100 haupt- und ehrenamtliche Fachleute aus allen Bereichen der Bürgerschaft ließen sich am 26. Mai bei einer Demokratiekonferenz Ideen für eine Stadtgesellschaft liefern, in der der Rassismus überwunden und alle Menschen, unabhängig von ihrer Herkunft, Verantwortung für das kommunale Gemeinwesen übernehmen, in dem heute Menschen aus mehr aus 140 Nationen leben. Bürgermeister Markus Püll erinnerte in seinem Grußwort an die jüngsten antisemitischen Vorfälle als Beispiel dafür, wie menschenverachtender Extremismus unsere Demokratie gefährden kann.
Die Impulse der vierstündigen Veranstaltung lieferten
die Theologin und Pädagogin Anne Broden und die an der Technischen Hochschule
Köln lehrende und forschende Sozialwissenschaftlerin Yasmine Chehata.
Eingeladen hatten das Centrum für bürgerschaftliches Engagement, die
Katholische Akademie Die Wolfsburg und das Kommunale Integrationszentrum. Mit
den Referentinnen hatten die finanziell von Bund, Land, MEG und Westenergie
unterstützten Veranstalter zwei Fachfrauen, die sich mit ihrer Antirassismusarbeit
in Theorie und Praxis Verdienste erworben haben. Anne Broden hat 17 Jahre das Informations- und Dokumentationszentrums
für Antirassismusarbeit in Nordrhein-Westfalen geleitet.
„Wir müssen
erkennen, dass wir alle nicht frei von Rassismus sind. Das geistige Erbe des
Kolonialismus und des Nationalsozialismus wirkt in unserer Gesellschaft bis
heute nach.“, sagte Broden. Nur auf der Basis dieser Selbsterkenntnis kann in
ihren Augen „das Schubladendenken überwunden werden.“ Dass ein bio-deutscher
Mann eine schwarze Frau in der Straßenbahn auf Englisch anspricht, weil er
davon ausgeht, dass sie selbstverständlich kein Deutsch versteht oder die
Vorstellung, dass eine muslimische Frau mit Kopftuch eine Islamistin sein müsse,
waren nur zwei Beispiele, mit denen sie aufzeigte, dass Alltagsrassismus nicht
gleich mit der politischen Extremismus-Keule auftreten muss, sondern auch
unterschwellig, bewusst oder unbewusst daherkommen kann.
Brodens
Ko-Referentin Ysmine Chehata nannte das „eine rassistische Mikro-Aggression.
Sie ließ aber keinen Zweifel daran, dass der sehr viel offenere Rassismus, der
Menschen mit offensichtlicher Zuwanderungsgeschichte zum Beispiel bei der
Wohnungs- und Arbeitssuche massiv benachteiligt, die eigentliche politische
Baustelle in unserer Demokratie sei.
Chehata machte
unumwunden klar, dass Integration, Inklusion und Überwindung von Rassismus für
alle Beteiligten eine anstrengende und oft auch schmerzhafte Marathonaufgabe
darstelle. Im Kern geht es für die Sozialwissenschaftlerin, die selbst eine
Zuwanderungsgeschichte hat, um „um soziale Gerechtigkeit und um die Umverteilung
von Macht und Kapital.“ Dabei denkt Chehata nicht nur ans Geld, wenn Sie vom
Kapital spricht. Wirtschaftliche, soziale und kulturelle Teilhabe sind für sie
die eigentliche Währung, an der sich ablesen lässt, ob die Überwindung von
Rassismus und gesellschaftlicher Desintegration ein Lippenbekenntnis bleibt
oder eine Tatsache wird. Entscheidend dafür, ob der Schritt vom guten Vorsatz
zur guten Tat gelingt, ist aus ihrer Sicht die Reflexions- und
Einsichtsfähigkeit der „weißen Eliten“ in Politik, Wirtschaft, Verwaltung,
Schule und Hochschule.
Von ihnen
erwartet Chehata, dass sie Zuwanderern echte Handlungsräume eröffnen und nicht
nur eine symbolpolitische Repräsentation einräumen. Vor allem in kommunalen
Integrationsräten erlebe sie immer wieder Stadträte, die sich in diesen Gremien
profilieren, aber keine gesellschaftspolitischen Probleme lösen wollten. Mit
Begriffen wie „Ermächtigung“, „Machtteilung“, „Selbstbehauptung“ und „Selbstbefreiung“
machte Chehata deutlich, dass es für die Zuwanderer der zweiten und dritten
Generation nicht mehr nur um Akzeptanz und Hilfe, sondern um faktische Teilhabe
und Mitgestaltung in unserer faktischen Einwanderungsgesellschaft gehe.
Am Beispiel
der amerikanischen Bürger- und Frauenrechtsbewegung zeigte Yasmine Chehata,
dass diese Gleichberechtigung nur mit Verantwortung und politischer
Selbstorganisation möglich sei. Unter dem Eindruck der beiden Vorträge und den
sich anschließenden Arbeitsgruppen bilanziert die aus dem Senegal stammende und
dem Vorstand des Integrationsrates angehhörende Pädagogin und CBE-Mitarbeiterin
Gilbert Raymonde-Driesen,“ dass diese Demokratiekonferenz dazu beigetragen hat,
dass viele Entscheidungsträger in unserer Stadt eingesehen haben, dass Rassismus
in unserer Stadt ein Thema ist und das wir gemeinsam an dieser Baustelle
arbeiten müssen.“ Wichtig ist ihr dabei, „dass die von Diskriminierung
betroffenen Menschen selbst definieren, was sie als rassistisch oder als nicht
rassistisch empfinden!“ Sie selbst erinnert sich in diesem Zusammenhang ungern
daran, dass ein Zuwanderer, der heute als Diplom-Chemiker seine Doktorarbeit
schreibt, von seiner Grundschullehrerin dringend davor gewarnt wurde, sich mit
dem Besuch des Gymnasiums intellektuell zu überfordern. Auch das zuletzt
Zuwanderer verdächtigt wurden, sich nicht an die Corona-Schutzregeln zu halten
und damit für steigende Infektionszahlen verantwortlich zu sein, erlebte sie
als praktizierten Rassismus. Vor diesem Hintergrund hofft sie auf die
Einrichtung einer städtischen Anti-Rassismus-Stelle, die von Diskriminierung Betroffenen
als Anlauf- und Beratungsstelle dienen könnte.
INFO
Von den
aktuell 172.565
Mülheimern haben 27.557 keine deutsche Staatsangehörigkeit. Das sind 16 Prozent
der Stadtbevölkerung. Der Anteil der Mülheimer, die deutsche Staatsangehörige
sind, aber auch einen zweiten Pass haben, ist zwischen 2006 und 2020 von 5,2
auf 8,8 Prozent. 1910 lag der Anteil der Mülheimer ohne deutsche
Staatsangehörigkeit bei knapp 4 Prozent. Im Jahr 2006 war bereits jeder zehnte
Mülheimer ein Mensch mit Zuwanderungsgeschichte. Zu den früh zugewanderten
Mülheimern gehört unter anderem der aus Belgien stammende Jean Baptiste Coupienne. Er kam als entlassener
Soldat 1795 nach Mülheim, baute hier eine der führenden Gerbereien auf und
gehörte 1808 dem ersten Stadtrat an. Seine Nachkommen schufen die Grundlagen
für den Aufstieg der Mülheimer Lederindustrie. Auch in der Hochindustrialisierung um 1900 kannten die
Mülheimer Menschen, die als Zuwanderer in die Stadt kamen, um in der örtlichen
Industrie zu arbeiten und damit die Existenz ihrer Familien zu sichern. Neben
den Zuwanderern aus dem deutschen Reich, waren es auch Polen, Franzosen,
Italiener, Niederländer und Belgier, die zu Mülheimern wurden und ihren ganz
eigenen Beitrag zum wirtschaftlichen Aufstieg der Stadt am Fluss leisteten. Das
galt auch für die in den 1950er, 1960er und in den frühen 1970er Jahren angeworbenen
Gastarbeiter aus Italien, der Türkei, Griechenland, Spanien und Portugal. Sie
beseitigten den damals akuten Arbeitskräftemangel und leisteten damit einen
Beitrag zum westdeutschen Wirtschaftswunder. Viele von ihnen blieben mit ihren
Familien auch nach dem Ende ihres Berufslebens an der Ruhr und wurden zu
Mülheimern.
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