Stärkste Partei dürfte demnach die Union werden, der mit CDU und CSU zwischen 29 und 31% vorhergesagt werden.

Mit der Kommissionspräsidentin und Spitzenkandidatin der Europäischen Volkspartei, Ursula von der Leyen, und dem Fraktionsvorsitzenden der EVP Fraktion Manfred Weber stehen gleich 2 Deutsche an der Spitze der EVP Wahlliste.

Drei Abgeordnete aus dem Ruhrgebiet

Mit Jens Geier (SPD), Dennis Radtke (CDU) und Terry Reintke (Grüne) haben 3 Abgeordnete aus dem Ruhrgebiet eine sehr gute Aussicht, erneut ins Europäische Parlament einzuziehen. Geier kommt aus Essen, Radtke aus Bochum und Reitnke aus Gelsenkirchen. Die Mülheimer FDP Europakandidatin Alondra von Groddeck hat aufgrund ihres Listenplatzes keine Aussicht ins Europäische Parlament gewählt zu werden.

Sowohl bei der ersten Direktwahl des Europäischen Parlaments 1979 als auch bei der zweiten Direktwahl 1984 zogen mit dem Sozialdemokraten Heinz Oskar Vetter, dem damaligen DGB-Chef, und dem christdemokratischen Juristen Dr. Otmar Franz 2 Mülheimer ins Europäische Parlament ein. Die erste Direktwahl des Europäischen Parlaments war in Mülheim auch die erste Wange die Mithilfe der elektronischen Datenverarbeitung ausgezählt wurde. Das Europäische Parlament gibt es bereits seit 1952. Damals handelte es sich allerdings nicht um ein direkt gewähltes Parlament, sondern um eine parlamentarische Versammlung von auf nationaler Ebene gewählten Abgeordneten, die aus den jeweiligen Parlamenten der Mitgliedstaaten entsandt wurden. Die ersten Präsidenten des Europäischen Parlaments, der belgische Sozialdemokrat Henri Spaak, der italienische Christdemokrat Alcide de Gasperi und der französische Christdemokrat Robert Schumann waren die ersten Präsidenten des Europäischen Parlaments und gleichzeitig Gründungsväter der europäischen Integration. Sie war mit der Gründung der Montanunion 1952 begonnen und mit der Euratom und der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft 1957/58 fortgesetzt wirden.

Mit den Christdemokraten, Dr. Wilhelm Furler und Hans Gert Pöttering sowie den Sozialdemokraten, Klaus Hänsch, und Martin Schulz standen später auch deutsche Parlamentarier an der Spitze des Europäischen Parlaments.

Die Rechte des Europäischen Parlaments

Anders als Bundestag und Landtage hat das Europäische Parlament kein Initiativrecht in der Gesetzgebung. Dennoch konnte es in den letzten 45 Jahren seine Rechte erheblich ausweiten.

Ohne die Zustimmung des des Europäischen Parlaments kann keine Europäische Kommission ins Amt gewählt werden. Das Europäische Parlament hat die Möglichkeit einzelne Kommissare oder auch die gesamte Kommission abzuwählen. Außerdem können in der Europäischen Union keine Richtlinien und Verordnungen und kein Haushaltsplan verabschiedet werden, denen das Europäische Parlament nicht zustimmt. Das gilt auch für den Europäischen Rat, in dem die Vertreter der Regierungen der Mitgliedsstaaten sitzen. Das Initiativrecht in der Gesetzgebung der Europäischen Union, die aktuell etwa zwei Drittel der deutschen Gesetzgebung beeinflusst, liegt bei der 27-köpfigen EU-Kommission. Allerdings können sowohl das Europäische Parlament als auch der Europäische Rat die Europäische Kommission dazu auffordern zu einem bestimmten Politikfeld einem Gesetzesvorschlag vorzulegen. Wie in Deutschland findet die zweite Lesung der EU- Gesetzgebung in einem der aktuell 27 Fachausschüssen statt. Außerdem gibt es die Möglichkeit eines Vermittlungsverfahrens, wenn sich Rat und Parlament nicht einig sind, ob und wie sie einem Gesetzentwurf der Europäischen Kommission zustimmen oder nicht zustimmen sollen.

Politischer Wanderzirkus

Das Europäische Parlament tagt mit seinem Plenum in Straßburg, mit  seinen Fraktionen und Ausschüssen aber in Brüssel. Seine Verwaltung, das Generalsekretariat, hat seinen Sitz in Luxemburg. Diese kosten- arbeits- und zeitaufwendige Dreiteilung des Parlamentsbetriebs ist dem EU-Proporz geschuldet.

Zur zehnten Europawahl treten in Deutschland 35 Parteien mit insgesamt 1400 Bewerberinnen und Bewerbern an. Die Förderung des europäischen Binnenmarktes, die Förderung der Spitzenforschung, Freiheit Gerechtigkeit, Klimaschutz, Bürgerrechte, Wohlstand eine engere militärische Zusammenarbeit der EU Staaten und der gemeinsame Kampf gegen die Folgen des Klimawandels sind in unterschiedlicher Gewichtung in fast allen Parteiprogrammen zu finden. Die Nationalkonservativen und rechtsextremen Parteien lehnen die Europäische Union in ihrer jetzigen Form allerdings ab und wollen sie in einem Staatenbund souveräner europäischer Demokratien verwandeln. Der EU-Binnenmarkt soll erhalten bleiben, die Asylpolitik allerdings in den Aufgabenbereich der nationalen Regierung zurückgeführt werden.

Angesichts grenzüberschreitender Kriminalität und illegaler Migration wurden 1999 die EU-Polizeibehörde Europol und 2005 die EU-Grenzschutz Agentur Frontex ins Leben gerufen. Iim Vertrag von Prüm hat die Bundesrepublik 2006 eine polizeiliche Zusammenarbeit mit ihrem östlichen und westlichen Nachbarn innerhalb der EU vereinbart. Mit der Einführung des europäischen Binnenmarktes 1993 gelten in der Europäischen Union die 4 Freiheiten des Waren- Dienstleistungs- Personen- und Kapitalverkehrs. Gleichzeitig verpflichten sich die EU-Mitgliedsstaaten im Vertrag von Schengen zu einem gemeinsamen verstärkten Schutz der Außengrenzen beim gleichzeitigen Verzicht auf Binnengrenzkontrollen. Inwiefern vor dem Hintergrund der aktuellen Sicherheits- und Migrationslage nationale Grenzschutzkontrollen wieder eingeführt werden können oder müssen, diskutiert. Grundsätzlich sieht das Schengener Abkommen schon jetzt Ausnahmen vor, die nationale Grenzschutzmaßnahmen bei europäischen Großereignissen oder auch bei Gefahr im Verzug vorsieht.

Sowohl die Liberalen als auch die Grünen sprechen sich mit Blick auf die EU für eine Legalisierung des Cannabiskonsums aus. Sowohl SPD CDU FDP als auch Grüne sprechen sich für eine geordnete beziehungsweise rigide Asylpolitik aus, bei der das grundsätzliche Recht auf politisches Asyl aber erhalten bleiben soll. Dem verstärkten der Flüchtlinge setzen Linke und das Bündnis lange Wagenknecht die Förderung einer solidarischen Willkommenskultur entgegen. Im Gegensatz zu Union SPD FDP und Grünen kritisieren Linke und das Bündnis Sahra Wagenknecht auch die verstärkte Rüstung und die Waffenlieferungen der Eu-Staaten in die vom russischen Angriffskrieg bedrohte Ukraine.  Sie sprechen sich für den Stopp der Waffenlieferungen, für eine  generelle Abrüstung und für eine zivile Konfliktlösung aus.


Zum Europäischen Parlament


Montag, 3. Juni 2024

Hilfe für Flüchtlinge

Was tut der Evangelische Kirchenkreis An der Ruhr für die Menschen, die in unserer Stadt Zuflucht gefunden haben? Diese Frage beschäftigte jetzt 35 Mitglieder der Kreissynode, die rund 40.000 evangelische Christen aus sechs Mülheimer Kirchengemeinden vertritt.

Die Flüchtlingsreferentin des Kirchenkreises, Saskia Trittmann, und ihre beiden Mitarbeiterinnen Maren Helder und Kathrin Rothaas berichteten über ihre herausfordernde Arbeit, die einhelliges Lob erfuhr. Aktuelle betreut das vierköpfige Flüchtlingsreferat 1300 Geflüchtete in Mülheim. 

Bürgermeister Markus Püll bedankte sich im Namen von Rat und Verwaltung für die kompetente und engagierte Unterstützung der kommunalen Flüchtlingsarbeit. Er wies darauf hin, dass die Mülheimer Wohnungsbaugenossenschaft in den kommenden Monaten auf dem Gelände der alten Friedhofsgärtnerei am Hauptfriedhof 135 Wohnungen für die Unterbringung von Flüchtlingen errichten werde, die später als Sozialwohnungen genutzt werden sollten. 

Mülheim, dass auf der Basis des sogenannten Königssteiner Verteilungs-Schlüssels ein Prozent aller Flüchtlinge aufnehmen muss, die nach Nordrhein-Westfalen kommen, betreibt schon jetzt eine Zentrale Flüchtlingsunterkunft in Raadt.

Nach Angaben der Bezirksregierung Arnsberg leben in Mülheim aktuell 1669 geflüchtete Menschen. 

Saskia Trittmann warb um eine ökumenische Zusammenarbeit der katholischen und evangelischen Kirchengemeinden, um mehr Kirchenasylplätze zu schaffen. Binnen Jahresfrist habe das Flüchtlingsreferat 92 Anfragen nach Kirchenasyl erhalten, von denen 26 aus Mülheim kamen. Das Kirchenasyl, so Trittmann, biete in sogenannten Grenz- und Härtefällen abgelehnten Asylbewerbern einen Zeitgewinn und damit die Möglichkeit, die Rechtmäßigkeit ihres Asylantrages gegenüber dem letztendlich über den Asylanspruch auf der Basis des Grundgesetz-Artikels 16 entscheidenden Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) zu dokumentieren. Auch wenn es dem Quartett des evangelischen Flüchtlingsreferates in den vergangenen zwölf Monaten gelungen ist, zehn Flüchtlinge als Pflegefachkräfte zu vermitteln und ihnen so einen dauerhaften Aufenthaltsstatus zu verschaffen, räumten Trittmann und ihre Kolleginnen Maren Helder und Katrin Rothhaas  ein, dass nur wenigen Flüchtlingen der Spurwechsel zur Fachkraft gelinge.


Zur Flüchtlingsberatung der Evangelischen Kirche

Donnerstag, 30. Mai 2024

Glückwunsch, Grundgesetz!

 Zum 75. Geburtstag kam ich mit Mülheimer Kommunalpolitikern ins Gespräch. Warum engagieren sie sich im Rahmen der kommunalen Selbstverwaltung (Artikel 28/GG)? Für sie ist die Politik, anders als für die Bundes- und Landtagsabgeordneten kein Beruf, sondern nur Berufung. Auch wenn sie eine Aufwandsentschädigung erhalten, von der sie zwischen 25 und 65 Prozent zur Finanzierung der jeweiligen Fraktionsarbeit abführen, kann man sie als ehrenamtliche Politiker bezeichnen.

Ob Margarete Wietelmann (SPD), Christiana Küsters (CDU), Brigitte Erd oder Timo Spohrs (beide Grüne): Alle Fraktionsspitzen sprechen von ihrer Erfahrung, "dass Demokratie vom Mitmachen" lebt und von dem Willen zur Gemeinschaft im Sinne des Gemeinwohls und der damit verbundenen Konsensfindung lebt.

Spohrs weist auf das Prinzip der die kommunale Selbstverwaltung prägende Bürgernähe, in der Bürgerinnen und Bürger Politik für Bürger und Bürgerinnen machen, mit denen sie zusammen in einer, in ihrer Stadt zusammen leben und arbeiten und deshalb sich auch täglich begegnen und sich miteinander austauschen.

"Ich liebe Mülheim und möchte es deshalb noch lebens- und liebenswerter machen", beschreibt die Christdemokratin Christina Küsters die Motivation ihres kommunalpolitischen Engagements, das sie als "ein Privileg" empfindet. Ihre sozialdemokratische Amtskollegin Margarete Wietelmann berichtet von ihrer Politisierung durch ihren Geschichtslehrer und durch ihr politisches Idol Willy Brandt. Diese Politisierung brachte sie dazu, sich vor Ort, in ihrer Stadt vor allem für die Förderung von Bildung und soziale Gerechtigkeit stark zu machen und aktiv zu werden.

Ihre Grüne Amtskollegin, Brigitte Erd, sieht unsere Demokratie auch vor Ort von einem überzogenen Individualismus gefährdet, der "dem Gemeinschaftsgedanken des Grundgesetzes untergrabe.

Die Gefahr der Untergrabung der kommunalen Selbstverwaltung, als der lokalen Basis unserer im Grundgesetz-Artikel 20 beschriebenen rechts- bundes- und sozialstaatlichen Demokratie sehen Christdemokratin Christina Küsters und der Grüne Timo Spohrs in einer strukturellen und finanziellen Überforderung der Städte. Abhilfe dagegen sehen sie in einer Altschuldenregelung und in einer Reform der deutschen Finanzverfassung auf der Basis des Prinzips: "Wer die Musik bestellt, bezahlt sie auch!"

Zum Grundgesetz


Mittwoch, 29. Mai 2024

Frohe Pfingsten

 Menschen lassen sich vom Heiligen Geist begeistern und finden den Mut gemeinsam von ihrer Hoffnung zu sprechen. Das ist die christliche Pfingstgeschichte. Hinaus aus ihren Kirchen und hinein in den Stadthallengarten gingen am Pfingstsonntag die sechs Gemeinden des evangelischen Kirchenkreises An der Ruhr. Auch Menschen, die nicht zum harten Kern der Kirchgänger gehören, durften sich beim Freiluftgottesdienst, dem sich ein Familienfest anschloss, willkommen fühlen.

Besonders Hinhören und Hinschauen ließ ein Kommunikationsexperiment der Gastgeber. Mit moderierten Kommunikationsinseln und einem Begegnungsbingo wurden Menschen miteinander ins Gespräch gebracht, die sonst vielleicht acht- und wortlos aneinander vorbeigegangen wären.

So aber kamen Gäste, die wollten mithilfe von Fragekarten und Stichwortgebern miteinander ins Gespräch. Vorgegebene, aber deshalb nicht minder spannende und interessante Fragen, wie: "Was würde ich tun, wenn ich genug Mut dazu hätte?" oder: "Was finde ich in unserer Gesellschaft ungerecht?", ließen den organisierten Small Talk nicht peinlich, sondern bereichernd. Eine gute Idee zeigte: "Nur redenden Menschen kann geholfen werden!"

Das passt zu der Erkenntnis des Bundesinstitutes für Bevölkerungsforschung, wonach aktuell ein Drittel der Menschen in Deutschland unter Einsamkeit leiden.


Zum Kirchenkreis An der Ruhr

Sonntag, 19. Mai 2024

Mülheim im Mittelalter

 Das Mittelalter erscheint uns fern und finster. Umso besser, dass der Leiter des Stadtarchivs, Dr. Stefan Pätzold, es uns am 23. Mai um 18 Uhr mit einem eintrittsfreien Vortrag im Haus der Stadtgeschichte näherbringen wird. Der Mann weiß, wovon er redet. Er ist Mittelalter-Historiker. 

Wir brauchen in unserer Stadt nicht weit zu gehen, um mittelalterliche Spuren zu entdecken. Zum Beispiel auf dem Kirchenhügel, wo einst die 1093 erstmals erwähnten Edelherren von Mülheim residierten und die Ursprünge der Petrikirche, als ihrer Hofkappelle, bis ins 11. Jahrhundert zurückreichen. Noch älter sind die Kirche Sankt Laurentius und das Schloss Broich. Geschichte begann im spätkarolingischen 9. Jahrhundert. Noch eher als Mülheim, wurden Menden (811) und Styrum (1067) erstmals urkundlich erwähnt. Broich und Styrum gehörten zu den kleinsten eigenständigen Herrschaften des im 10. Jahrhundert gegründeten und 1806 untergegangenen Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation. Anno 1372 traten die Herren von Broich an die Stelle der ausgestorbenen Edelherren von Mülheim. Und anno 1443 wurden das Schloss Broich und der Kirchenhügel erstmals zum militärischen Schlachtfeld, weil der damalige Kölner Erzbischof Dietrich von Moers übergriffig wurde und seine Truppen vom Rhein an die Ruhr schickte. Zwei steinerne Kanonenkugeln im Broicher Schlosshof und Stadtmauerreste am Fuße des Kirchenhügels zeugen bis heute davon. 

Ebenso ist das heute als Bürgerbegegnungsstätte genutzte Kloster Saarn, in dem ab 1214 Zisterzienserinnen, zur höheren Ehre Gottes und für das Seelenheil ihrer Gönner, beteten und arbeiteten. Die älteste Urkunde, die man heute im Haus der Stadtgeschichte an der Von-Graefe-Straße unter die Lupe nehmen kann, stammt aus dem Jahr 1221 und bezieht sich auf das Saarner Kloster Mariensaal, das 1808 aufgelöst wurde,


Sonntag, 12. Mai 2024

Reden wir über das C

Johannes Brands ist Christ, nicht nur dem Namen nach. Auch mit 85 engagiert er sich noch als ehrenamtlicher Mitarbeiter der katholischen Ladenkirche und als Sachkundiger Bürger im Kulturausschuss. In den 1990er Jahren war der Pädagoge als CDU-Fraktion Teil der ersten Schwarz-Grünen Zusammenarbeit in Deutschland.

Der Katholik aus der Pfarrgemeinde St. Barbara hat in der Katholischen Ladenkirche ein offenes Ohr für Menschen, "deren Leben in seelische und soziale Unordnung" geraten ist. Das C, dass seine Partei im Namen trägt, will er nicht mit dem Evangelium gleichsetzen. Für ihn "erinnert das C uns daran, dass der Mensch eine transzendente Beziehung zu Gott hat, dessen Sohn Jesus Christus für uns gelebt, gestorben und auferstanden ist."

Diese transzendente Beziehung beinhaltet für ihn die eigenverantwortliche Frage an jeden von uns: "Was darf ich und was darf ich nicht? Und wenn ich etwas darf, warum will ich es?" In diesem Sinne sieht der Christdemokrat das Ziel des politischen Handelns darin, auf der Basis der Erkenntnis, dass "Gott Liebe und nicht Strafe ist", ein sinnerfülltes Leben zu ermöglichen und vor diesem Hintergrund eine funktionierende und zugängliche soziale, wirtschaftliche und kulturelle Infrastruktur zu schaffen.

Gleichzeitig sieht Brands das C als Auftrag zum Fördern und Fordern der individuellen Eigenverantwortung, "indem wir Menschen sagen: Wir führen dich nicht mit Utopien in die Irre. Wir geben dir die Freiheit zum eigenverantwortlichen Handeln und stützen dich dort, wo du an deine Grenzen kommst!"


Mehr über Johannes Brands


Samstag, 11. Mai 2024

An einem Tag im Mai

Lange Reden zum Tag der Arbeit. Das war gestern. An diesem 1. Mai führen DGB-Chef Filip Fischer und IG-Metall-Sekretärin Wencke Hartjes durch eine musikalisch begleitete Talkshow. 1100 Menschen sind zur Müga-Drehscheibe am Ringlokschuppen gekommen. Die Tageslosung passt zum sonnigen Wetter: "Mehr Lohn, mehr Freizeit, mehr Sicherheit!" Fast zu schön, um wahr zu sein!?

"In der Kürze liegt die Würze", gibt Filip Fischer die Richtung vor und hält sich selbst daran. "Schließt euch uns an. Denn wir stehen als Gewerkschaften auch in den Betrieben für unsere Demokratie ein und stellen uns den Rechtsextremen entgegen, die unsere Gesellschaft mit ihrer Politik spalten wollen." Gleichzeitig räumt er mit Blick auf den Wirtschaftsstandort Mülheim, Stichwort: Rettung der Friedrich-Wilhelms-Hütte und Verlagerung des Valourec-Werkes, ein, dass die acht DGB-Gewerkschaften, denen in Mülheim derzeit 20.000 Menschen angehören, mit ihrem Einsatz für den Erhalt von Arbeitsplätzen nicht nur Erfolgsgeschichten schreiben.

"Wir leben an einer belebten Wegkreuzung der Weltgeschichte. Und wir brauchen die Gewerkschaften als Partner für ein Leben mit Bildung, Arbeit und sozialer Sicherheit", schlägt Bürgermeister Markus Püll (CDU) den Bogen von der Innen- zur Außenpolitik.

Den schlagen auch die Europa-Kandidaten Jens Geier (SPD), Dennis Radtke (CDU) und Alondra von Grodeck. Während der Sozial- und der Christdemokrat, die beide dem Europäischen Parlament angehören, mit ihrem Eintreten für EU-einheitliche Standards in Sachen Arbeitsmarkt, Tarifpolitik und Mitbestimmung eintreten, plädiert die 21-jährige Jura-Studentin und Kreisvorsitzende der FDP für eine nationale Regelung dieser Politikfelder, um so den sozialen und wirtschaftlichen Unterschieden in den EU-Staaten Rechnung zu tragen.

Europäisch denkt und handelt auch Siemens-Betriebsrätin Eva Hans. Sie sieht die Notwendigkeit, "dass wir die Menschen bei der Transformation unserer Gesellschaft mitnehmen müssen, wenn der Schuss nicht nach hinten losgehen soll und wir nicht ein Erstarken der extremen Rechten erleben!" Für Hans kommt es arbeitsmarkt- und sozialpolitisch darauf an, dass die EU die Vergabe öffentlicher Aufträge an die Tarifbindung der Auftragnehmer bindet." 


DGB MEO


Dienstag, 7. Mai 2024

Baustelle Inklusion

 "Wie inklusiv ist Mülheim und wie inklusiv ist Europa und wie inklusiv muss die Europäische Union, in der zurzeit 100 Millionen Menschen mit Behinderung leben, inklusive Mülheim, noch werden?"

Darüber diskutierten am Europatag, dem 5. Mai, die Vorsitzende des Blinden und Sehbehindertenvereins, Maria ST. Mont, ihre Stellvertreterin, Nicole Schmidt-Siegfried, der Vorsitzende des Vereins für Bewegungsförderung und Gesundheitssport, Alfred Beyer und die selbst körperbehinderte stellvertretende Vorsitzende des Sozialausschusses im Europäischen Parlament, Katrin Langensiepen bei einer Veranstaltung, zu der die Mülheimer Grünen ins Nachbarschaftshaus der Mülheimer Wohnungsbaugenossenschaft an der Hingbergstraße in Heißen eingeladen hatten.

Viele Baustellen

"Wo da anfangen?", fragten Maria ST Mont und Alfred Beyer, als sie von den Moderatoren Melsa Yildrim und Philipp Hoffmann nach ihren Wünschen in Sachen Barrierefreiheit gefragt wurden. Beyer verwies auf die 1992 von der Mülheimer AGB entwickelte und heute bundesweit genutzte Checkliste für barrierefreies Bauen, die leider immer noch nicht von allen Architekten beachtet werde. Beyer plädierte in diesem Zusammenhang dafür, dass das Wissen um barrierefreies Bauen, auch mit Blick auf dem demografischen Wandel unserer Gesellschaft, zum Pflichtinhalt der Architektenausbildung werden müsse. 

Mit Blick auf die Ruhrbahn begrüßte ST Mont aber, dass das lokal Verkehrsunternehmen seinen offenen Arbeitskreis Öffentlicher Personennahverkehr wiederbelebt habe. Allerdings, so ST Mont, würde sie es noch mehr begrüßen, wenn die Ruhrbahn auf einen zweiten Geschäftsführer zugunsten der Einstellung von neuen Bus- und Bahnfahrern, verzichten würde. Außerdem kritisierte sie die überlangen Arbeitskämpfe im öffentlichen Personennahverkehr. Davon, so ST Mont seien vor allem Menschen mit Behinderung in Mitleidenschaft gezogen worden, "die nicht mal eben aufs Fahrrad oder ins Auto steigen können."

Nicht behindert, sondern benachteiligt

Beyer und ST Mont waren sich einig: „Wir sind nicht behindert. Wir werden durch die Gesellschaft benachteiligt. Beyer verwies, auf die von der Mülheimer AGB 1992 entwickelte und inzwischen in ganz Deutschland genutzte Cheackliste für barrierefreies Bauen, die leider immer noch nicht von allen Architekten beherzigt werde. Rampen, Induktionsschleifen, Gebärdendolmeterscher, taktile Leitlinien, Aufzüge, rollstuhlkompatible Türen, auch für Sehbehinderte und für Menschen mit kognitiven Einschränkungen lesbare und verständliche Hinweise und Infotafeln sind nur einige Mittel der Wahl, wenn es um Inklusion im öffentlichen Raum geht.

ST-Mons machte am Beispiel der abgesenkten Bürgersteige deutlich, dass der Teufel auch bei der Barrierefreiheit im Detail steckt: „Was für die Rollstuhl- und Rollatorfahrer von Vorteil ist, kann für Blinde und Sehbehinderte lebensgefährlich werden.“ In der Beharrlichkeit sieht die Vorsitzende des seit 1921 aktiven Blinden- und Sehbehindertenvereins die wichtigste Fähigkeit, die Menschen mit Handicap trainieren müssen, um zu ihrem Recht zu kommen. Ärgerlich findet es ST Mont, dass es blinde Menschen erheblich schwerer haben, einen Pflegegrat zu bekommen als etwa demenzkranke Menschen.

AGB hat sich bewährt

Die beiden Moderatoren von den Jungen Grünen wollten von den Vertreterinnen und Vertretern der Arbeitsgemeinschaft der Behinderten-Selbsthilfe und chronisch Kranker (AGB )auch wissen, ob es aus ihrer Sicht sinnvoll sei, die AGB in einen Inklusionsratsausschuss umzuwandeln. Aus Sicht von Beyer und ST Mont hat sich aber die in Mülheim 1996 bewusst gewählte Option der AGB bewährt. Beide räumten bei aller Kritik im Detail ein, dass die Sensibilisierung für die Belange von Menschen mit Behinderung innerhalb der Stadtverwaltung in den letzten Jahren deutlich zugenommen habe.

Katrin Langensiepen ließ ihre Sympathie für einen parlamentarischen Inklusionsausschuss durchblicken, stellte aber diplomatisch fest: "Entscheidend ist, dassein solches Gremium auch Zähne hat, um Forderungen durchzusetzen." 

Mehr Solidarität

Neben der Solidarität aller Menschen mit Behinderung sieht es Langenspiepen gesellschaftspolitisch als entscheidend an, dass Menschen mit Behinderung mehr als bisher in Machtpositionen, etwa in Parlamenten und Verwaltungen, vordringen, um in Schlüsselpositionen den Abbau von Barrieren durchzusetzen. "Wir haben kein Erkenntnisproblem. Wir haben aber einen akuten Handlungsbedarf", unterstrich Langensiepen.

Mit Blick auf Europäische Union sieht die Grüne Parlamentarierin unterschiedliche Geschwindigkeiten in der Inklusion. Am rückständigsten sind aus ihrer Sicht Ungarn und Polen. Italien und Spanien sieht sie als Vorreiter in der schulischen und beruflichen Inklusion, während die skandinavischen Staaten bei den Sozialleistungen und die baltischen Staaten in Sachen Digitalisierung die Nase vorn hätten.

Die in Deutschland betriebenen Förderschulen, Wohneinrichtungen und Werkstätten für behinderte Menschen sieht die Europapolitikerin aus Hannover als überholt an, weil diese Einrichtungen einem selbstbestimmten Leben behinderter Menschen in einer inklusiven Gesellschaft zuwiderlaufen.

Europäischer Schwerbehindertenausweis

Positiv beurteilt sie, dass das Europäische Parlament in der zu Ende gehenden Legislaturperiode den EU-Schwerbehindertenausweis auf den Weg gebracht hat. Er soll nach dem Vorbild des deutschen Schwerbehindertenausweises Menschen in allen EU-Ländern freie Fahrt in öffentlichen Verkehrsmitteln gewähren. Anders, als die deutsche Variante, soll der Schwerbehindertenausweis der EU kostenfrei zu bekommen sein und nicht nur für den öffentlichen Personennahverkehr und den regionalen Bahnverkehr, sondern auch für den ICE-Fernverkehr gelten. Langensiepen ließ keinen Zweifel daran, dass sie sich einen Ausbau des neuen EU-Schwerbehindertenausweises wünscht. Mit Blick auf den öffentlichen Personennahverkehr, auf den behinderten Menschen in besonderer Weise angewiesen sind, drängt das Europäische Parlament, laut Langensiepen, auf eine Richtlinie, die die Eisenbahngesellschaften wie die Deutsche Bahn zur Mitnahmepflicht für behinderte Passagiere zwingt. "Es reicht mir nicht, wenn die Deutsche Bahn erklärt: Wir erstatten Ihnen den Fahrpreis, weil sie nicht in der Lage war, einen Rollstuhlfahrer oder einen Rollatorfahrer barrierearm von A nach B zu bringen."

Mit Blick auf den Schwerbehindertenausweis, der hier zu Lande 90€ kostet und im Gegenzug freie Fahrt im öffentlichen Personennahverkehr und im regionalen Bahnverkehr sowie Steuererleichterungen und privilegierte Parkmöglichkeiten mit sich bringt, wies Alfred Beyer daraufhin, dass das Sozialamt in Essen auch für die Mülheimer Antragsteller zuständig sei, die einen Schwerbehindertenausweis beantragen oder ihn verlängern wollen.

Dass die Bereitschaft zur Inklusion auf dem ersten Arbeitsmarkt noch deutlich zunehmen muss, machte die stellvertretende Vorsitzende des Blinden- und Sehbehindertenvereins, Nicole Schmidt-Siegfried deutlich: "Viele Menschen mit Handicap haben Probleme damit zu ihrer Behinderung zu stehen, weil sie befürchten, von ihren Arbeitgebern aussortiert zu werden, auch wenn sie qualifiziert sind und gute Arbeit leisten.

Keine Taxi-Zuschläge 

Ein Mann aus dem Publikum empfahl den Grünen, sich dafür einzusetzen, dass Rollstuhlfahrer und Rollatorfahrer in Mülheim keinen Aufschlag mehr in Höhe von 5€ bezahlen müssen, wenn sie ein rollstuhlgerechtes Taxi bestellen. Und mit Blick auf das nicht nur für Sehbehinderte ärgerliche Kleingedruckte im amtlichen Schriftverkehr wies die Vorsitzende des Blinden- und Sehbehindertenvereins, Maria ST Mont daraufhin, dass die 2006 verabschiedete und 2009 von Deutschland ratifizierte Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen die öffentliche Verwaltung dazu verpflichte, ihre Schreiben, auf Nachfrage, in einer sehbehindertenfreundlichen Schrift zu versenden. Darüber hinaus gebe es für blinde und sehbehinderte Menschen die Möglichkeit, bei den bevorstehenden Europawahlen am 9. Juni Wahlschablonen zu nutzen, um ihre Stimme barrierefrei abgeben zu können.

Das Wahlrecht nutzen

In diesem Zusammenhang waren sich ST Mont und Langensiepen einig, dass behinderte Menschen ein besonders ausgeprägtes Interesse daran haben sollten, im Sinne ihrer Belange, bei den Europawahlen ihre Stimme für Parteien abzugeben, die für eine barrierefreie und tolerante Gesellschaft eintreten. Ausdrücklich begrüße es die Europaabgeordnete, dass auch Menschen mit geistiger Behinderung inzwischen nicht mehr vom Wahlrecht ausgeschlossen werden können. Allerdings sieht sie noch Nachholbedarf bei der barrierefreien und flächendeckenden Information der Wählerinnen und Wähler mit einer geistigen Behinderung.

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