Jüdisches Leben gestern heute und
morgen. Darüber diskutierte am Sonntagnachmittag (6. Juni) Oberbürgermeister
Marc Buchholz mit seinen Amtskollegen Daniel Schranz (Oberhausen) und Sören
Link (Duisburg) bei einer Online-Veranstaltung, zu der die jüdische Gemeinde
Duisburg Mülheim Oberhausen eingeladen hatte. Die jüdische Politikwissenschaftlerin
und Soziologin Gila Baumöl und die Präsidentin der Jüdischen Studierenden-Union
in Deutschland, Anna Staroselski komplettierten die von Sabena Donath
moderierte Runde.
Vor der Diskussion gab der
Münchener Kabarettist Christian Springer in seiner engagierten Rede über 1700
Jahre jüdisches Leben in Deutschland den Grundton vor, indem er sagte: „Über
die historischen und politischen Ursachen des Antisemitismus sind dicke Bücher
geschrieben worden. Aber was man konkret dagegen tun kann, wenn man im Alltag
mit Antisemitismus konfrontiert wird, darüber gibt es nur einen schmalen
Schnellhefter, wenn da überhaupt etwas drin ist. Dabei muss es heute doch egal
sein, ob man katholisch, evangelisch, jüdisch, muslimisch, buddhistisch oder
sonst was oder gar nichts ist, um frei und unbehelligt ins unserem Land leben
zu können. So steht es in unserem Grundgesetz.“
Dazu, wie der
verfassungsrechtliche Anspruch des Grundgesetzes in die soziale Wirklichkeit
übersetzt werden kann, sagte Mülheims Oberbürgermeister Marc Buchholz: „Wir
dürfen in unserem Zusammenleben auch heute und morgen nicht vergessen, dass es im
Nationalsozialismus Deutsche waren, die Deutschen Unrecht angetan haben, als
sie ihre jüdischen Mitbürger verfolgt, vertrieben und umgebracht haben.
Angesichts unserer Geschichte ist es ein Geschenk, dass es heute wieder ein
vitales jüdisches Leben In Mülheim und seinen Nachbarstädten gibt. Die jüdische
Gemeinde ist mit ihren Veranstaltungen ein heute fester Bestandteil unseres Kulturkalenders.
In unserem gesellschaftlichen Leben darf nicht die Religion im Mittelpunkt
stehen. Es muss der Mensch im Mittelpunkt stehen. Ich empfinde Gotthold Ephraim
Lessings „Ringparabel“ als wegweisend. Hier geht es um einen Vater, der seine 3
Söhne alle gleich liebt und ihnen deshalb 3 absolut gleiche Ringe vererbt, weil
er keinen von ihnen benachteiligen will. So wissen seine Söhne nicht, welcher der 3 Ringe der Ursprungsring
ist. Diese Parabel zeigt uns, dass wir, egal ob wir Christen, Juden oder
Moslems sind, alle einen Vater haben. Wir müssen begreifen, dass uns nur der
Frieden in die Zukunft führen kann. Wir wissen aus unserer Vergangenheit, dass Hass,
Tod und Vertreibung uns nur zurückwerfen. Unser Zusammenleben kann heute und
morgen nur gelingen, wenn wir uns unabhängig von unserer kulturellen und
religiösen Herkunft mit Achtung und Respekt begegnen. Durch unser eigenes
Vorbild und Handeln müssen wir als Kommunalpolitiker den Menschen in unserer
Städte Hoffnung geben. Dabei muss unser Ziel sein, dass sich in der nächsten Generation auch alle
Zuwanderer als Deutsche fühlen können.
Buchholz Duisburger Amtskollege,
Sören Link, betonte: „Die Jüdische
Gemeinde ist heute mit ihren kulturellen Impulsen ein wohltuender Teil unserer
regionalen Stadtgesellschaft. Sie schottet sich nicht ab und ihr Gemeindezentrum
hat nicht von ungefähr die Form eines aufgeschlagenen Buches. Damit kommt zum
Ausdruck, dass die jüdische Gemeinde trotz des in der Vergangenheit erfahrenen Leides
ein neues Kapitel der Normalität aufschlagen möchte. Aber es ist eben nicht
normal, wenn heute die Polizei vor Synagogen stehen muss. Und ich wünsche mir
eine Gesellschaft, in der eben nicht nur jüdische Synagogen, sondern auch
jüdische Friedhöfe und jüdische Kindertagesstätten ein ganz normales Angebot
darstellen, das keinem Polizeischutz braucht. Ich wünsche mir für unsere
Zukunft, dass wir uns im Ruhrgebiet am Geist der Kumpel im Bergbau orientieren,
indem es nicht darauf ankommt, woher jemand kommt, sondern darauf, ob er ein
guter Kumpel ist, auf den man sich verlassen kann und der mit anpackt, um die
Arbeit zu erledigen, die wir zu tun haben. In diesem Sinne müssen wir auch
Jugendlichen aus Zuwandererfamilien deutlich machen: ‚Wenn du Deutscher sein
willst, musst du dich auch mit der deutschen Geschichte auseinandersetzen. Und
wenn es um Antisemitismus geht, darf es keine falschen Rücksichtnahmen geben.
Antisemitismus kann man nicht deeskalieren, sondern nur stoppen, und das mit
allen Strafen, die unserem Rechtsstaat zur Verfügung stehen. Da dürfen wir uns
als Politik und als Gesellschaft nicht weggucken.“ Oberhausens
Oberbürgermeister, Daniel Schranz, machte am Beispiel der alten Synagoge im
Stadtteil Holten, die in einem Begegnungs- und Erinnerungszentrum umgestaltet
werden soll, deutlich „wie man in einer Stadt konkrete Anlaufpunkte für einen Dialog
schaffen kann, der Vorurteilen entgegenwirkt und einen Dialog fördert, der die Gesellschaft
sozial stabilisiert.
Für Moderatorin Sabena Donath, die
als Bildungsreferentin beim Zentralrat der Juden In Deutschland arbeitet, kommt
es darauf an, „dass in unser Zusammenleben nicht von den 2 großen Elefanten
erdrückt wird, die mit dem Holocaust und dem Nahostkonflikt im Raum stehen. Sie
forderte einen gesellschaftlichen Dialog, „in dem man mit uns Juden und nicht
über uns spricht.“ Die Politikwissenschaftlerin Gila Baumöhl und die Präsidentin
der Jüdischen Studierendenunion in Deutschland, Anna Staroselski warnten vor der
Vorstellung, „dass wir es in Deutschland nur mit einem durch arabische
Zuwanderung importierten Antisemitismus zu tun haben“. Beide wiesen darauf hin,
dass sozialwissenschaftliche Studien zeigen, dass zwischen 25 und 40% der
deutschen Bevölkerung einen latenten oder manifesten Antisemitismus hegen.
Beide empfinden es als ungerecht und unangenehm, dass sie als deutsche Staatsbürgerinnen
jüdischen Glaubens in privaten Gesprächen und bei Diskussionen regelmäßig die
Politik Israels erklären müssen. Anna Staroselski machte ein wachsendes Interesse an
der jüdischen Religion deutlich, dass viele aus der ehemaligen Sowjetunion
zugewanderte Juden herausfordere, sich mit ihrer eigenen jüdischen Identität
auseinanderzusetzen. Gila Baumöl lobte die wachsende Sensibilität und Solidarität,
die es heute in der deutschen Öffentlichkeit gegenüber antisemitischen
Anfeindungen gebe. Anna SAnna Staroselski ließ allerdings keinen Zweifel daran, dass es bei dieser Solidarität noch viel Luft
nach oben gebe. Ähnlich wie Christian Springer, wies sie darauf hin, dass oft
Tausende zu Demonstrationen gegen Israel kämen, aber nur Hunderte zu
Demonstrationen gegen Antisemitismus. (T.E.)
Stationen Jüdischen Lebens in
Mülheim
1620: Erste urkundliche Erwähnung
jüdischer Mülheimer, die eine Schutzsteuer zahlen müssen.
1750: Errichtung des Jüdischen
Friedhofs an der Gracht
1870: Erste Synagoge an der
heutigen Friedrich-Ebert-Straße
1907: Zweite Synagoge am Viktoriaplatz/heute
Synagogenplatz
1918-1933: Die jüdische Gemeinde
zählt rund 650 Mitglieder und hat ein eigenes Gemeindehaus an der Löhstraße.
Außerdem gibt es einen christlich-jüdischen Fahrradclub.
1933: Der Stadtrat schließt
jüdische Unternehmen von städtischen Aufträgen aus. Außerdem werden jüdische
Beamte aus dem Dienst entlassen und jüdische Geschäfte mit einem Boykott
belegt.
1934: Im Gemeindehaus finden die
ersten Abschiedsfeiern für Gemeindemitglieder statt, die ins Exil gehen.
1935: Mit den Nürnberger
Rassegesetzen werden christlich-jüdische Ehen und Liebesbeziehungen verboten.
Immer mehr Vereine schließen ihre jüdischen Mitglieder aus.
1936: Jüdische Schüler werden vom
Unterricht an öffentlichen Schulen geschlossen.
1938: Die an die Stadtsparkasse
zwangsverkaufte Synagoge am Viktoriaplatz wird auf unter Leitung des
Feuerwehrchefs Alfred Fretr in der Reichspogromnacht niedergebrannt. Jüdische
Geschäfte und Wohnungen werden verwüstet. Polnische Gemeindemitglieder werden
nach Polen ausgewiesen.
1941: Jüdische Bürger müssen einen
„Judenstern tragen. Sie werden in „Judenhäusern“ interniert und von dort aus
mit Unterstützung der Polizei und der Reichsbahn in die Vernichtungslager
deportiert.
1945: Bis Kriegsende werden 270
jüdische Mülheimer im Rahmen des Holocaust ermordet
1960: 80 Mitglieder gründen die
Jüdische Gemeinde neu und treffen sich in einem Betsaal an der Kampstraße
1965: Gründung einer Gesellschaft
für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit
1979: Gerhard Bennertz beginnt mit
der Aufarbeitung der Jüdischen Geschichte Mülheims
1983: Erstmals besuchen ehemalige
jüdische Mitbürger, die 1933 ibs Exil gingen, ihre alte Heimatstadt
1990: Mit der jüdischen
Einwanderung aus der Sowjetunion steigt die Mitgliederzahl der Jüdischen
Gemeinde von 100 auf mehr als 2500 an.
1999: Die Stadt Mülheim
unterstützt den Neubau des Jüdischen Gemeindezentrums in Duisburg
2009: Der Viktoriaplatz wird in
Platz der ehemaligen Synagoge umbenannt
2020: Die Stadt ernennt den
langjährigen Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde, Jacques Marx, zu ihrem
Ehrenbürger.
NRZ/WAZ, 08.06.2021