Donnerstag, 30. Juni 2016

So gesehen: Fröhliche Nicht-Begegnung oder: Schon wieder abgehängt

Ich weiß nicht, ob Sie es noch wissen, dass ich vor einigen Tagen an dieser Stelle über meine zwiespältigen Aufzugserfahrungen mit einer jungen Dame geschrieben habe. Damals wollte ich abwärts und wurde abgehängt. Jetzt wollte ich aufwärts und wurde wieder von einer jungen Dame abgehängt, die vor meiner Nase die Aufzugtür zufallen ließ, so dass ich diesmal den Treppenaufstieg in die 5. Etage im Schweiße meines Angesichtes und im vollen Bewusstsein meines Übergewichtes antreten musste.

Ich nahm es als willkommene Trainingseinheit, auch wenn ich mich als nicht mehr ganz so junger Junggeselle bei jedem Treppenabsatz fragte, woran es eigentlich liegt, dass ich immer wieder von jungen Damen angehängt werde. Auch wenn ich beim Wettbewerb Mister Universum chancenlos wäre, glaubte ich beim Blick in den Spiegel bisher davon ausgegangen, dass mein äußeres Erscheinungsbild nicht derart abschreckend ist, dass junge Damen vor mir Ausreiß nehmen müssen.

Aber wenn ich genau darüber nachdenke, hatte die abweisende und abhängende weibliche Art wohl weniger damit zu tun, dass ich nicht smart genug wäre, als vielmehr damit, dass die gut verkabelten jungen Damen in beiden Fällen auf ihr Smartphone fixiert waren. „Sprechen Sie mich nicht an, sondern schreiben Sie mir eine SMS oder noch besser eine WhatsApp-Nachricht. Na, dann wünsche ich eine fröhliche Nichtbegegnung allerseits.

Dieser Text erschien am 25. Juni 2016 in der Neuen Ruhr Zeitung

Mittwoch, 29. Juni 2016

So gesehen: Nehmen wir es sportlich

Sport ist gesund. So hört man. Doch was man nicht nur bei der Fußball-EM, sondern auch auf heimischen Sportplätzen erlebt, sieht oft alles andere, als gesund aus. Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie ihren Orthopäden.

Da wird getreten, gegrätscht, gehalten, gezerrt,  gerempelt und manchmal sogar handfest zugelangt. Selbst zwei Brüder aus meiner Nachbarfamilie, die noch weit unterhalb des viel zu gut bezahlten Profi-Fußballs in einem örtlichen Amateurverein kicken, kamen mir schon mit bandagierten und geschienten Beinen und Armen entgegen. Bemerkenswert fand ich, dass sie ihre Blessuren fast stolz und ohne jede Wehleidigkeit ertrugen. Ein Mann muss eben tun, was ein Mann zu tun hat, und sei es Fußball spielen.

Und was ist mit den Frauen? Die spielen entweder selbst Fußball, aber offensichtlich mehr mit Köpfchen als mit Knocheneinsatz. Oder sie verbieten ihren kleinen und großen Männern vorsorglich ganz den gesundheitsgefährdenden Fußball und gehen stattdessen mit ihnen wandern, radfahren oder schwimmen, zumindest solange, bis sie beim Wandern umgeknickt, im Schwimmbad ausgerutscht oder beim Radfahren gestürzt sind. Irgendwie ist das Leben wohl immer lebensgefährlich, selbst wenn ich nur zu Hause vor mich hin döse und dann an Langeweile und Verfettung sterben sollte. Irgendwann erwischt es eben jeden. So oder so. Nehmen wir es sportlich.

Dieser Text erschien am 27. Juni 2016 in der Neuen Ruhr Zeitung 

Dienstag, 28. Juni 2016

Auch mit 90 geht Gisela Lentz noch regelmäßig in die Schule. Ihr Lebensmotto: "Man muss ein Dickkopf sein!"

Gisela Lentz im Kreise ihrer Gratulanten
Gisela Lentz ist ein Fleisch gewordenes Wunder. Auch mit 90 mag sie nicht auf der Couch sitzen und ihren Lebensabend genießen. Statt dessen geht sie lieber regelmäßig zur Max-Kölges-Schule an der Bruchstraße, um dort mit Teenagern im besten Pubertätsalter zu malen. Ist die Frau verrückt? Nein. Sie ist offensichtlich glücklich im Kreis ihrer Schüler, die aus aller Herren Länder nach Mülheim gekommen sind und hier für ihr Leben lernen.

Von Gisela Lentz, die seit ihren Kindertagen malt und eigentlich Biochemie studieren wollte, aber dann doch als Kunststudentin an der Folkwangschule landete, haben die Jugendlichen viel gelernt. „Sie ist immer für uns da, auch wenn es uns mal nicht so gut geht.“ „Sie hat mir gezeigt, dass Malen auch für Jungs spannend sein kann.“ „Der Malkurs bei ihr ist für mich, wie Urlaub“, sagen die Max-Kölges-Schüler über ihren ehrenamtliche Lehrerin, die vor über 10 Jahren durch das Centrum für bürgerschaftliches Engagement (CBE) zur Hauptschule an der Bruchstraße.
Auch wenn die Schule ab dem kommenden Schuljahr nur noch Außenstelle der Hexbachtal-Schule sein wird, wollen Gisela Lentz und ihre Schützlinge im dortigen Clubraum weitermalen. „Wer malt und zeichnet, schärft seinen Geist. Er geht mit offenen Augen durch die Welt und schaut genau hin“, beschreibt die vierfache Mutter und neunfache Großmutter den pädagogischen Mehrwert ihrer ehrenamtlichen Arbeit, die sie offensichtlich davon abhält in ihrem Kopf alt zu werden und die Lust aufs Leben zu verlieren. 

„Ihr habt mir viel gegeben mit eurer Dankbarkeit und eurer Kreativität. Und der besten Dank wäre für mich, wenn ihr einfach weitermalt. Und denkt daran. Man muss im ein Dickkopf sein, um im Leben voranzukommen und glücklich zu werden“, gibt die reife Lebenskünstlerin ihren Mal-Schülern von der Bruchstraße mit auf ihren Lebensweg.

Dieser Text erschien am 22. Juni 2016 in NRZ/WAZ

Montag, 27. Juni 2016

Ein Stück Mülheimer Fußbalgeschichte: Vor 40 Jahren spielten die Styrumer Löwen in der 2. Bundesliga

In den frühen 70er Jahren hatten die Styrumer Löwen oft
Grund zum Jubeln, wie dieses Fotos aus dem Mülheimer Stadtarchiv
zeigt
Bundesliga-Fußball in Styrum? Unglaublich, aber wahr, zumindest vor 40 Jahren.

Mitte der 70er Jahre erlebten die Löwen des 1. FC Mülheim-Styrum die Hochzeit ihrer inzwischen 92-jährigen Vereinsgeschichte. Damals hießen die Gegner, die ins Ruhrstadion kamen Borussia Dortmund, Eintracht Frankfurt, Hannover 96, Rot-Weiss Essen, Wattenscheid 09, Bayer Uerdingen oder FC St. Pauli.

Denn in den Jahren 1974 bis 1976 spielten die Löwen in der Zweiten Bundesliga-Nord. In ihrer ersten Zweit-Liga-Saison erreichten die Fußballer um Trainer Horst Witzler immerhin einen achtbaren 11. Platz im Tabellen-Mittelfeld. Und im DFB-Pokal war für die Styrumer erst in der dritten Runde gegen den Erst-Ligisten Eintracht Frankfurt Schluss. In den Reihen der Frankfurter spielten damals Weltmeister, wie Bernd Hölzenbein und Jürgen Grabowski.
Die Idole der Styrumer Fußballfreunde waren damals Abwehrspieler Ernst Bachmann, Torwart Manfred Manglitz, die Mittelfeld-Spieler Wilfried Mackscheidt und Reiner Greiffendorf sowie die Stürmer Otto Luttrop und Holger Osiek. Er sollte später unter anderem als Co-Trainer der deutschen und als Cheftrainer der australischen Nationalmannschaft.

20 000 Zuschauer im Styrumer Ruhrstadion waren damals keine Seltenheit. Nach einem Spiel gegen Rot-Weiss Essen schrieb die lokale Sportpresse zum Beispiel im Januar 1973: „Die Straßen in Styrum quollen über. Das Spiel des Jahres lockte die Massen.“
Begeistert waren die Styrumer Fan-Massen auch schon vor dem Aufstieg in die damals vom DFB neugebildete Zweite Bundesliga Nord. Unter Witzlers Vorgänger Albert Becker gehörten die Löwen zu den Top-Teams der Regionalliga West und wurden 1972 Niederrheinmeister.

Danach wollte man in Styrum das ganz große Rad drehen. „Alle wollen in die Erste Bundesliga, warum sollten wir das nicht auch wollen“, gab sich FCM-Trainer Witzler vor dem Start in die erste Zweitliga-Saison zuversichtlich. Und erste Siege feuerten die Styrumer Fußball-Euphorie an.

Doch auch schon damals, ging es im Bundesliga-Fußball eben nicht nur um sportliche Leistung, sondern auch um Geld. Die Stadt gab dem Club ein Darlehn von 160 000 Mark, um das Ruhrstadion zweitligatauglich zu machen. Die Mannesmann-Röhrenwerke und die Siemens Kraftwerk-Union begleiteten die Löwen als Sponsoren.
Dabei bezog sich ihre Unterstützung vor allem darauf, Spielern, einen trainingsfreundlichen Arbeitsplatz anzubieten, der sie finanziell absicherte. Auch die Einnahmen durch Fernsehübertragungsrechte waren damals mit rund 30 000 Mark pro Saison noch eher bescheiden.

Statt des Aufstiegs in die Erste Bundesliga, kam nach der zweiten Saison in der Zweiten Bundesliga der Abstieg ins Amateurlager. Auch wenn der Mülheimer Traditionsclub in den folgenden Jahren immer mal wieder auf- und abstieg, gelang den Löwen doch nie wieder der erneute Sprung in den Profi-Fußball.

Was nach dem Abenteuer Zweite Bundesliga blieb, war ein Schuldenberg von rund 1,6 Millionen Mark und die Notwendigkeit, das Vereinsheim an der Moritzstraße zu verkaufen.

Weitere Informationen rund um den Styrumer Traditionsclub auf www.1fc-muelheim.de

Dieser Text erschien am 25. Juni 2016 in der NRZ/WAZ

Sonntag, 26. Juni 2016

"Wir brauchen neue Ideen und Impulse", sagt Pfarrer Manfred von Schwartzenberg mit Blick auf die Zukunft der Kirche vor Ort

Manfred von Schwartzenber 2011
Am 25. Juni lädt die Pfarrgemeinde Sankt Barbara zu einer Zukunftswerkstatt in ihr Pfarrheim am Schildberg ein. Was es damit auf sich hat, erklärt der zuständige Pfarrer Manfred von Schwartzenberg.

Warum braucht Sankt Barbara eine Zukunftswerkstatt?
Weil wir uns darüber unterhalten müssen, wie wir Kirche vor Ort leben und gestalten wollen, wenn wir künftig noch weniger Kirchenmitglieder und Kirchensteuereinnahmen haben werden, als das heute der Fall ist.

Wer sollte zu dieser Veranstaltung kommen?
Alle Bürger aus dem Mülheimer Norden und dem angrenzenden Oberhausener Teil unserer Pfarrgemeinde, denen das kirchliche Leben in unserer Stadt nicht völlig gleichgültig ist und die das Gefühl haben, dass die Kirche in unserer Stadtgesellschaft auch künftig eine Rolle spielen sollte, wenn es um Wertevermittlung, Sinnstiftung und soziales Engagement geht.

Reicht es denn nicht, wenn sich die aktiven Gemeindemitglieder treffen und ihre Ergebnisse im Rahmen des aktuellen Pfarreientwicklungsprozesses dem Bischof vorlegen?
Nein. Denn wir müssen uns als Kirche eingestehen, dass wir die Leute nicht mehr in ausreichender Weise ansprechen und gewinnen können. Daran hat offensichtlich auch unsere umfangreiche Arbeit in den Bereichen Kinder, Jugend, Caritas, Kirchenmusik und Seelsorge nichts geändert. Also sind wir als Gemeinde auf frische Ideen und Impulse angewiesen. Und die müssen auch von denen kommen, die uns vielleicht sagen können, warum sie bisher mit Gemeinde- und Kirchenleben nichts anfangen konnten. Nur so kann der Pfarreiprozess am Ende auch ein Erfolg werden und mehr produzieren als fromme Papiere und Appelle.

Dieser Text erschien am 24. Juni in der Neuen Ruhr Zeitung

Samstag, 25. Juni 2016

Der Brexit schockt auch Mülheim: Auch die englische Partnerstadt Darlington stimm jetzt für den britischen Austritt aus der Europäischen Union

Tom Nutt ist Labour-Stadtrat
in Darlington und Vorsitzender
der Twin-Town-Association
Das Entsetzen über den Brexit ist einhellig, ob man mit dem Vorsitzenden des Städtepartnerschaftsvereins in Darlington, Tom Nutt, oder mit Mülheimern spricht, denen die seit 1953 gewachsene Städtepartnerschaft mit dem Pendant im Vereinigten Königreich am Herzen liegt.

In der nordenglischen Partnerstadt war die Zustimmung zum Brexit noch deutlicher als im Landesdurchschnitt. Stimmten auf der nationalen Ebene  51,9 Prozent für den Brexit, so waren es in Darlington sogar 56,2 Prozent. Entsprechend geringer, 43,8 statt 48,1 Prozent, fiel der Anteil der Befürworter einer britischen EU-Mitgliedschaft aus. Insgesamt rund 55 000 Darlingtoner beteiligten sich am Referendum, wobei das Brexit-Lager einen Stimmenvorsprung von rund 6000 Stimmen einfuhr. Auch der Anführer der Brexit-Befürworter, Boris Johnson (siehe Foto unten) hatte in Darlington für einen EU-Austritt geworben. „Ich kann nur hoffen, dass Leute wie Boris Johnson oder Nigel Farrage von der rechten UKIP-Party nicht den zukünftigen politischen Kurs bestimmen werden“, sagt eine Waliserin, die seit 1965 in Mülheim lebt. Und Tom Nutt stellt fest: „Ich bin angesichts des Resultats entsetzt. Ich habe viele Jahre für bessere Beziehungen zu Deutschland, Frankreich, Polen und Italien gearbeitet. Und ich kann nur hoffen, dass unsere Freunde unsere Freunde bleiben werden. Ich glaube, das Ergebnis war keine Abstimmung gegen Europa, sondern gegen die Politik der britischen Regierung, von der sich vor allem viele Arbeitnehmer sozial abgehängt fühlen.“ Nutt fürchtet, dass sich Schottland und Nordirland jetzt von England abwenden und eine eigenständige Mitgliedschaft in der EU anstreben könnten.

Der Vorsitzende des Mülheimer Städtepartnerschaftsvereins, Gerhard Ribbrock, geht derweil davon aus, „dass der Brexit vielleicht Auswirkungen auf den Wechselkurs zwischen Euro und Pfund haben wird“. Er sieht aber keine unmittelbaren Auswirkungen auf die Städtepartnerschaft mit Darlington: „Der Brexit ist höhere Politik. Damit haben wir nichts zu tun. Für uns steht auch bei unserer nächsten Bürgerfahrt nach Darlington, im Juni 2017, die Begegnung der Menschen im Vordergrund“, sagt Ribbrock.

Doch sein für Darlington zuständiger Stellvertreter Manfred Krister warnt vor negativen Auswirkungen des Brexits. Er fürchtet, dass es künftig deutlich weniger Gelder für Schüler- und Studenten-Begegnungen mit Großbritannien gibt.


Die Jugend wird zu leiden haben



„Ich bin sehr enttäuscht, zumal ich in den letzten Tagen doch auf ein anderes Ergebnis gehofft hatte.  Ich komme ursprünglich aus Milton-Keens, nördlich von London, und lebe seit 1981 in Mülheim. Wenn ich heute noch in England leben würde, würde ich mir ernsthafte Sorgen um meine Zukunft machen. Denn ich befürchte, dass nach dem Brexit in Großbritannien viele Arbeitsplätze verloren gehen, und das nicht nur in London.“ Deborah Wosmann 

„Der Brexit wird negative Auswirkungen auf die wirtschaftlichen Beziehungen haben. Ich glaube allerdings geringere auf dem Kontinent als auf der Insel. Was mich daran besonders ärgert, ist der fatale Ausblick in die Zukunft für die jungen Briten. 80% der 18- bis 24-Jährigen sind für den Verbleib in der EU, wohingegen 63% der über 65-Jährigen mit ,Leave’ gestimmt haben. Ihr Motiv: Früher war es besser.“ Hanns-Peter Windfeder, Unternehmer

„Ich bin schockiert.  Nach dem, was mir meine englischen Freunde gesagt hatten, hatte ich auf einen knappen Sieg des Remain-Lagers gehofft. Vor allem die jungen Briten, die mehrheitlich für den Verbleib in der EU gestimmt haben, werden unter den wirtschaftlichen Folgen des Brexits leiden. Es ist schlimm, dass eine gute Entwicklung so kaputt gemacht wird.“ Manfred Krister

Welche Folgen hat der Brexit für die Wirtschaft?

Auch in Mülheims nordenglischer Partnerstadt Darlington, die seit 1953 mit Mülheim verbunden ist,  konnte Londons Ex-Oberbürgermeister Boris Johnson offensichtlich punkten.
Der Chef der örtlichen Agentur für Arbeit, Jürgen Koch, sieht im Abstimmungserfolg der Brexit-Befürworter „ein schlechtes Zeichen“. Angesichts einer stabilen Binnennachfrage und nicht allzu ausgeprägter Wirtschaftsbeziehungen zu Großbritannien sieht er keine akuten Auswirkungen auf den heimischen Arbeitsmarkt. Auch weist er darauf hin, dass es mit Nicht-EU-Mitgliedern, wie der Schweiz oder Norwegen, gut funktionierende Abkommen gebe, die die Freizügigkeit der im jeweils anderen Land tätigen Arbeitnehmer ausreichend regele. Doch die müssen erst ausgehandelt werden.


„Der Brexit ist eine äußerst schlechte Nachricht für die Wirtschaft in der Region Mülheim-Essen-Oberhausen“, sagt dagegen der Geschäftsführer der Industrie- und Handelskammer, Gerald Püchel. Laut IHK konnten mehr als 200 Unternehmen der Region allein 2015 Waren im Wert von über 800 Millionen Euro nach Großbritannien exportieren. Exportiert wurden vor allem Produkte aus den Bereichen Maschinenbau, Elektrotechnik und Chemie.

Dieser Beitrag erschien als Themenseite am 25. Juni 2016 in NRZ/WAZ

Freitag, 24. Juni 2016

Die Verwaltungsspitze will die lokale Klima- und Energiewende vorantreiben

Ulrike Marx arbeitet meim Amt für
Umweltschutz und ist dort als
Koordinatorin für alle städtischen
Klimaschutzaktivitäten zuständig. 
Statistisch betrachtet verursacht jeder der 170.000 Mülheimer jährlich den Ausstoß von 10 Tonnen CO2, immerhin 5 Tonnen weniger, als noch 1992, aber immer noch zu viel. 2050 sollen es nur noch 2 Tonen pro Bürger und Jahr sein. Außerdem soll der Anteil der energetisch sanierten Gebäude in Mülheim in den nächsten drei Jahren von 1 auf 2 Prozent ansteigen. Auch der Anteil der erneuerbaren Energiequellen (Biogas, Wasserkraft, Windkraft und Solaranlagen) soll von derzeit 9 Prozent deutlich ansteigen. Diese Ziele gaben jetzt Oberbürgermeister Ulrich Scholten, Umweltdezernent Peter Vermeulen und Klimaschutzkoordinatorin Ulrike Marx jetzt für die Weiterentwicklung der lokalen Klimaende aus.
Unterstützt durch einen Ratsbeschluss wird die Stadt in den kommenden fünf Jahren jeweils 100.000 Euro in die Förderung des Klimaschutzes investieren. Außerdem hofft man im Rathaus auf Fördermittel, unter anderem von der bundeseigenen Kreditanstalt für Wiederaufbau. In drei Modellquartieren in Stadtmitte, Heißen und Dümpten, sollen Hauseigentümer durch eine "aufsuchende Energieberatung" von einer energetischen Sanierung ihrer Gebäude und den Umstieg auf umweltfreundliche, von dezentralen lokalen Blockheizkraftwerken und Kraftwärmekopplung erzeugter Nahwärme überzeugt werden.

Dezentrale Nahwärme als Klimaschutz

"Steigt ein Hauseigentümer von einer klassischen Stromheizung auf Nahwärme um, kann er damit seine CO2-Emissionen um 90 Prozent reduzieren", betonte Ulrike Marx bei der Vorstellung des Sachstandberichtes zum Mülheimer Wärme- und Stromverbrauch. Die Tatsache, dass 60 Prozent des Mülheimer CO2-Ausstoßes durch die Erzeugung oder den Verlust von Wärme verursacht werden, lässt Marx "eine lokale Wärmewende" fordern. Für ihren Bericht hat sie in den vergangenen 3 Jahren 62000 Mülheimer Gebäudedaten ausgewertet. Marx attestiert der örtlichen Industrie ein höhres Problembewusstsein als den privaten Hauseigentümern.
Während die Industrie ihren CO2-Ausstoß seit 1992 um 25 Prozent reduzieren konnte, wurde der CO2-Ausstoß durch Wärmeerzeugung und Wärmeverlust im privaten Wohnbereich nur um 1 Prozent gesenkt. Zeitgleich wurde der durch die motorisierte Mobilität erzeugte CO2-Außsstoß sogar um etwa 1,5 Prozent gesteigert, weil die Zahl der Kraftfahrzeuge auf Mülheims Straßen weiter gestiegen ist.
Mit dem Thema Mobilität wird sich der 2. Sachstandsbericht zum Stand der örtlichen Klimawende befassen.

Bürger einbeziehen

Umweltdezernent Peter Vermeulen weist in diesem Zusammenhang auf den konsequenten Ausbau des Mülheimer Radwegenetzes hin und betont: "Klimaschutz kann man nicht von oben herab verordnen, sondern nur zusammen mit den Bürgern machen." Mit diesem Ziel hat Oberbürgermeister Ulrich Scholten den Klimaschutz jetzt zur Chefsache erklärt. Im Referat des Oberbürgermeisters wird eine Steuerungsgruppe für den koordinierten Klimaschutz eingerichtet. Die Mülheimer Klimaschutzinitiative und das Agenda21-Büro werden zusammengelegt und demnächst in ein zentral gelegenes Ladenlokal einziehen.

Gemeinsame Geschäftsstelle

Auch mit Hilfe dieser Anlaufstelle, die von Hartmut Kremer und Cornelia Schwabe betreut wird, will der OB alle Akteure in Sachen Klimaschutz an einen Tisch holen. Nicht nur Energieerzeuger, wie der Klimaschutz-Kooperationspartner Medl oder Wirtschafts,- und Umweltverbände, sondern auch interessierte und fachkundige Bürger sollen sich in den örtlichen Klima-Dialog mit einbringen. "Um Mülheim als lebenswerte Stadt voranzubringen, müssen wir die Energiewende beispielhaft, aus der Hand der Bürger dieser Stadt und für ihre Kinder vorantreiben", blickt der Oberbürgermeister in die Zukunft.

Dieser Text erschien am 15. Juni 2016 in der Mülheimer Woche 

Donnerstag, 23. Juni 2016

„Ich bete dafüre, dass wir in der EU bleiben“ Gespräch mit Tom Nutt, der in Mülheims Partnerstadt Darlington dem Stadtrat angehört über die Ausgangs- und Gefühlslage am Tage des EU-Rederendums

Tom Nutt
Tom Nutt, Vorsitzender des Städtepartnerschaftsvereins in Darlington, gehört seit 2003 für die Labour-Party dem Stadtrat der nordenglischen Partnerstadt an. Dort ist er Mitglied des Gesundheitsausschusses. Am Tag des britischen EU-Referendums erklärt er, warum viele seiner Landsleute raus aus der EU wollen und warum er ein englischer EU-Bürger bleiben will.

Warum wollen so viele Briten raus aus der EU?

Ich glaube, dass viele die Fakten und Hintergründe  nicht verstehen oder nicht kennen, die für unsere EU-Mitgliedschaft sprechen. Sie tun sich deshalb auch schwer, die sehr unterschiedlichen Informationen der polarisierenden Kampagnen für einen Verbleib oder für einen Austritt in der EU richtig einzuordnen. Viele, die für einen EU-Austritt stimmen, haben vor allem Angst vor der Reise- und Niederlassungsfreiheit in der EU und der damit zunehmenden Zahl von Einwanderern.

Wie argumentieren Sie für eine britische EU-Mitgliedschaft?

Die EU hat uns 70 Jahre Frieden zwischen den europäischen Ländern gebracht. Das müssen wir fortsetzen und bewahren. Deshalb müssen wir zusammenbleiben. Wir sind aber auch Teil eines großen Wirtschaftsraumes und müssten bei einem Austritt erst mal über Jahre neue Handelsverträge aushandeln. Das würde unserer Wirtschaft und ihrem Export schaden. Denn ein großer Wirtschaftsraum ist als Markt und Partner attraktiver und stärker als ein einzelnes Land. Außerdem haben wir viele EU-Bürger, die bei uns arbeiten und die wir auch brauchen. Und die EU stärkt die sozialen Arbeitnehmerrechte. Auch als Tourist möchte ich weiter frei durch die EU reisen. Das mache ich gerne. Auch Studenten- und Schüleraustausch wären ohne die EU-Mitgliedschaft so nicht möglich.

Wie wird das Referendum ausgehen?

Das wage ich nicht vorauszusagen. Das Rennen ist einfach zu eng. Aber ich bete dafür, dass wir in der EU bleiben und Europa gemeinsam besser machen.

Ihre pro-europäische Parteifreundin und Parlamentsabgeordnete Jo Cox hat ihr Eintreten für den Verbleib in der EU mit dem Leben bezahlt. Was sagen Sie dazu?

Wir sind schockiert vom tragischen Tod einer so wundervollen und begabten Frau, die das Zeug dazu hatte, an die Spitze ihrer Profession zu gelangen. Jo Cox, die einen Ehemann und zwei kleine Kinder hinterlässt, war ein sehr dynamischer Mensch. Sie hat sich unter anderem für die Belange der Flüchtlinge eingesetzt, aber auch jedem anderen geholfen, der sie um Unterstützung gebeten hat. Auch in Darlington gab es eine Trauerfeier, um ihr Leben zu würdigen.

Dieser Text erschien am 23. Juni in der NRZ/WAZ

Mittwoch, 22. Juni 2016

Zeitsprung: Das alte Schulhaus an der Gathestraße

Heute ist die alte Schule an der Gathestraße eine
Außenstelle der Schule am Hexbachtal
Der alten Schule an der Gathestraße sieht man heute an, dass sie schon mal bessere Tage gesehen hat. Anfang des 20. Jahrhunderts war sie eines der beliebtesten Postkarten-Motive aus dem „Königreich“ Dümpten. Die historische Aufnahme aus dem Stadtarchiv, die der Dümptener Bürgerverein auch schon mal in einem seiner Dümptener Bilderbögen veröffentlich hat, beweist es.
Heute gehört die Schule an der Gathestraße als Teilstandort zur Schule am Hexbachtal. Hans-Dieter Strunck vom Volkshochschul-Arbeitskreis Spurensuche hat sich im Rahmen eines Buchprojektes über 400 Jahre Mülheimer Schulgeschichte mit dem alten Schulhaus beschäftigt. In seinem Text und in anderen Quellen aus dem Stadtarchiv, erfährt man, dass die Schule an der Gathestraße 1871 als zweite evangelische Volksschule in Dümpten eröffnet wurde.

Obwohl damals von Ökumene keine Rede war, ging man das Schulleben an der Gathestraße pragmatisch an und nahm nicht nur evangelische, sondern auch katholische Schüler auf. F+r alle galt das unter dem Giebel eingemeißelte Schulmotto "Fleiß bringt Preis."

Fünf Lehrer unterrichteten zu Kaisers Zeiten bis zu 80 Kinder in einer Klasse. Den Begriff der individuellen Förderung hätten die damals noch schlecht bezahlten Lehrer nicht verstanden. In der achtjährigen Volksschule wurde den Kindern das Rechnen, Schreiben, Lesen und Beten vor allem mit Strenge und Disziplin eingertrichtert. Doch auch an der Volksschule Gathestraße, die von 1968 bis 2013 als Gemeinschaftsgrundschule genutzt wurde, gingen die Zeiten weder pädagogisch noch bautechnisch spurlos vorbei.

Dieser Text erschien am 20. Juni 2016 in der Neuen Ruhr Zeitung

Dienstag, 21. Juni 2016

So gesehen: Nur keine unnötige Hast

Man liest und hört oft von Menschen, die sich abgehängt fühlen. Und plötzlich gehört man selbst dazu, zum Club der Abgehängten. Bei mir schlich sich jetzt das Gefühl ein, alt auszusehen, als ich unsere junge Nachbarin im Treppenhaus traf. Sie war, wie ich, auf dem Weg nach unten und ich lud sie ein, mit mir abwärts zu fahren. „Nein, danke, der Aufzug ist mir zu langsam!“ lehnte sie mit einem Lächeln ab und sprinntete, ehe ich etwas sagen konnte, treppabwärts. Nachdenklich bestieg ich den Aufzug und fühlte mich um 40 Jahre älter und  um 20 Kilo schwerer. Mein erster Impuls, selbst die Treppe zu nutzen, versagte im Angesicht ihres unverschämt leichtfüßigen Treppensprints. Das Blei in meinen Glieder wog schwer. Doch dann erlöste mich wenig später eine freundliche alte Dame, mit der ich beim Einkauf am Kühlregal in ein Gespräch über die Vor- und Nachteile verschiedener Rollatormodelle kam. Nach der Fachsimpelei im Supernarkt kam mir ihr Rollator wie ein Sportgerät vor und ich fühlte mich plötzlich wieder jung und ch lockerleicht, wohl wisssend, dass jeder sein eigenes Tempo finden muss, damit ihm auf der langen Lebensstrecke der mentale Treibstoff nicht ausgeht.

Dieser Text erschien am 21. Juni 2016 in der Neuen Ruhr Zeitung

Montag, 20. Juni 2016

So gesehen: Keine Happy End für den flotten Dreier

Ich dachte immer: Gemeinsam ist man stärker, vor allem im Ruhrgebiet, in dem das Wort Kumpel Programm ist. Doch wenn es ums Geld geht, hört die Liebe oft auf. Das gilt nicht nur für die zwischenmenschlichen,- sondern auch für die Verkehrsverbindungen. Die Scheidungsabsicht der Duisburger Verkehrsgesellschaft zeigt es.

Gerade erst haben Politiker Land Stadt, Land und Revier zur Schippe gegriffen, um den Radschnellweg durchs Ruhrgebiet auf den Weg zu bringen, da zeigen sich die Bus- und Bahnbetriebe aus der Nachbarstadt als Spielverderber und Bremsklotz. Man sollte meinen, dass kommunale Betriebe, die mit Nahverkehr ihr Geld verdienen, wissen, wie man Menschen schnell und unkompliziert zusammenbringt. Doch Reisende hält man nicht auf. Und vielleicht wird die Nahverkehrsehe zwischen Mülheim und Essen ja eine Erfolgsgeschichte, nachdem der Dreiecksgeschichte Via - das kennt man auch aus anderen Verkehrsbereichen des Lebens - kein Happy End beschieden war.

Dieser Text erschien am 18. Juni 2016 in der Neuen Ruhr Zeitung

Sonntag, 19. Juni 2016

Katholische Frauen aus Sankt Barbara packten wieder an und ein, damit sozial benachteiligte Kinder in Rumänien eine Chance fürs Leben bekommen

Helfen mach Freude: Die Frauen von St. Barbara zeigen es.
Helfen macht Freude. Man merkt es, wenn man den Pfarrsaal von St. Barbara betritt. Es wird viel gelacht. Und zwischendurch gönnen sich die 24 Frauen, die im Pfarrheim am Schildberg fleißig Pakete packen auch eine kleine Stärkung mit Kaffee und Brötchen.
Wir sind bei der Katholischen Frauengemeinschaft, die bereits seit 24 Jahren ein- bis zweimal pro Jahr einen LKW voller Pakete mit Spielzeug, Wäsche, Kleidung und Werkzeugen in das 1700 Kilometer entfernte Pecio Nou schicken. Die Dümptener Frauen packen ein, was ihre Nachbarn nicht mehr brauchen, was aber im westrumänischen Pecio Nou gebraucht wird. Sogar alte und ausgemusterte Brillen, die der Mülheimer Niederlassungsleiter der Barmer Ersatzkasse, Norbert Misak, über das Jahr von Versicherten mit neuer Brille bekommt, kommen dort zu neuen Ehren. „In Pecio Nou werden die alten Brillen einfach so lange ausprobiert, bis sie einem Mädchen oder einem Jungen passen und zu einem besseren Sehvermögen verhelfen“, weiß KFD-Sprecherin Christel Wentzel von früheren Besuchen. In der westrumänischen Gemeinde, die zum Bistum Temesvar gehört, betreibt die Caritas ein Kinderheim, das von der aus dem Ruhrgebiet stammenden Sozialarbeiterin Maria Maas Anfang der 90er Jahre aufgebaut worden ist. Durch sie wurden auch die katholischen Frauen aus St. Barbara auf die Einrichtung in Pecio Nou aufmerksam. Dort leben in fünf Häusern Kinder aus sozial benachteiligten Familien, deren Eltern sich nicht ausreichend um sie kümmern können. „Wir freuen uns darüber, dass wir als KFD in St. Barbara einen kleinen Beitrag dazu leisten konnten und können, dass es diesen Kinder, die in familienähnlichen Wohngruppen aufwachsen, etwas besser geht“, beschreibt Wentzel die Motivation der tatkräftigen Frauengemeinschaft, die beim Verladen der Pakete für Rumänien auch diesmal von sechs handfesten Männern unterstützt worden sind. Einer von ihnen, Helmut Weihrauch, fährt den LKW nach Pecio Nou. Geldspenden in Höhe von 985 Euro helfen den auch von Gemeindemitgliedern und der Caritas in Oberhausen unterstützten Barbarianerinnen, den Transport zu finanzieren. Auch wenn in diesem Jahr weniger Sachspenden von Dümpten nachRumänien rollen, weil vieles bereits für Flüchtlinge gespendet worden ist, lassen sich die KFD-Frauen in ihrem Einsatz für die Kinder von Pecio Nou nicht ermutigen. Denn sie wissen, dass viele junge Erwachsene, die dort als Kinder gefördert worden sind, vor allem deshalb eine Ausbildung abschließen, ins Berufsleben einsteigen und eine Familie gründen konnten, weil es Menschen, wie die KFD-Frauen aus St. Barbara gegeben hat, die an sie und ihre Zukunft im eigenen Heimatland geglaubt und etwas dafür getan haben.

Dieser Text erschien im April 2016 im Neuen Ruhrwort

Samstag, 18. Juni 2016

Die Nummer 1 aus Speldorf: Fritz Buchloh war in einer Zeit Torwart der deutschen Nationalmannschaft, als die Fußball-Profis noch Amateure waren

Fritz Buchloh
1909-1998
Foto Stadtarchiv Mülheim
Ein Nationaltorhüter aus Mülheim? Was in diesen EM-Tagen unvorstellbar klingt, war in den Jahren 1932 bis 1936 Wirklichkeit. 17-mal hütete Fritz Buchloh damals das Tor der Deutschen Fußball-Nationalmannschaft.

Reichstrainer Otto Nerz hatte den Torwart des VFB Speldorf bei einem Spiel der Westdeutschen Länderauswahl entdeckt und nominiert.

Am 4. Dezember 1932 stand der damals 23-Jährige Mülheimer erstmals im Tor der deutschen Nationalmannschaft. Sportlerpech, dass er bei seinem Debüt gegen die Niederlande zweimal hinter sich greifen musste. Die Deutschen verloren ihr Auswärtsspiel in Amsterdam mit 0:2. Doch Trainer Nerz, Vorgänger des späteren WM-Trainers Sepp Herberger, erkannte das Talent des Mülheimers und behielt ihn in seinem Kader.

Buchlohs zweite Chance kam schon bald. Am 1. Januar 1933 spielte Deutschland in Bologna gegen die spätere Weltmeister-Elf der Italiener. In der 50. Minute, Deutschland lag bereits 1:3 zurück, drohte das Team von Otto Nerz auseinanderzubrechen, nachdem Torwart Hans Jakob von Jahn Regensburg verletzt ausgewechselt werden musste. Doch sein Ersatzmann Fritz Buchloh brachte die italienischen Weltklasse-Stürmer mit seinen Glanzparaden zur Verzweiflung. So blieb es immerhin beim 1:3. Tags darauf feierte die deutsche Sportpresse den Mann vom VFB Speldorf als „Helden von Bologna.“ Buchloh erinnerte sich später: „Dieses Spiel war für mich, wie ein Traum!“

Von Millionen-Gagen, a la Schweinsteiger, Gomez, Neuer und Co konnten Buchloh und seine Kicker-Kollegen noch nicht mal träumen. Buchloh, der nach seinem Abitur am heutigen Karl-Ziegler-Gymnasium zunächst in der Mülheimer und später in der Essener Stadtverwaltung arbeitete, bekam bei seinen Länderspieleinsätzen gerade mal die Fahrtkosten vom DFB erstattet. Das waren bei einem Länderspiel gegen Belgien, 1935 in Duisburg, gerade mal 40 Pfennige für die Straßenbahnfahrt in die Nachbarstadt.

Jahrzehnte später, als sich der deutsche Spitzen-Fußball längst professionalisiert und kommerzialisiert hatte, sagte Buchloh in einem Zeitungsinterview: „Sportler werden heute nicht nach ihrer Leistung, sondern nach der Popularität ihres Sportes bezahlt. Aber ich glaube, dass der Fußball früher fröhlicher und unkomplizierter war.“
Obwohl Buchloh 1934 und 1938 zum deutschen WM-Kader gehörte, erlebte er den vielleicht größten Moment seiner Amateur-Fußball-Karriere bei den Olympischen Spielen in Berlin beim 9:0-Sieg über Luxemburg. Dieser Höhepunkt sollte auch schon fast der Endpunkt seiner aktiven Zeit als Nationaltorwart sein. Denn am 13. September 1936 stand Fritz Buchloh bei deutschen 2:0-Sieg über Polen zum letzten Mal zwischen den deutschen Pfosten.

Doch Buchloh blieb dem Fußball treu, wechselte als Torwart vom VFB Speldorf zu Herta BSC und später zu Schwarz Weiß Essen. Außerdem ließ er sich in Berlin zum Diplom-Sportlehrer ausbilden. Das eröffnete ihm nach Kriegsteilnahme, Verwundung und Kriegsgefangenschaft nach 1945 die Möglichkeit als Trainer zu arbeiten. Buchloh trainierte nach dem Krieg nicht nur Schwarz-Weiß Essen und die  Niederrhein-Auswahl, sondern für einige Jahre auch die isländische Nationalmannschaft. Damit war er der erste im Ausland aktive deutsche Fußballtrainer.

Doch seinen Lebensunterhalt verdiente er weiter als Mitarbeiter im Essener Sportamt. Nebenberuflich engagierte sich Buchloh als Schatzmeister des deutschen und des europäischen Fußball-Lehrerverbandes sowie als Vorsitzender und Ehrenvorsitzender seines alten Clubs VFB Speldorf. Für seine sportliche und menschliche Lebensleistung zeichnete die Bürgergesellschaft Mausefalle Fritz Buchloh 1981 mit ihrem Ehrenpreis Jobs, der Kandidat aus. Und nach seinem Tod am 22. Juli 1998 würdigte ihn der VFB Speldorf in einem Nachruf als „ein leuchtendes Vorbild für den Nachwuchs.“

Dieser Text erschien am 17. Juni 2016 in der NRZ und in der WAZ 

Freitag, 17. Juni 2016

"Unsere Aufgabe ist noch nicht erfüllt": Die FDP feierte ihren 70. Geburtstag

Liberales Familienfoto am Ruhrkristall: Paul Gerhard Bethge,
Ulrike Flach, Brigitte Mangen, Christian Lindner und Christian Mangen
Bei der FDP ist man das Warten gewohnt. Derzeit warten die Liberalen bekanntlich auf ihren Wiedereinzug in den Bundestag. Und so ließ ihr Kreisvorsitzender Christian Mangen erst einmal 70 Jahre FDP in Mülheim Revue passieren, weil der Bundesvorsitzende der Liberalen, Christian Lindner, im Stau steckte und erst später zu den 150 Gästen im Ruhrkristall sprechen konnte.

Mangen nannte einige historische Fakten, um seine Parteifreunde für die Gegenwart und Zukunft der Mülheimer Liberalen zu inspirieren. "Mit Wilhelm Dörnhaus, Alfred Jutzi und Paul Gerhard Bethge hat die FDP im Laufe von 70 Jahren drei Bürgermeister gestellt. Und ich bin davon überzeugt, dass Paul Gerhard Bethge, der heute unter uns ist, nicht der letzte Bürgermeister gewesen sein wird, den die FDP in Mülheim stellt." Keinen Zweifel ließ der liberale Ratsherr auch daran, dass er heute lieber 405 Parteifreunde (wie 1946/47) haben würde, als derzeit nur 130.
Auch die 5,3 Prozent, die die FDP bei der Kommunalwahl 2014 gewonnen hat, nehmen sich im Vergleich zu den 20 Prozent aus dem Jahr 1952 bescheiden aus. Damals saßen acht Liberale im Stadtrat. Heute sind es mit Mangen, Peter Beitz und Meike Ostermann nur drei. "Wir müssen als FDP für eine Politik stehen, die für eine attraktive Bildungs,- Kultur- und Freizeit-Infrastruktur sorgt, bürokratische Hemmnisse für Existenzgründer und Unternehmer abbaut und die Gewerbesteuer auch mal wieder absenkt. Denn nur so können wir den Wirtschaftsstandort Mülheim stärken", unterstrich Mangens Ratskollegin Ostermann in einem Gespräch am Rande der Festveranstaltung.

Liberale wollen Lernwerkstatt retten

Parteichef Mangen verbuchte das unbeirrte Festhalten der FDP am Projekt Ruhrbania ebenso als Pluspunkt für seine Partei, wie die unter anderem von der ehemaligen Kreisparteivorsitzenden und Bundestagsabgeordneten Ulrike Flach getragene Initiative zur Rettung der Lernwerkstatt Natur im Witthausbusch. Spät, aber nicht zu spät griff der FDP-Bundesvorsitzende Christian Lindner in den Festakt ein und ermutigte seine Mülheimer Parteifreunde mit einem rhetorisch geschickten Brückenschlag zwischen Geschichte und Tagespolitik. Mit Blick auf die Kontroverse um den Satiriker Jan Böhmermann und seine Anklage durch den türkischen Staatspräsidenten Erdogan, die bürokratischen Ausführungsbestimmungen des gesetzlichen Mindestlohns, die Personal- und Sachausstattung von Polizei und Justiz, die Forderung nach der Wiedereinführung einer Vermögenssteuer, die zunehmende staatliche Datensammelwut in Zeiten des Terrors und die ebenfalls zunehmende Europa-Skepsis, machte Lindner deutlich: "Die Aufgabe der Liberalen als der Partei der Marktwirtschaft, der Bürgerrechte, des Bürokratie-Abbaus, der Chancengerechtigkeit der europäischen Integration ist noch lange nicht erfüllt." Auch für die Mülheimer FDP sehen die Alt-Liberalen Bethge und Ex-Fraktionschefin Brigitte Mangen lohnende Handlungsfelder im Bereich der lokalen Wirtschaftsförderung und Bildungspolitik. "Durch die Max-Planck-Institute und die Hochschule Ruhr-West bekommt Mülheim viele neue bildungsbürgerliche Einwohner, die die FDP ansprechen, einbinden und gewinnen kann."

Dieser Text erschien im Juni 2016 in der Mülheimer Woche und im Mülheimer Lokalkompass

Donnerstag, 16. Juni 2016

So gesehen: Die FDP mal ganz sozialliberal

Die FDP ist die Partei der Marktwirtschaft. Das betonten ihre Vertreter auch beim Festakt zum 70. Geburtstag im Ruhrkristall. Deshalb fragten denn auch einige Gäste gleich danach, was sie fürs Buffet zu zahlen hätten.

Doch die Mülheimer FDP zeigte sich diesmal ganz sozialliberal. „Sie brauchen nichts zu bezahlen. Das ist uns unser 70. Partei-Geburtstag schon wert, dass sie alle kostenfrei und gut versorgt werden“, betonte der Kreisvorsitzende Christian Mangen. Sozialismus in der FDP? Mitnichten. Die Liberalen sind pragmatisch. Wer für die Freiheit kämpft, muss sich auch schon mal zum Freibier durchringen.

Liegen Programmpapiere auch schon mal schwer im Magen. Ein Buffet kann potenzielle Wähler immer auf den Geschmack bringen.

Dieser Text erschien am 16. Juni 2016 in der Neuen Ruhr Zeitung

Mittwoch, 15. Juni 2016

70 Jahre Mülheimer FDP: Eine Partei ist so frei

Dieses Foto wurde mir von Ulrike Flach
freundlicherweise zur Verfügung gestellt. Es zeigt sie 2012
beim letzten Fraktionsbesuch von
Hans-Dietrich-Genscher im Deutschen
Bundestag.
Die FDP wird 70. Am 14. Juni feierte sie diesen Geburtstag im Ruhrkristall. Auch der Bundesparteivorsitzende Christian Lindner gratulierte. Doch was gibt es zu feiern? Die Partei hat derzeit in Mülheim 127 Mitglieder und ist nicht mehr im Bundestag vertreten. Und bei der letzten Kommunalwahl schafften es nur drei Liberale in den Stadtrat.

Kaum zu glauben, dass die FDP in Mülheim 1947 über 400 Mitglieder hatte und 1952 mit 20 Prozent acht Ratsmitglieder ins Stadtparlament entsenden konnte. Bürgermeister-Persönlichkeiten, wie Wilhelm Dörnhaus, Alfred Jutzi (in den späten 40er- und frühen 50er-Jahren) oder Paul Gerhard  Bethge (in den frühen 80er-Jahren) standen beispielhaft dafür, dass Mülheim eine liberale Hochburg im Ruhrgebiet war.

„Das sind wir auch heute noch. Bei der Kommunalwahl 2014 konnten wir hier mit 5,3 Prozent das bester Ruhrgebiets-Ergebnis der FDP erzielen. Und inzwischen sehen uns die Demoskopen auch schon wieder bei 7 und 8 Prozent“, sagt FDP-Ratsherr und Parteichef Christian Mangen. Auch mit Blick in die Zukunft sieht er die Liberalen als die Partei der „Freiheit und der vernünftigen Haushaltspolitik, die den Bürgern Freiräume verschafft und für eine Politik steht, die den Menschen nicht unnötig in ihren Alltag hineinregiert.“ Für den FDP-Kreisvorsitzenden bleibt es dabei: „Jeder soll in unserer Gesellschaft nach seiner Fasson selig werden.“

Als sich die FDP unter der Führung von Wilhelm Dörnhaus vor 70 Jahren gründete, war sie die Partei, die sich, anders, als SPD, CDU und KPD ohne Wenn und Aber für eine freie Marktwirtschaft und gegen eine breit diskutierte Lenkung der Wirtschaft und die Sozialisierung der Industrie wehrte. „Damals trafen sich die Liberalen im Hotel Handelshof und im Kino Majestic an der Kaiserstraße, dort, wo heute die Turngemeinde 1856 zu Hause ist“, berichtet der 1936 geborene Mülheimer Walter Neuhoff. Sein Vater Wilhelm gehörte zu den Mülheimer Liberalen der ersten Stunde.
„Heraus aus der Not ist das Gebot der Stunde. Deshalb will die FDP alle Männer und Frauen sammeln, die den  tatsächlichen Verhältnissen Rechnung tragend, gewillt sind, am Wiederaufbau unserer Vaterstadt mitzuarbeiten“, hieß es in einem der ersten Aufrufe der neuen Partei.

Die FDP war 1946 eine Neugründung, weil sie, anders, als die linksliberale Deutsche Demokratische Partei und die rechtsliberale Deutsche Volkspartei der Weimarer Republik, Wirtschafts,- Sozial- und Nationalliberale unter einem Dach zusammenbrachte und darüber hinaus auch Bürger aller sozialen Schichten gewann, die vor 1933 politisch nicht aktiv gewesen waren. Mit jeweils 13 Prozent errangen die Liberalen bei der ersten Kommunalwahl 1946 und bei der ersten Bundestagswahl (1949) politische Achtungserfolge.

Zur bürgernahen und rhetorisch begabten Galionsfigur der frühen FDP, wurde ihr erster Partei- und Fraktionsvorsitzender Wilhelm Dörnhaus, der später auch zum Bürgermeister und Landtagsabgeordneten gewählt werden sollte. Auch jenseits der Kommunalpolitik erwarb sich der 1900 in Styrum geborene Betriebswirt Dörnhaus die Anerkennung seiner Mitbürger. Als Baas der Bürgergesellschaft Mausefalle und als Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft der heimatkundlichen Vereine gehörte er zu den Kräften, die in den 50er Jahren ein breites Bürgerbündnis für den Wiederaufbau der Petrikirche und der Stadthalle schmiedete.
Auch wenn die FDP ihr 20-Prozent-Ergebnis von 1952 nicht wiederholen konnte, blieben die Liberalen mit Ergebnissen um die 10 Prozent doch als dritte Kraft im Rat, ehe sie 1984 und 1994 zweimal aus dem Rat ausschied, weil sie die damalige 5-Prozent-Hürde nicht überspringen konnte.

Doch trotz herber Rückschläge schafften die Liberalen immer wieder ein Comeback. Nachdem sie mit Wilhelm Dörnhaus, Heinz Lange und Hans Robertz im Laufe der Nachkriegsjahrzehnte drei Landtagsabgeordnete gestellt hatten, zog mit der Kreisvorsitzenden Ulrike Flach 1998 auch erstmals eine Mülheimer Liberale in den Bundestag ein, dem sie unter anderem als parlamentarische Staatssekretärin im Bundesgesundheitsministerium 15 Jahre lang angehören sollte.

Dieser Text erschien am 14. Juni 2016 in der NRZ und in der WAZ  

Dienstag, 14. Juni 2016

Zeitsprung am Flughafen: Große Geschichte, aber ungewisse Zukunft

Der Flughafen in den 1930er Jahren. Foto: Stadtarchiv Mülheim

So sieht es heute am Flughafen aus
Die 91 Jahre währende Geschichte des Flughafens in Raadt ist ein Auf und Ab. Aktuell sieht es nach Ab aus. Aber das Thema scheidet die Geister. Die einen wollen möglichst schnell raus. Die anderen hoffen und glauben noch an das wirtschaftliche Potenzial des Flughafens.

Heute versetzt uns das historische Foto aus der Mitte der 1930er Jahre in die kurze Blütezeit des Flughafens. Das 80 Jahre alte Foto aus dem Stadtarchiv strahlt Geschäftigkeit aus. In einer Zeit, in der das Fliegen noch ein Luxus war,  zählte man in Raadt jährlich rund 15 000 Starts und Landungen von und nach Europa.

Für Passagiere wurde der am 30. August 1925 von der Luftfahrtgesellschaft Ruhrgebiet eröffnete Flughafen ebenso zum „Luftbahnhof“, wie für diverse Wirtschaftsgüter. Auch das Flughafenrestaurant mit seinen 700 Terrassenplätzen war in den 30er Jahren nicht nur bei Flugschautagen ein Publikumsmagnet. Hier konnten Ausflügler, die sich vielleicht kein Flugticket leisten konnten, zumindest die Piloten und ihre Maschinen bewundern.
Aber auch das gehört zur Geschichte des Flughafens. Hier landeten nicht nur die Queen (1984) oder auch der Papst Johannes Paul II. (1987), sondern in den 30er und 40er Jahren auch Adolf Hitler und Joseph Goebbels, um die ihnen gewogenen Ruhrindustriellen zu besuchen oder beim Reichsgautag 1935 die Nationalsozialisten aus der Region auf das Regime einzuschwören, das 1939 einen Weltkrieg vom Zaun brach und aus dem Zivil- einen Militärflughafen machte. Die Folgen sind bekannt.

Dieser Text erschien am 13. Juni 2016 in der Neuen Ruhr Zeitung

Montag, 13. Juni 2016

So gesehen: Kalorienfalle in der Fankurve

Wenn jetzt schon im Schaufenster meines Leib- und Magenkonditors rot-schwarz-goldene Girlanden und Fußbälle für den Torten hängen, weiß ich es ist so weit. Große Ereignisse werfen ihre Schatten voraus, zumal, wenn mich auch im Supermarkt gleich eine ganze Chips-Tonne in Schwarz-Rot-Gold anlacht. Mal schauen, ob Jogi und seine Jungs bei dieser Fußball-Europa-Meisterschaft in Frankreich eine Schnitte bekommen. Zeit wär’s ja, 20 Jahre nach dem letzten deutschen EM-Titel in England. Damals zitterten wir uns in der heimischen Fankurve auf dem Sofa vor dem Fernsehen auch mit der Nervennahrung englischer Weingummis ins Finale. Und wie beruhigen wir uns in den kommenden EM-Wochen, wenn es mal wieder zu spannend werden sollte? Mit Torte, Chips oder Grillwürstchen der Marke Schwarz-Rot-Gold. Doch wenn ich auf meine Waage schaue, greife ich wohl besser auf das kaloroienfreie Mineralwasser aus dem Quartier unserer Nationalmannschaft in Evian zurück. Es kann natürlich auch ein Mineralwasser aus deutschen Landen sein, ob mit oder ohne schwarz-rot-goldenes Etikett. So viel Patriotismus in Fußball-EM-Zeiten darf sein. Denn wenn ich während der EM auf dem Fernsehsofa wie Gott in Frankreich lebe, ist mein Geldbeutel nach dem Finale schlanker und mein Bauch dicker, während es bei Jogis Jungs genau umgekehrt sein dürfte, egal, ob sie nun Europameister werden oder nicht. Also Jungs, haut rein, und das nicht nur beim Essen am Genfer See, sondern auch auf dem grünen Rasen im Stadion, damit ihr euer Geld auch wert seid. So viel Patriotimus und Spaß an der Fußballfreude muss sein.

Dieser Text erschien am 11. Juni 2016 in der Neuen Ruhr Zeitung

Sonntag, 12. Juni 2016

Ein Mann für alle Notfälle Unterwegs mit dem Notfall- und Kranknhaus-Seelsorger Guido Möller

Pfarrer Guido Möller (54) ist seit 2002 Notfallseelsorger
Als Notfallseelsorger muss Pfarrer Guido Möller immer mit dem Schlimmsten rechnen. Man merkt es ihm nicht an, als er die Pakete mit der Infobroschüre über die psychologischen und sozialen Herausforderungen der Notfallseelsorge in sein Büro im ersten Stock der neuen Feuerwache an der Duisburger  Straße bugsiert.
Wenn Möller nicht gerade als Notfall- oder Krankenhausseelsorger unterwegs ist, bildet er haupt- und ehrenamtliche Notfallseelsorger aus, schreibt Dienstpläne, pflegt seine Kontakte zu Gott und der Welt in Mülheim und seinen Nachbarstädten oder unterrichtet an der Krankenpflegeakademie des St. Marien-Hospitals Ethik.
„Notfallseelsorge funktioniert nur kollegial“, sagt Möller. Wenn der laufende Ausbildungskurs im Herbst beendet sein wird, werden ihm 21 haupt- und 29 ehrenamtliche Kollegen in der Notfallseelsorge zur Seite stehen.

Das Möller ein Gemeinschaftsmensch ist, merkt man schon daran, dass er gerne angesprochen wird und auch selbst gerne anspricht, wenn er beim Gang durch die Feuerwache auf Feuwehrleute trifft. Da wird auch schon mal über den einen oder anderen Einsatz und das Schicksal von Menschen gesprochen, denen der Seelsorger im Notfall Beistand geleistet hat. Auch wenn Feuerwehrleute nach belastenden Einsätzen die Hilfe des Seelsorgers brauchen, steht seine Tür immer offen.

Ob der Pfarrer montags, mittwochs und freitags seinen Arbeitsplatz in der Feuerwache oder dienstags, donnerstags und am Wochenende im Marien-Hospital hat, immer kann die Ruhe des Augenblicks in einen Alarmzustand umschlagen. Wenn sein Notfallhandy klingelt, weiß Möller, dass er gefordert ist und das Einsatzfahrzeug des Roten Kreuzes ihn gleich zu einem Unglücksort bringen wird.

Wenn er nicht gerade mit seiner Frau einen seiner 42 Urlaubstage genießt, ist Möller immer erreichbar. Dann kann sein Hamdy zu jeder Tages- und Nachtzeit klingeln. Da sitzt er in den frühen Morgenstunden bei einem Mann, der nur mal eben beim Bäcker die Brötchen geholt und hat und bei der Rückkehr seine Frau, mit der er 40 Jahre verheiratet war, leblos auf dem Teppich liegend vorfand. Da wird er nachts zu einem jungen Mann gerufen, der einen schweren Autounfall nur leicht verletzt überlebt hat, während seine Beifahrerin getötet wurde. Da wird er am hellichten Tag zu einer Frau gerufen, die sich das Leben nehmen will, weil sie von ihrem Mann verlassen worden ist.

„Ich komme immer wieder in Situationen hinein, in denen ganze Lebensentwürfe von einem auf den anderen Moment zerstört worden sind. Da kann es keine Routine geben. Vor jedem Einsatz stelle ich mir immer wieder die Frage: Kann ich den Menschen in ihrer Notsituation die Hilfe geben, die sie brauchen?“, erzählt der Gottesmann, der sich 2002 von seinem Pfarr-Kollegen Helmut Kämpgen für die Notfallseelsorge gewinnen und ausbilden ließ.
Die gute Erfahrung einer seelsorgerischen Begleitung, die er nach dem Selbstmord eines Bundeswehr-Kamaraden erlebte, gab für ihn damals den Ausschlag, sich dieser Herausforderung zu stellen. „Da kommt der Notfallseelsorger. Jetzt wird alles wieder gut, höre ich an manchen Einsatzorten. Doch ich weiß: Nichts wird wieder  gut. Ich kann Menschen nur beistehen, in dem ich für sie da bin, sie halte, den Schmerz und auch die Wut auf Gott und ihr Schicksal mit ihnen aushalte und versuche die ersten Stunden nach dem Unglück für sie zu strukturieren“, beschreibt Möller seine Aufgabe. Auch der Theologe, der in dem Bewusstsein lebt, „dass meine Zeit nicht in meinen Händen liegt und das ich mit meinen bescheidenen Möglichkeiten nicht alles regeln kann und regeln muss, weil es einen Höheren gibt, kennt „die Achterbahn der Gefühle und die wütende Frage an Gott: Warum lässt du das zu? Warum lässt du es zu, dass ein Kleinstkind durch einen plötzlichen Herzstillstand seinen eben noch glücklichen Eltern entrissen wird?“ Dann erlebt der Pfarrer seinen Glauben immer wieder als eine Berg- und Talfahrt, an deren Ende für ihn aber die Zuversicht steht, dass das plötzlich gestorbene Kind ebenso in Gottes Hand geborgen ist, wie der  LKW-Fahrer, der einen Fußgänger im toten Winkel nicht gesehen hat oder wie eben der so auf tragische Weise zu Tode gekommene Fußgänger.

Doch zuweilen braucht auch der Helfer Hilfe, etwa als ihn nach seinem mehrtägigen Einsatz bei der Love-Parade-Katastrophe in Duisburg die Stimme wegblieb oder als ihm während einer Bildmeditation über das Jesus-Kind die Tränen kamen, weil er an ein kurz zuvor verstorbenes Kleinkind denken musste.
Hilfe und Halt geben Möller nicht nur professionelle Supervision und eine vertraute und starke Gemeinschaft der haupt- und ehrenamtlichen Helfer, sondern auch seine Frau, die der ruhende Pol ins seinem Leben ist und dafür sorgt, dass ihr Mann durch gute Ernährung, Liebe und ausreichenden Schlaf stark bleibt und die wichtigsten Lehren aus seinem Berufsleben beherzigt: „Jetzt leben, nichts auf die lange Bank schieben und soziale Kontakte pflegen.“

Samstag, 11. Juni 2016

Moderator und Mahner müssten Er oder Sie sein

Max Stimpel
Max Stimpel, 17, stellvertretender Schülersprecher am Otto-Pankok-Gymnasium fiel im Rahmen der Serie „Das Mülheim von Morgen“ durch seine originellen politischen Positionen auf. Deshalb fragte ihn jetzt für die NRZ, wie er den Amtsverzicht von Bundespräsident Joachim Gauck beurteilt.

Bedauern Sie, dass Gauck 2017 nicht noch einmal antritt?
Eigentlich nicht. Auch wenn er seine Sache ganz gut gemacht hat, hat er in den wichtigen politischen Fragen doch eher ein Schattendasein geführt. Ich bin gespannt, wer seine Nachfolge antritt, ohne dass ich selbst schon einen Favoriten oder eine Favoritin hätte.

Brauchen wir das weitgehend repräsentative Amt des Bundespräsidenten?
Ich glaube, dass es nützlich sein kann, wenn es jemanden gibt, der über dem tagespolitischen Geschehen steht, um Deutschland als Ganzes zu repräsentieren und von außen wichtige und richtige Dinge zu sagen, die den Finger in die Wunde legen und die politische Diskussion beflügeln.

Was erwarten Sie von einem Bundespräsidenten oder von einer Bundespräsidentin?
Er oder Sie sollten eine bekannte und  beruflich profilierte Persönlichkeit sein, die keine zu engen parteipolitischen Bindungen hat und nicht zu politischem Extremismus neigt, sondern in der Lage ist, die Menschen zur Besonnenheit aufzurufen, die Grundrechte und ihre politische Anwendung, auch vor dem Hintergrund unserer Geschichte, wieder stärker in den Blick der Öffentlichkeit zu rücken und Menschen zum  Engagement für unsere Gesellschaft ermutigen. Dafür könnten Er oder Sie auch eigene Projekte initiieren. Er oder sie sollten weder ein Moralapostel noch ein Populist sein. Deshalb ist es auch gut, dass der Bundespräsident nicht direkt gewählt wird. Das Beispiel der jüngsten Bundespräsidentenwahl in Österreich zeigt, dass das höchste Staatsamt dann auch zur Beute politischer Populisten werden könnte.

Dieser Text erschien am 7. Juni 2016 in der Neuen Ruhr Zeitung

Freitag, 10. Juni 2016

Ein Lebens-Künstler Wer mit dem Altenpfleger Kofi Akoto im Haus Ruhrgarten unterwegs ist, lernt etwas darüber, was im Leben wichtig ist und was Menschen glücklich macht. Zeit und Zuwendung sind seine wichtigsten Dienste.

Kofi Akoto bei seiner Arbeit
im Haus Ruhrgarten
Kofi Akoto ist ein erstaunlicher Mann. Er ist immer gut gelaunt und hat für jeden ein freundliches Wort, der ihm begegnet.

Dabei hat der Mann aus Ghana, der der Liebe wegen 2001 nach Deutschland kam und heute Vater von zwei kleinen Töchtern ist, einen schweren Beruf. Er ist Altenpfleger. 
Zurzeit wechselt der 36-Jährige vom Früh- in den Nachtdienst, der Kinder wegen und weil seine Frau wieder berufstätig ist, als Sicherheitsassistentin am Düsseldorfer Flughafen. Doch an diesem Tag kommt er noch einmal zum Frühdienst ins Haus Ruhrgarten. Mit seinen Kollegen auf der Wohngruppe 2 bespricht er um 6.40 Uhr den mentalen und körperlichen Zustand der 24 hochbetagten Männer und Frauen, um die sich Akoto und seine beiden Kollegen kümmern.

Er selbst ist für acht Bewohner zuständig. Er stellt ihre Medikamente für den Tag zusammen und schaut in die Akte einer alten Dame, über deren Gesundheitszustand er später noch mit der Hausärztin sprechen wird.
„Man ist hier Mediziner, Pfleger, Betreuer, aber vor allem Mensch. Hier muss man mit Kopf und Herz arbeiten“, sagt Akoto.

Wir gehen von Zimmer zu Zimmer. Hier wird ein alter Herr gewaschen und angezogen, dort eine alte Dame. Den Herrn schiebt Akoto später im Rollstuhl zum Frühstück. Die Frau ist auf einen Rollator angewiesen. „Wie haben Sie geschlafen. Was machen Ihre Beine. Sollen wir  heute wieder zusammen Karten spielen.“ Eine andere Dame: „Raus aus den Federn. Schauen Sie mal, wie schöne die Sonne heute scheint“ setzt er erst mal behutsam auf den Toilettenstuhl und kämt sanft ihr weißes Haar, nachdem er ihr ihre Lieblingshose und ihre Lieblingsbluse angezogen hat.

Auch in sensiblen Situationen, wie bei der Körperpflege, versteht es Akoto so freundlich und locker mit den Bewohnern umzugehen und sie mit seiner Zuwendung aufzumuntern. Man spürt die Vertrautheit zwischen ihm und den Menschen, die er als „Bezugspfleger“ betreut. „Ich kenne von jedem dieser Menschen die Biografie. Das ist wichtig für meine Arbeit“, sagt Akoto.
„Sind Sie nicht früher auf einem Bauernhof aufgewachsen. Da gab es doch sicher auch Hühner, die Eier legten“, fragt Akoto die alte Dame, der er heute beim Essen ihres Frühstückseis helfen muss. Die alte Frau nickt beiläufig und lächelt.

„Wenn ich den Menschen ein Lächeln ins Gesicht zaubern kann, geht mir das Herz auf“, sagt der studierte Marketingfachmann, der heute alte und hilfsbedürftige Menschen durch ihren Alltag im Haus Ruhrgarten begleitet. Er macht dabei einen erstaunlich glücklichen und ausgeglichenen Eindruck, obwohl er eigentlich mal in seiner Heimat Wirtschaftswissenschaften studiert hatte und als Marketingfachmann arbeiten wollte, ehe ihm die Liebe dazwischen kam.

„Zu meinem heutigen Beruf kam ich durch einen Zufall. Ich singe im Gospelchor der Lighthouse-Gemeinde und lernte das Haus Ruhrgarten 2009 durch ein Adventskonzert kennen, das wir hier gaben. Die Art und Weise, wie hier mit Menschen umgegangen wird, hat mich auf Anhieb beeindruckt und so habe ich mich danach erkundigt, was man machen und können muss, um hier als Altenpfleger arbeiten zu können“ erzählt Akoto.

Heute fühlt sich der gläubige Christ, der aus seinem Glauben viel Kraft schöpft, in seinem zweiten Berufsleben angekommen. „Hier kann ich sein, was ich eigentlich immer schon gerne war, ein Mensch, der für andere Menschen da ist, weil ihm Helfen Freude macht.“

Ein Stück dieser Freude spürt man später, als er einer blinden Frau, die am liebsten in ihrem Zimmer bleibt, die Hand hält und ihr  ihr Lieblingslied  vorsingt: „Wem Gott will rechte Gunst erweisen, den schickt er in die weite Welt“. Und da ist es wieder. das Lächeln, das Akto Menschen ins Gesicht zaubern kann. Die alte Dame blickt plötzlich in die unbestimmte Ferne, als gehe sie auf eine fantastische Reise.
Auch der ehemalige Studienrat, den Akoto beim Bewegungstraining fragt, ob seine Schüler ihm auch schon mal einen Streich gespielt haben, muss spontan lachen und sich an die Lausbuben aus  der Untertertia erinnern, die ihm einst einen nassen Schwamm unter sein Stuhlkissen gelegt hatten. Der hochbetagte Herr fühlt sich beim Erzählen der kleinen Anekdote gleich um Jahrzehnte jünger. Nach dem Mittagessen wird es auf Akotos Wohngruppe  ruhiger. Viele Bewohner ziehen sich zu einer kleinen Mittagsruhe in ihr Zimmer zurück oder machen es sich im Tageslichtraum gemütlich, dessen Fensterkanzel einen wundervollen Blick auf die Ruhr frei gibt.

Statt auf die Ruhr zu blicken, muss Akoto in die Akten seiner Schützlinge schauen und jeden Pflegeschritt, den er an diesem Morgen und Vormittag  mit ihnen zusammen gegangen ist, dokumentieren. Sankt Bürokratius hilf!
Auch nach seinem Feierabend wird sich Akoto mit einigen Kollegen um Menschen kümmern, die seine Hilfe brauchen. Mit dem Verein „Ein Lächeln für Ghana“ unterstützt Akoto bedürftige Schüler und ihre alleinerziehenden Mütter in seinem ghanaischen Heimatort Kumasi. Gerade erst hat er Hilfsgüter dort hingebracht und dabei wieder kleinen und großen Menschen  ein Lächeln ins Gesicht gezaubert.

Dieser Text erschien am 28. Mai 3016 in der Neuen Ruhr Zweitung i

Donnerstag, 9. Juni 2016

Suche nach neuem Superintendenten beginnt Hitzbleck hört 2017 auf. Kreissynode beschloss: Alle Pfarrer zur Notfallseelsorge verpflichtet

Helmut Hitzbleck bei der Kreissynode
im Altenhof, hier mit Pfarrerin Gundula Zühlke (Mitte)
und Pfarrerin Dagmar Tietsch-Lipski
Im evangelischen Kirchenkreis An der Ruhr beginnt jetzt die Suche nach einem neuen Superintendenten. Denn Amtsinhaber Helmut Hitzbleck, der im Dezember 2017 seinen 65. Geburtstag feiert, kündigte bei der Kreissynode im Altenhof an, dass er am 1. April 2017 in den Ruhestand gehen wird. Hitzbleck steht seit 2005 an der Spitze des Kirchenkreises. Sein Nachfolger oder seine Nachfolgerin (Bewerber sind  noch nicht absehbar) wird für eine Amtszeit von acht Jahren gewählt.

Die Kreissynode, die derzeit 48 000 Mülheimer Protestanten vertritt, beschloss am Samstag auch eine Neuordnung der seit 1998 bestehenden Notfallseelsorge. Demnach werden die 25 Gemeindepfarrer des Kirchenkreises, die bisher nur auf freiwilliger Basis in der Notfallseelsorge mitgearbeitet haben, jetzt zu entsprechender Mitarbeit verpflichtet. Sie sollen die hauptamtlichen Notfall- und Krankenhausseelsorger Katharina Schmalenbach und Guido Möller nicht nur in der eigentlichen Notfallseelsorge, sondern auch in der Krankenhausseelsorge entlasten. Da die Notfallseelsorge in Kürze auf insgesamt 29 ehrenamtliche und geschulte Mitarbeiter zurückgreifen kann, wird sich das entsprechende Pflichtpensum der Pfarrer auf 3,5  Tage, verteilt auf 14 Schichten, beschränken.
Guido Möller stellte einen Online-Dienstplan vor, in den sich die Pfarrer, entsprechend ihrer anderweitigen Verpflichtungen, flexibel eintragen können. Auch ein Tausch von Notfalldiensten ist möglich.

Laut Möller wurden die Notfallseelsorger zwischen 2005 und 2015 jährlich rund 90 Mal zu Hilfe gerufen. In 64 Prozent der Einsätze, die durch einen Fahrdienst des Deutschen Roten Kreuzes ermöglicht werden, handelt es um häusliche Todesfälle. Aber auch zu Betriebs- und Verkehrsunfällen mit Todesfolge werden die Notfallseelsorger geholt.
Die zeitintensivsten und schwierigsten Einsätze, an die sich Möller erinnern kann, waren der Brand am Dickswall (2006) und die Love-Parade-Katastrophe im Juli 2010. 

Dieser Text erschien am 6. Juni 2016 in der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung

Mittwoch, 8. Juni 2016

Der Evangelischen Kirchenkreis an der Ruhr bekommt wieder ein Jugendreferat

Ein Blick ins Plenum der Kreissynode

Der evangelische Kirchenkreis An der Ruhr soll wieder ein Jugendreferat bekommen. Das beschlossen am Samstag die 53 anwesenden Mitglieder der Kreissynode.

Möglich wurde die Einrichtung einer entsprechenden Jugendreferentenstelle durch unerwartet gute Kirchensteuereinnahmen und außerdem durch eine Förderung der Stiftung Jugend mit Zukunft. Die vom ehemaligen Superintendenten Frank Kastrup initiierte Stiftung wird die Stelle des Jugendreferenten oder der Jugendreferentin in den kommenden drei Jahren mit jeweils 5000 Euro unterstützen.

Entscheidend ist aber, dass der Kirchenkreis 2014 und 2015 mit einem Kirchensteuer-Minus von jeweils rund 200 000 Euro gerechnet hatte, tatsächlich aber in beiden Jahren ein Plus von jeweils rund 400 000 Euro verbuchen konnte.

Der neue Jugendreferent oder die neue Jugendreferentin werden die kirchliche Jugendarbeit auf der Kirchenkreisebene koordinieren und durch neue Projekte stärken. Außerdem soll er oder sie die Belange der evangelischen Jugendlichen in den städtischen und kirchlichen Gremien vertreten und so zum Anwalt und Anlaufpunkt werden.

Dieser Text erschien am 6. Juni 2016 in der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung

Dienstag, 7. Juni 2016

Wenn aus dem Ihr ein Wir wird Die Ruhrorter vom Theater an der Ruhr bringen mit ihren Inszenierungen im leerstehenden Woolworth-Gebäude alte und neue Mülheimer zusammen

Szenenfoto Theater an der Ruhr
Man kann Leerstände in den Innenstadt auch mit Theater füllen. Das beim Theater an der Ruhr angesiedelte Ensemble Ruhrorter machte es am Wochenende im ehemaligen Woolworth-Gebäude vor.

Der Theaterenthusiast und ehrenamtliche Regisseur Adem Köstereli inszenierte mit seinem elfköpfigen Ensemble auf drei Kaufhausetagen eine starkes Stück über das Menschsein zwischen Leben, Liebe, Angst, Freiheit, Freude, Wünschen, Warten und Hoffen.

Zuschauer und Schauspieler bewegten sich buchstäblich immer auf gleicher Ebene und erlebten Theater auf Augenhöhe. Da die Schauspieler aus Indien, Iran, Syrien und Afghanistan in ihrer Muttersprache, aber auch von vollem Körpereinsatz spielten, trat die Sprache zusehens in den Hintergrund. Die deutschsprachigen Zuschauer verstanden nichts und doch alles, weil sie, wie in einem Ballett, durch ausdruckstarke und unwiderstehliche Bilder in die Handlung hineingezogen wurden.
Dazu passte auch, dass Zuschauer Eberhard Heinrich an einer Stelle aufgefordert wurde, einen deutschsprachigen Gedichttext vorzutragen, was ihm eindrucksvoll gelang, wodurch er zum Teil einer gelungenen Inszenierung wurde. O-Ton Autor Alexander Weinstock: „Es wird ganz still sein. Totenstill. Trocken wird es sein, sehr trocken.Es wird Sonnestrahlen geben bis ins Herz. Und Nebelfelder zum Ruhen. Und eine Feuchtigkeit bis unter die Haut. Es wird Regen geben.“

Besonders eindrucksvoll gelang das letzte Drittel der Inszenierung von „Als gestern noch jedes Heute  noch das Morgen war und jedes Heute morgen schon zum Gestern wird.“ Denn im dritten Obergeschoss des um 1930 errichteten Woolworth-Gebäudes hatten die Schauspieler 1500 Kilo Erdboden verteilt, in dem die erst schwarz und dann in engelsgleichem Weiß gekleideten Schauspieler versuchten, sich einzugraben und Wurzeln zu schlagen. Und am Ende wurden die Zuschauer von einer der engelsgleichen Schauspielerinnen auf um die Ecke auf eine angedeutete Waldlichtung gelockt.
Sie folgten nur zu gerne und gingen über den angenehmen Erdboden und schauten plötzlich auf eine in grünes Licht getauchte Wand mit der Aufschrift Wald.

„Der Wald steht für ein freies und selbstbestimmtes Leben im Einklang mit unserer Lebensgrundlage, der Natur“, erklärte später Regisseur Adem Köstereli. Außerdem machte der Theatermann, der seinen Lebensunterhalt als Einkaufsplaner in einem Industriekonzern verdient, mit Blick auf die von Dijana Brnic, Maximilian Brands, Julia Rautenhaus und Wanja van Suntum mitgestaltete Inszenierung deutlich: „Für uns stehen Kunst und Ästhetik im Mittelpunkt des Theaters. Wir wollen keine Asylmonologe, sondern eine Inszenierung, in deren Verlauf sich Schauspieler und Zuschauer als Teil eines Ganzen begreifen.“

Die Gespräche und Begegnungen am improvisierten Premieren-Buffet zeigten, dass diese Mission der Ruhrorter gelungen war. Für den Anthropologen und wissenschaftlichen Begleiter der Ruhrorter, Jonas Tinius, von der Berliner Himboldt-Hochschule, zeigt „nicht nur diese Inszenierung, wie nachhaltig internationale Theaterarbeit wirken kann.“

Dieser Text erschien am 6. Juni 2016 in NRZ und WAZ

Schöne Straße?!

  Für die Mülheimer Presse und das neue Mülheimer Jahrbuch habe ich mich an 50 Jahre Schloßstraße erinnert. So alt bin ich also schon, dass ...