Weihnachten 1945. 125.000 Mülheimer, unter ihnen 1000 Flüchtlinge aus dem Osten Deutschlands, feiern das Geburtsfest Jesu in einer vom Krieg gezeichneten Stadt. Fast 900.000 Kubikmeter Trümmerschutt sind nach dem Kriegsende im April liegen geblieben. Es wird bis 1953 dauern, ehe die Stadt an der Ruhr wieder trümmerfrei ist.
Weil 29 Prozent der Wohnungen vom Krieg zerstört und weitere beschädigt sind, müssen viele Mülheimer in Kellern, Ruinen, Baracken und in Gemeinschaftsquartieren feiern. „Wir mussten uns die vier Zimmer unserer Wohnung an der Tersteegenstraße mit sieben Leuten teilen“, erinnert sich der 1936 geborene Walter Neuhoff. „Die Weihnachtsgottesdienste auf dem Kirchenhügel konnten nicht in der Petri- und in der Marienkirche gefeiert werden, weil beide Gotteshäuser von Bomben zerstört oder zumindest stark beschädigt waren. Deshalb nutzten die Evangelische Altstadtgemeinde um Pastor Eduard Barnstein und die Pfarrei St. Mariae Geburt um Pfarrer Johannes Heinrichsbauer den Altenhof in ökumenischer Eintracht für ihre Gottesdienste am ersten Weihnachtstag. Um 9 Uhr begann dort der evangelische und um 11.30 Uhr der katholische Gottesdienst. In beiden Fällen waren die Gottesdienste brechend voll“, weiß Neuhoff zu berichten. Weil die Menschen in der Britischen Zone, zu denen auch die Mülheimer gehörten, aufgrund der Ausgangssperre keine Mitternachtsmesse besuchen konnten, hörten viele Mülheimer, wie die Familie Neuhoff, am Heiligen Abend 1945 eine ökumenische Christmette, die mit einer Sondererlaubnis der britischen Militärregierung vom Nordwestdeutschen Rundfunk aus dem vom Krieg gezeichneten Kölner Dom übertragen wurde.
Ökumene war auch bei der vorweihnachtlichen Zubereitung der vom Schwedischen Roten Kreuz und vom Hilfswerk der Quäker finanzierten Schulspeisung angesagt. In der Küche der katholischen Volksschule an der Eduard Straße wurde für die Kinder der benachbarten Evangelischen Volksschule am Muhrenkamp mitgekocht. Erbsensuppe und Biskuitsuppe standen auf dem Speiseplan der Volksschüler. Weil viele Klassenräume vom Krieg zerstört waren, wurden Mülheims Volksschüler ab dem 1. Dezember 1945 in Vor- und Nachmittagsschichten unterrichtet. „Eine Woche hatten wir Früh- und in der nächsten Woche dann Spätunterricht. Auch der Samstag war für uns Schultag“, berichtet Neuhoff, der damals die Evangelische Volksschule am Muhrenkamp besuchte. Ein Glanzlicht der ansonsten vom Hunger und der Lebensmittelrationierung überschatteten Weihnachtszeit 1945 war die Tafel Schokolade, die alle Mülheimer Schüler am Tag vor dem Heiligen Abend von der britischen Militärregierung geschenkt bekamen. Unvergessen bleibt für sein für Walter Neuhoff, dass sein Vater Wilhelm, der als Betriebsarzt bei der Reichsbahn arbeitete, am Heiligen Abend 1945 nicht nur einen Christbaum, sondern auch eine Weihnachtstüte mit Schokoladen und Keksen mitbrachte.
Die britische Armee, die seit Juni 1945 in Mülheim das Sagen hatte und deshalb auch das amtliche Mitteilungsblatt der Stadt herausgab, versuchte die hungernden und vom Krieg traumatisierten Mülheimer etwa mit Adventskonzerten auf dem Rathausmarkt und im Raffelberg-Saal oder mit Lebensmittel-Sonderrationen und einer nahrhaften Christmas-Party für Kinder und Jugendliche in der weihnachtlich dekorierten Oberschule an der Schulstraße bei Laune zu halten.
Besonders gut hatten es die Berg- und Stahlarbeiter, die in der Friedrich-Wilhelms-Hütte, im Styrumer Röhrenwerk oder auf den Zechen Wiesche und Rosenblumendelle arbeiteten. Als „Schwerstarbeiter“ erhielten sie vom städtischen Wirtschafts- und Ernährungsamt erhöhte Lebensmittelzuweisungen. „Wir wohnten damals in der Mausegattsiedlung. Mein Vater war Bergmann auf Wiesche. Wir bekamen zu Weihnachten Ernährungskarten und zwei Flaschen Schnaps, die als Tauschobjekt begehrt waren. Außerdem ging ich als Junge mit unseren Henkelmännern fast täglich zur Zechen-Küche am Wiescher Weg, um sie mit Erbsen- und Nudelsuppe zu füllen“, berichtet der 1935 in Heißen geborene Alt-Bürgermeister und ehemalige SPD-Landtagsabgeordnete Günter Weber. Auch der landwirtschaftlich genutzte Garten und Ställe mit Schweinen und Hühnern sorgte bei den Bergmannsfamilien in der Colonie Wiesche für eine vergleichsweise privilegierte Ernährungslage. So erinnert sich Weber, dass Weihnachten 1945 in seinem Elternhaus neben Klößen mit Zwiebelsoße auch Rippchen und Speck aufgetischt werden konnten.
Schmalhans Küchenmeister herrschte dagegen im Styrumer Elternhaus des damals 15-jährigen Hans Meinolf. Er hatte gerade seine Berufsausbildung zum Maschinenbauer begonnen. „Ich habe damals bei meinen Hamsterfahrten halb Deutschland kennengelernt. Und damit ich etwas zu tauschen hatte, hat mir mein Vater, der Schlosser war, aus Altmetall Saatschüsseln gebaut, die ich dann bei meinen Hamsterfahrten über Land bei den Bauern zum Beispiel gegen Kartoffeln, Speck oder auch gegen Brotmarken eintauschen konnte. Manchmal luden mich die Bauernfamilien auch zum Mittagessen ein, so dass ich an guten Hamsterfahrttagen zwei oder dreimal zu Mittag essen konnte“, erinnert sich der ehemalige SPD-Stadtrat und Betriebsrat.
„Wir haben uns damals auch bei Nacht und Nebel Kohlen und Kartoffeln organisiert und alles mitgenommen, was wir kriegen konnten“, berichtet der Sozialdemokrat aus Eppinghofen. Der schnöde Kohlenklau wurde im ersten Nachkriegswinter 1945/46 zum „fringsen.“ Denn der damals auch für Mülheim zuständige Kölner Erzbischof Josef Kardinal Frings hatte dem aus der Not des Überlebenskampfes geborenen Kohlenklau und Mundraub in seiner Weihnachtspredigt 1945 die Absolution erteilt.
Die 1940 geborenen Mülheimer Heiner Schmitz und Hans-Georg Specht erlebten das Weihnachtsfest auf der Flucht in Thüringen und in Bayern. Der Fotograf und Ruhrpreisträger Schmitz verbindet mit Weihnachten 1945 „einen wunderschön und farbenfroh gestalteten Adventskalender, den ihm seine Mutter geschenkt hatte. Hinter dessen Türchen waren keine Süßigkeiten, sondern colorierte Bilder zu entdecken,“ berichtet Schmitz. Und Mülheims ehemaliger Oberbürgermeister Specht verbindet den Heiligen Abend 1945 mit seinem Vater, der just an diesem Tag wieder zu seiner Familie zurückkehren konnte, die im Januar 1945 vor der heranrückenden Roten Armee aus Schlesien gen Westen geflohen war und Weihnachten 1945 bei den Großeltern in Bayern untergekommen war. Die 1933 geborene und heute in Saarn wohnende Josefa Virnich verlebte Weihnachten 1945 mit ihrer Mutter, ihrem jüngeren Bruder Hans und ihrer älteren Schwester daheim. Der Vater sollte erst 1946 aus der Kriegsgefangenschaft heimkehren. „Meine Mutter hat mir Damals Kleider für meine Puppem und meinem kleinen Bruder einen grünen Hund genäht. Unser Wohnzimmer mussten wir damals an eine ausgebombte Mutter und ihren Sohn abgeben“, erzählt Josefa Virnich.
Der 1937 geborene Religionspädagoge Gerhard Bennertz weiß nur noch, „dass ich am Heiligen Abend 1945 meinem Vater und meinem älteren Bruder ganz fasziniert zugeschaut habe, wie sie gemeinsam mit
selbstgebastelten Kleinigkeiten unseren Christbaum geschmückt hat. Und die 1933 geborene Margret Gall sagt über Weihnachten 1945: „Meine Eltern und ich haben den Heiligen Abend 1945 mit meinen Großeltern und einem befreundeten Ehepaar gefeiert. Wir haben damals alles zusammengeworfen. Meine Eltern brachten Kartoffelklöße und Rotkohl mit und die Nachbarn steuerten einen Kaninchenbraten bei. Meine Großmutter hatte 16 Kaffeebohnen, die wir mit einer Kaffeemühle gemahlen haben, so dass am Ende zwei Tassen Kaffee für meine Mutter und Großmutter dabei herauskamen. Der Winter 1945/46 war eine harte Zeit. Aber der Zusammenhalt zwischen den Menschen war damals größer als heute.“
Frühere Weihnachtserinnerungen:
In einem Weihnachtsgespräch erinnerten sich drei alte Mülheimer 2005 in der Lokalpresse an ihr Weihnachten 1945: Der damalige Vorsitzende des Geschichtsvereins, Dr. Hans Fischer (1931-2012) sagte damals: „Es war sehr armselig. Es gab nur ein Pfund Brot pro Woche. Das Weihnachtsfest verbrachte ich mit meiner Mutter und mit meinem Bruder im Haus der Großeltern. Der Vater kam erst später aus der Kriegsgefangenschaft Heim. Weil der Großvater Bergmann gewesen war bekam er Kohle und deshalb war seine Wohnung gut beheizt. Als 14-jähriger hatte ich damals eine Aversion gegen den viel zu großen Mantel meiner Mutter, indem ich zum Weihnachtsgottesdienst gehen musste. Ich erinnere mich daran, dass bei uns Weihnachtsstuten aufgetischt wurde. Ihn hatte meine Mutter aus Weizenkörnern und Beeren gebacken, die wir auf einem Feld eingesammelt hatten. Mein Weihnachtsgeschenk war ein gebrauchter Gummischlauch von Pumpen Wernert auf dem ich mit meinem Fahrrad mehr schlecht als recht fahren konnte. Glänzen konnte ich am Heiligen Abend 1945, weil ich am Klavier Weihnachtslieder vorspielte.“
Der Bergbau-Ingenieur Heinz Wilhelm Auberg (1931-2020) erinnerte sich: „Ich feierte damals mit meiner Mutter und mit meinem Bruder bei unseren Großeltern. Mein Vater war noch in amerikanischer Kriegsgefangenschaft. Ich habe Hunger gehabt. Wir waren aber froh, dass der Krieg vorbei war. Es gab keine Bomben Nächte mehr. Das wichtigste Grundnahrungsmittel für uns war damals das Maisbrot. Dafür musste ich immer wieder Stunden lang bei der Brotfabrik am Sültenfuß anstehen. Besonders stolz war ich auf die Kunstleder-Schreibmappe, die ich von meiner Mutter geschenkt bekam. In dieser Schreibmappe befanden sich alte Buchhaltungsbögen, die man auf der Rückseite beschriften konnte.“
August Weilandt (1917-2014), wie Fischer und Auberg, Mitgründer des Styrumer Geschichts-Gesprächskreises, erinnerte sich damals: „Wir hatten damals einen Tannenbaum. Und mit Hilfe eines Styrumer Geschäftsmannes habe ich mir elektrische Christbaumkerzen gebastelt. Denn unsere Bude sollte ja nicht in Flammen aufgehen. Ansonsten war alles sehr kärglich. Ich lebte damals mit meiner Frau Theresia und mit meiner kleinen Tochter Gisela in einem Zimmer meiner elterlichen Wohnung am Marienplatz in Styrum. Zu Weihnachten hatte meine Schwester mir meine Wehrmachtsuniform in einen Straßenanzug umgearbeitet. An Geschenke oder an einem Festbraten war Weihnachten 1945 nicht zu denken. Das größte Weihnachtsgeschenk war für mich, dass ich als Kriegsheimkehrer eine Anstellung beim Kirchensteueramt gefunden hatte. Meine Mutter und meine Schwester brachten Heiligabend Kartoffeln und Speck mit, die sie bei einem Verwandtenbesuch im Münsterland geschenkt bekommen hatten.“