22 Jahre lang hat Dr. Martin
Bröckelmann-Simon als Geschäftsführer die internationale Zusammenarbeit des
bischöflichen Hilfswerks Misereor (Lateinisch: „Ich erbarme mich.“)
verantwortet, Im Gespräch mit dem Neuen Ruhrwort zieht der katholische
Entwicklungshelfer, der zu Beginn seines Berufslebens auch für evangelische
Hilfswerke tätig war, eine Bilanz.
Wie kamen Sie zur Entwicklungshilfe?
Bröckelmann-Simon: Brasilien war meine erste große Liebe.
Das hatte auch biografische Gründe, da mein Onkel Johann 1922 nach Brasilien
ausgewandert ist. Wir haben brieflich Kontakt zu ihm gehalten und von ihm viel
über sein Leben in Brasilien erfahren. Das hat mich fasziniert und 1977 habe
ich dann selbst in Brasilien gelebt und gearbeitet. Das war ein prägendes
Erlebnis.
Was war Ihre erste Erfahrung in der
Entwicklungshilfe?
Bröckelmann-Simon: Ich habe damals im Rahmen meines Soziologie-Studiums
in Brasilien an einem Forschungsprojekt teilgenommen. Dabei ging es um die Analyse
der sozialen und wirtschaftlichen Folgen eines von der Weltbank mitfinanzierten
großen Staudamm-Projektes am Rio Sao Francisco im Nordosten Brasiliens. Ich
habe damals dort mit der von Umsiedlung betroffenen Bevölkerung gelebt und vor
Ort auch sehr viele engagierte Kirchenleute kennen gelernt, die sehr aktiv und
konsequent an der Seite der armen und entrechteten Landbevölkerung standen. Das
hat mich tief beeindruckt und meinen weiteren Berufsweg mitbestimmt.
Was hat Sie persönlich in der
Entwicklungshilfe angetrieben?
Bröckelmann-Simon: Die Bereitschaft, aus Erfolg wie aus
Scheitern zu lernen. Rückschläge gehören zum Leben. Davor ist auch die
Entwicklungszusammenarbeit nicht gefeit. Ich tue mich schwer mit dem
unbedingten Zwang zu schnellen Erfolgsmeldungen. Oftmals stellt sich erst
langfristig heraus, , welche Wirkungen ein Projekt tatsächlich hatte. Ich habe
immer wieder festgestellt, dass Zeit in der Entwicklungszusammenarbeit die
wichtigste Ressource ist. Allerdings mussten wir alle doch auch eine
Beschleunigung von globalen Veränderungsprozessen feststellen. Denken wir nur
an die voranschreitende Klimakatastrophe, die jetzt schnelle Antworten
erfordert und zugleich seit geraumer Zeit schon die Rahmenbedingungen für Entwicklungszusammenarbeit
massiv bestimmt. Ich sehe darin ein großes Dilemma. Dennoch habe ich auf meinen
Reisen und bei denen von mir betreuten Projekten immer wieder Hoffnung darin
erfahren, dass selbst im scheinbar schwächsten und ärmsten Menschen eine enorme
Veränderungskraft steckt, wenn verschüttete Fähigkeiten freigelegt und
gefördert werden. Das zu erleben, war immer eine riesige Kraftquelle für mich,
die mich mit positiver Energie aufgeladen hat. Das unschlagbare Konzept der
kirchlichen Entwicklungsarbeit ist, dass sie immer beim einzelnen Menschen
ansetzt und damit der Tatsache gerecht wird, dass wir in der weltkirchlichen
Familie keine neue Infrastruktur erfinden müssen, sondern immer und überall
schon geborene Partner haben, die mit den Menschen und Strukturen vor Ort
vertraut sind.
Erinnern Sie sich an für Sie besonders
prägende und sinnstiftende Erfolgserlebnisse?
Bröckelmann-Simon: Bleiben wir bei Brasilien. Gerne
erinnere ich mich an die landesweite Arbeit mit Straßenkindern, die eben auch
von vielen kirchlichen Akteuren getragen wurde. Sie haben es, dank ihrer
landesweiten Vernetzung, hinbekommen, eine nationale Bewegung für die Rechte
aller Kinder, auch der Kinder auf der Straße, zu initiieren und damit zu
erreichen, dass die Kinderrechte in der neuen Verfassung Brasiliens verankert
wurden. Das war für mich ein Beispiel dafür, wie kleine lokale Initiativen,
wenn man sie miteinander vernetzt, auch politische und gesetzgeberische Wirkung
entfalten können. Gleiches galt auch für Bewohner der Elendsviertel z.B. in
Argentinien und Mexiko, die sich zusammengeschlossen haben und gemeinsam in dem
Sinne auf die kommunale Stadtplanung einwirken konnten, dass auch ihre Anliegen
und Rechte in der weiteren Stadtentwicklung berücksichtigt wurden. Gerne denke
ich auch daran, dass in Brasilien die Bewegung der landlosen Bäuerinnen und
Bauern es geschafft hat, zusammen mit der kirchlichen Kommission für Landfragen
auf die Agrarreform Einfluss zu nehmen. Und in Laos haben sich indigene Dorfbewohner
zusammengeschlossen, um mit einem selbst erstellten Kataster ihre Landnutzung zu
dokumentieren und damit der voranschreitenden illegalen Landnahme
entgegenzuwirken. Diese Beispiele zeigen mir, dass auch ganz kleine Initiativen
Großes erreichen können, wenn sie sich mit anderen gleichgesinnten Gruppen auf regionaler,
nationaler und bis zur internationalen Ebene zusammenschließen.
Wie hat sich die Arbeit von Misereor in
der Zeit verändert, in der Sie das Hilfswerk aktiv mitgestaltet haben?
Bröckelmann-Simon: Ich bin stolz darauf, dass wir in all
den Jahren eine dynamische, lernfähige und veränderungsbereite Organisation
geblieben sind. Wir mussten allerdings auch lernen, dass sich in unserer Arbeit
fortschreitend und immer wieder die politische Systemfrage stellt – alles hängt
mit allem zusammen. Das bedeutet: Wir müssen die Armgemachten und Ausgegrenzten
darin stärken, dass sie politische, soziale und wirtschaftliche Widerstandskraft
entwickeln, um die eigenen Rechte politisch durchsetzen zu können. Die
Herausforderungen, die wir als Menschheitsfamilie heute bewältigen müssen, sind
global und komplexer Natur, weil sie vom Einzelnen wie vom System grundlegenden
Wandel in Lebens- und Wirtschaftsweise erfordern. So haben wir es heute auf
allen Ebenen unserer Arbeit mit den weltweiten Folgen des Klimawandels zu tun.
Wir erleben auch bei den Fragen von Krieg und Frieden, dass die Zeiten
relativer politischer Stabilität dahin sind und sich die Dinge heute sehr viel
schneller und gravierender ändern können, als wir das früher erlebt haben. Ich
denke dabei aktuell unter anderem an die enttäuschen Friedenshoffnungen in
Afghanistan und die neuen Konflikte in Äthiopien und im Süd-Sudan.
Wie arbeitet Misereor vor Ort?
Bröckelmann-Simon: Wir haben zurzeit rd. 1.700 Partnerorganisationen
in 85 Ländern der Erde. Dabei bewegen wir uns im Geflecht der weltkirchlichen
Zusammenarbeit. Das heißt: Überall, wo es Pfarreien, Ordensgemeinschaften,
Bistümer oder einzelne Gruppen gibt, die sich im Geist von Misereor engagieren,
um die Lebensbedingungen der Menschen in ihren Ländern gerechter und besser zu gestalten,
ist Misereor schon da.. Nicht alle sind amtskirchlich, sondern etwa ein Viertel
unserer Partner sind zivilgesellschaftliche Organisationen. Misereor ist kein
Werk der Kirche für die Kirche, sondern ein Werk der Kirche für die Armen,
unabhängig von ihrer religiösen oder politischen Überzeugung und auch
unabhängig von ihrer Herkunft. Misereor arbeitet nach dem Antragsprinzip. Das
heißt: Wir haben keine eigenen Mitarbeiter vor Ort, sondern arbeiten stets mit einheimischen
Gruppen und Menschen zusammen, die mit
den Verhältnissen und der Kultur ihres eigenen Landes bestens vertraut sind. Von
ihnen kommen die Projektideen, nicht von uns. Meine letzte Dienstreise hat mich
zum Beispiel nach Somalia, ein gescheiterter Staat und Kriegsgebiet, geführt.
Dort finden sie heute zwar keine einzige Pfarrei. Aber es gibt dort mit uns
verbundene Organisationen, die z.B. im Schulbereich oder in Krankenhäusern, in
Somalia aktiv sind. Und es gibt ein Bistum Mogadishu-Somalia, das zurzeit von
Dschibuti aus verwaltet wird. Sie sehen: Wir finden immer und überall Ansprechpartner
und Anknüpfungspunkte vor Ort.
Wie hat Sie Ihre Arbeit für Misereor
geprägt?
Bröckelmann-Simon: Ich habe gelernt, mit einem weiten,
globalen Horizont zu leben und diese Haltung auch an die Menschen um mich
herum weiterzugeben. Das werde ich auch im Ruhestand so beibehalten. Wie könnte
ich auch anders? Weil ich sehr unterschiedliche Lebenswelten kennenlernen
durfte, weiß ich, wie relativ alles ist und wie sorgfältig wir mit unserem
Planeten, seinen Menschen und unserer natürlichen Mitwelt umgehen müssen. Meine
Arbeit hat mich demütig gemacht. Ich habe mich von allzu hochfliegenden Plänen
und Ideen verabschiedet, aber meine Hoffnung nie verloren.
Wie
hat die Corona-Pandemie Ihre Arbeit bei Misereor verändert?
Bröckelmann-Simon: Seit März 2020 ist
bei Misereor niemand mehr ins Ausland gereist. Wir sind auf die virtuelle
Kommunikation via Zoom-Konferenzen, E-Mail-Korrespondenz und Telefongespräche
angewiesen. Aber das wird von den Mitarbeitenden engagiert mitgetragen und wir
haben gemerkt, dass unsere weltweiten Beziehungsgeflechte stabil und belastbar
genug sind, um auch diese Krise zu überstehen. Wir sind durch Corona
ausgebremst worden und ich bedauere es sehr, dass ich aufgrund der Pandemie mich
zum Ende meiner vielen Jahre nicht mehr von wichtigen Partnern Misereors vor
Ort verabschieden konnte. Aber ich freue mich, dass wir unsere Kontakte
erhalten und unsere Arbeit fortsetzen konnten. Alle haben sich einmal mehr als lern-,
anpassungs- und wandlungsfähig erwiesen.
Was wünschen Sie Misereor für die
Zukunft?
Bröckelmann-Simon: Misereor sollte den einzelnen Menschen
im Mittelpunkt behalten und Projekte als Experimentierräume verstehen , in denen
im Kleinen wie im Großen neue Ansätze im Sinne des nötigen sozial-ökologischen
Wandels erprobt und gestaltet werden. Ich würde mir wünschen, dass Misereor in
diesem Sinne wandlungs- und lernfähig bleibt und sich immer wieder von den
Pionieren des Wandels inspirieren lässt, mit denen wir vor Ort
zusammenarbeiten. Das birgt ein
ungeheures Potential für eine andere Welt. . Deshalb wünsche ich mir, dass auch
die kommende Bundesregierung den großen Reichtum zu schätzen weiß, den sie in
der Entwicklungszusammenarbeit mit den beiden großen Hilfswerken der Kirchen
hat. Denn man darf auch nicht vergessen: Zu zwei Dritteln staatlicher Mittel kommt
bei uns immer auch noch ein Drittel aus Spenden und Kirchensteuermitteln hinzu.
Zur Person:
Der Portugiesisch- Spanisch-und Englischsprachige Martin
Bröckelmann, der aus Westfalen stammt, verbrachte seine ersten fünf
Berufsjahre nach einem Studium der Entwicklungssoziologie (zu dem 1994 noch
eine Promotion hinzu kam) beim Evangelischen Personaldienst “dienste in übersee“,
beim Hilfswerk Brot für die Welt und bei der Katastrophenhilfe des Diakonischen
Werks. 1985 wechselte er von Stuttgart nach Aachen und wurde bei Misereor Referent
für Brasilien, Paraguay und Chile. 1995 übernahm er bei Misereor die Leitung
der Lateinamerika-Abteilung, ehe er 1999 als Stellv. Hauptgeschäftsführer in den Vorstand und die Geschäftsführung des
katholischen Hilfswerks berufen wurde. Martin Bröckelmann-Simon ist
verheiratet, hat drei erwachsene Söhne und drei Enkelkinder. Er ist
begeisterter Langstreckenschwimmer, Radfahrer und Wanderer.
NRW, 08/2021