Sonntag, 31. Oktober 2021

Unser Freund, der Baum

 „Wenn ich wüsste, dass morgen die Welt unterginge, würde ich heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen“, soll Martin Luther einst gesagt haben. Der Reformator heizte bekanntlich einen geistigen Klimawandel an. Von einer lebensbedrohlichen Klimaerwärmunng war damals noch keine Rede. 

Keine Apfelbäume, sondern 100 Pflaumenbäume verteilten die Klimaschutzbeauftragte der Stadt, Carolin Hasenkamp und ihre Gesinnungsgenossen aus der Umweltverwaltung, der Mülheimer Klimaschutzinitiative und den Vereinen Naturgarten und Mülheimer Obstgarten an Mülheimerinnen und Mülheimer, die die Gelegenheit haben, auf ihrem Privatgrundstück zu pflanzen.

Wer bei der kostenfreien Baumausgabe am 30. Oktober nicht zum Zuge gekommen ist, bekommt am 12. November, zwischen 15 und 17 Uhr, auch dann auf dem Betriebsgelände der Baumpflege Benk, die an der Weseler Straße 52 im Speldorfer Hafen ansässig ist, eine zweite Chance auf einen Pflaumenbaum.

Mit Blick auf den Klimaschutz und finanziell unterstützt vom Land Nordrhein-Westfalen lässt der Regionalverband Ruhrgebiet (RVR) in der Region 10.000 sogenannte Klimabaumsetzlinge verteilen, die darauf warten, von Grundstückseigentümer eingepflanzt zu werden. Dabei kommen die in Mülheim verteilten Bäume aus einer Baumschule in der Eifel. Abseits des RVR-Projektes Klimabäume hat der Mülheime Obsgarten e.V. (www.mh-obstgarten.de) noch 300 Apfelbaumsetzlinge an Interessierte Grundstücksbesitzer zu vergeben, dann aber gegen einen Kostenbeitrag. Der auch telefonisch unter der Rufnummer 015775328757 erreichbare Verein hat bereits zwölf Baumpaten gewonnen und mit ihrer Hilfe 200 alte Apfelsorten, wie zum Beispiel den Zucca-Maglio, den Kaiser Wilhelm, den Dülmener Herbstrosenprinz, den Biesterfelder Renette oder den Finkenwerder Herbstprinz rekultivieren können.

"Wir machen als Stadtverwaltung viel, um unser Ziel zu erreichen, bis 2035 klimaneutral zu werden. Aber der Klimaschutz ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die nur bewältigt werden kann, wenn wir alle Bürgerinnen und Bürger dafür sensibilisieren können. Da sind alle gefordert", unterstreicht Klimaschützerin Carolin Hasenkamp.

Auch Dachgrün und entsiegelte Flächen können beim Klimaschutz helfen

Vor dem Hintergrund der laufenden Arbeit am Klimaschutz- und Klimaanpassungskonzept der Stadt weist Carolin Hasenkamp darauf hin, dass Bäume der Atmosphäre das klimaschädliche CO2 entziehen, Wasser speichern, Schatten und Abkühlung spenden, Insekten einen Lebensraum bieten und mit ihren Früchten auch noch einen ernährungstechnischen Mehrwert haben. Neben Baumpflanzungen setzt Hasenkamp auch auf Dachbegrünungen und die Entsiegelung von Flächen, um urbane Hitzeinseln abzukühlen und Versickerungsflächen zu schaffen, die bei Starkregenereignissen der Überschwemmungsgefahr entgegenwirken. Baumpfleger Jörn Alfons Benk stellt bei seiner Arbeit immer wieder fest, dass die Klimaerwärmung neue Schädlinge aus der meteorologisch milden Rhein-Schiene ins Ruhrgebiet bringt. Er ist aber zuversichtlich, "dass sich unsere Bäume in ein bis zwei Generationen an diese Folgen des Klimawandels angepasst haben werden.


MW/LK, 30.10.2021

Samstag, 30. Oktober 2021

Eulenspiegels Erben

Viele haben schon darauf gewartet: An diesem Wochenende öfnet die Ju gendkirche Tabgha wieder ihre Türen, und zwar nicht mehr am früheren Standort in Oberhausen-Buschhau sen, sondern mitten im leb haftesten Teil von Duisburg am Dellplatz. 


Die große Theatergruppe der Katholischen jungen Gemeinde (KjG) hat den Umzug von Oberhausen nach Duisburg schon mitgemacht. Das 26-köpfge Ensemble probt in Tabgha, das sich den Kirchenraum nun mit der Gemeinde St. Joseph teilt, zur zeit seine neueste Produktion: „Das Erbe des Till Eulenspiegel“, das am 5. November um 19 Uhr in der Pfarr und Jugendkirche St. Joseph Premiere haben wird. Geschichte passt gut in diese Zeit In fünf Szenen präsentieren die jungen Schauspieler – das jüngste Ensemblemitglied ist zwölf Jahre, das älteste 26 Jahre alt – die zeitlos aktuelle Geschichte des weisen Narren, der den Menschen den Spiegel vorhält, in dem er sie buchstäblich beim Worte nimmt und so die Lacher des Publikums auf seiner Seite hat. „Die Geschichte des Till Eulenspiegel passt gut in unsere Zeit, in der unser Leben zum Beispiel von der Corona-Pandemie durcheinandergebracht wird und es da rum geht nach dem Hinfallen immer wieder aufzustehen“, sagt Silvia Puy-Brill.


Denn genau das mache Till, der immer wieder bei Null anfange und sich von Rückschlägen nicht entmutigen lasse. Ihr Ehemann Thomas Brill, mit dem sie 2007 in Oberhausen das KjG-Theater gegründet hat, unterstreicht: „Wir wollen Weltliteratur jugendgemäß auf die Bühne bringen, um Schauspieler wie Zuschauer zum Nachdenken darüber anzuregen, was im Leben wichtig und was nicht wichtig ist.“ So hat das KjG Theater zum Beispiel schon Otfried Preußlers „Kleine Hexe“, Michael Endes „Momo und die Zeitdiebe“ oder William Shakespeares Sommernachtstraum auf die Bühne gebracht.


Viele der jungen Mitglieder des Theaters sind seit vielen Jahren mit von der Partie. „Die Theatergruppe ist für mich zur zweiten Familie und zur geistigen Heimat geworden“, sagt die 22-jährige Schauspielerin Miriam Weber. Abseits der Bretter, die die Welt bedeuten, studiert sie Wirtschaftspsychologie. In der aktuellen Produktion verkörpert sie die Ehefrau eines armen und ausgebeuteten Schneidermeisters, dem Till Eulenspiegel als Geselle erst mächtig auf die Nerven geht, bevor er ihm zu seinem rechtmäßigen Lohn verhilft. „Till Eulenspiegel gefällt mir, weil er zwischen den Menschen keine Unterschiede macht, was auch meiner Grundhaltung entspricht“, sagt die 16-jährige Johanna Schürken. Die junge Frau, die gerade ihre Tischlerlehre begonnen hat, wusste schon nach dem ersten KjG-Theaterstück, das sie vor fünf Jahren als Zuschauerin in Ober hausen miterlebte: „Da will ich mitmachen!“ Das Theaterspiel, zu dem sie ihre Grundschullehrerin ermutigt hat, reizt Schürken, „weil man einfach mal für ein paar Stunden jemand ganz anderes sein kann.“ Aber nicht nur das Spiel selbst fasziniert sie. „Auch die Veranstaltungstechnik interessiert mich. Und es ist einfach toll, dass man in unserer Gruppe in allen Bereichen mitarbeiten kann“, erklärt Schürken. 


Das gilt auch für Miriam Weber, die eben nicht nur auf der Bühne steht, sondern hinter den Kulissen auch die zeitgemäß multimediale Presse- und Öffentlichkeitsarbeit des Ensembles organisiert. Ihr Bühnen-Gatte, Len nard Halfmann, der den von Geldsorgen geplagten und deshalb cholerischen Schneidermeister verkörpert, charakterisiert das KjG-Theater in der Jugend-Pfarrkirche so: „Es gibt bei uns keine Stars. Wir sind ein Team!“ Und zu diesem Team gehören neben den 26 Darstellern auch etwa technisch, musikalisch und organisatorisch mitarbeitende Menschen, die hinter der Bühne dafür sorgen, dass das KjG-Theater immer wieder über die Bühne gehen kann.


Weitere Informationen findet man im Internet unter: www.kjg-theater.de


NRW, 31.08.2021

Mittwoch, 27. Oktober 2021

Von Mensch zu Mensch

 Als die 31-jährige Mülheimerin Alessa Decker Mitte Juli die Bilder der Flutkatastrophe im rheinland-pfälzischen Ahrtal und in den südlichen Teilen Nordrhein-Westfalens sah, fragte sie sich: „Wie kann ich helfen?“ Sie recherchierte im Internet und wurde fündig.

So schloss sie sich Ende Juli der Hochwasserhilfe Mühlheim an. sie half vor Ort in Dernau beim Aufräumen und Entkernen der vom Hochwasser beschädigten und zerstörten Häuser. „Solche Bilder kenne ich nur aus dem Geschichtsbuch aus den Zeiten des Zweiten Weltkrieges“, schildert die Dümptener Einzelhandelskauffrau ihre Eindrücke von dem durch die Flutkatastrophe angerichteten Chaos. Sie sah weggerissen Straßen, weggerissene Häuser und mit durch Öl verunreinigtem Wasser  verschlammte Keller- und Etagengeschosse. „Das wird noch Jahre dauern“, beschreibt sie den langwierigen Prozess des Wiederaufbaus im Katastrophengebiet.


Diesen Wiederaufbau begleitet sie jetzt auch stetig als Mitglied des von ihr mitbegründeten Vereins Paten für Katastrophenopfer e.V. „Über diesen Verein sind wir durch eine Internetrecherche auf das von Jörg Burghardt initiierte Projekt Fünf-Euro-Haus gestoßen. Zusammen mit der Speldorferin Charlotte Kalveram habe ich dann die Patenschaft für den Wiederaufbau der beiden Häuser der Schwestern Monika Görges und Uta Büntgen in Sinzig übernommen. Sie leben dort mit ihren Familien als Nachbarn in Drei-Generationen-Haushalten. Die Häuser liegen in unmittelbarer Nähe der Ahr.

Die Idee des Fünf-Euro-Hauses ist es, so viele Spender wie möglich zu gewinnen, die monatlich fünf Euro direkt auf das Konto der betroffenen Schwestern überweisen.

 „Fünf Euro pro Monat. Das kann jeder leisten. Das tut keinem weh. Aber wenn auf diesem Weg zum Beispiel 100 Spender finden, dann können die betroffenen Schwestern mit diesem Geld den Wiederaufbau ihrer vom Hochwasser zerstörten Häuser stemmen.“, unterstreicht Decker. Wichtig ist ihr dabei, dass alle Unterstützer via E-Mail einen Newsletter erhalten, der sie über den aktuellen Stand und Fortschritt der Bauarbeiten informiert.


Decker macht deutlich: „Mit regelmäßigen Geldspenden können wir natürlich am flexibelsten helfen. Aber auch Sachspenden oder technische und handwerkliche Unterstützung durch Firmen können eine wertvolle Hilfe für die Familien Büntgen und Görges sein.“


Über das Fünf-Euro-Haus-Projekt hinaus unterstützt der Verein Paten für Katastrophenopfer zahlreiche Betroffene, indem er sie zum Beispiel mit bedarfsorientierten Sachspenden.


„Mithilfe der Angebote aus unserer Facebook-Community Paten für Katastrophenopfer konnten wir  zum Beispiel einer Familie einen einwöchigen Erholungsurlaub ermöglichen.


Auch, wenn die Hochwasserkatastrophe, die  in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz 182 Menschenleben gefordert hat, inzwischen aus den Schlagzeilen verschwunden ist, sieht Decker angesichts des bevorstehenden Winters einen akuten Handlungsbedarf, um den Menschen im Ahrtal zu helfen. „Dafür tun sich inzwischen auch unterschiedlichste Organisationen zusammen, um bestmögliche Unterstützung zu leisten“, freut sich Decker.


Und sie fügt hinzu: „Es ist ein gutes Gefühl, wenn man Menschen in Not helfen kann und damit etwas Gutes tut und vor Ort merkt, wie sie durch die Hilfe selbst neue Kraft und neuen Lebensmut gewinnen, um anzupacken und ihr Schicksal zum Besseren zu wenden!“ Deshalb investiert Decker auch gerne viel Zeit und ehrenamtliche Arbeit in ihr Fluthilfe Projekt.


Täglich sitzt sie dafür mehrere Stunden am Schreibtisch. Und ein- bis zweimal pro Woche ist sie vor Ort in Sinzig.

 „Ich bewundere die Menschen“, sagt Decker, „die nach einer solchen Katastrophe, bei der sie ihr Hab und Gut verloren haben, die Kraft entwickeln wieder neu anzufangen und neben dem Wiederaufbau ihr Alltags- und Arbeitsleben fortzusetzen. Anders, als ich, haben sie nicht die Gelegenheit, sich abends einfach mal auf die Couch zu legen und zu entspannen.“

 

INFO :Wer Allessa Decker und Charlotte Kalveram und ihr Fünf-Euro-Haus-Projekt und ihren Verein Paten für Katastrophenopfer helfen kann und will, erreicht sie per E-Mail an: paten-fuer-katastrophenopfer@web.de und unter der Rufnummer: 0173/ 98 26 356.  Weitere Informationen zum Thema Fünf-Euro-Haus findet man im Internet unter: www.joerg-burghardt.de/sinzig und: www.joerg-burghardt.de/presse und: www.paten-fuer-katastrophenopfer.de .


NRZ/WAZ, 26.10.2021

Sonntag, 24. Oktober 2021

Fleißige Messdiener

 Mülheim-Saarn. Nachbarschaftshilfe leisteten jetzt Messdiener der Pfarrgemeinde St. Mariä Himmelfahrt. Rund um das ehemalige Pfarrhaus an der Klosterstraße, erledigten sie für die dort seit vier Jahren beheimatete Senioren-Wohngemeinschaft Lina (Leben in Nachbarschaft alternativ) Garten- und Grünschnittarbeiten. „Das ist eine echte Win-win-Aktion, die zeigt, dass unsere Nachbarschaft noch gut funktioniert, wenn uns die Messdiener entlasten und wir uns dafür mit einem Salär revanchieren, das in die Finanzierung der Messdienerfahrten einfließen wird“, sagt Lina-Bewohner Jürgen Thiele. „Wo wir helfen können, helfen wir gerne. Wir erledigen nicht nur Gartenarbeiten, sonder übernehmen bei Festen auch gerne Kellnerdienste oder helfen bei Umzügen und Haushaltsauflösungen. Und von den Einnahmen, die in unsere Kasse fließen, profitiert unsere zurzeit aus 70 Messdienern“, erklärt der 24-jährige Sozialpädagogikstudent und Obermessdiener Pedro Vossius.  Kontakt zur Pfarrgemeinde unter der Rufnummer: 0208481122. Oder per Mail an:  st.mariae-himmelfahrt.muelheim-saarn@bistum-essen.de

Vom Königreich zum Stadtteil

Mit rund 20.000 Einwohnern ist Dümpten einer der bevölkerungsreichsten Stadtteile Mülheims. Die Dümptener nennen ihren Stadtteil "Königreich". Einer Lokal-Legende zufolge sollen die Menschen an der Mellinghofer Straße gerufen haben: "Das ist ja wie in einem Königreich", als sie den Offizier Paul Beuther, hoch zu Ross über die Mellinghofer Straße reiten sahen. Damals war Beuther, nachdem heute die Straße benannt ist, die am alten, 1908 in Betrieb genommenen Bürgermeisteramt abzweigt, auf dem Weg zu seiner Amtseinführung als Bürgermeister der 1904 neu errichteten Landbürgermeisterei Dümpten.

Während die 1878 gegründetn Landbürgermeistereien Broich, Styrum und Heißen bereits 1904 in die wachsende und vom Oberbürgermeister Paul Lembke geführte Stadt Mülheim eingemeindet worden waren, sollte Dümpten für sechs Jahre selbstständig werden. Damals erhielt das "Königreich" im Norden Mülheims nicht nur ein Bürgermeisteramt und ein Rathaus, sondern auch eine Apotheke, einen Straßenbahnanschluss und ein kaiserliches Postamt, das später unter anderem auch als Pizzaria und als Atelier genutzt werden sollte. 
Die ehemalige Dümptener Post und das zwischen 1906 und 1908 errichtete Bürgermeisteramt, das ab 1997 für zwei Jahrzehnte als ehrenamtlich geführte Bürgerbegegnungsstätte, wieder belebt wurde,  sind bis heute sichtbare Zeugen der Dümptener Eigenständigkeit, die mit der Eingemeindung im Jahre 1910 zu Ende ging.

Vier Jahre vor dem Beginn des Ersten Weltkriegs war Mülheim mit mehr als 100.000 Einwohnern zu einer wirtschaftlich florierenden Großstadt mit mehr als 100.000 Einwohnern geworden, die unter anderem in Industrie und Handel mehr als genug Arbeit fanden. Doch die durch die Hochindustrialisierung befeuerte Zuwanderung und Bevölkerungsverdichtung erforderte eine soziale und technische Infrastruktur, die nur eine Großstadt betreiben konnte, die mit 193.000 Einwohnern 1973 ihren bisherigen Bevölkerungshöchststand erreichen sollte.

Freitag, 22. Oktober 2021

Mülheims Einflugschneise

 Als dort tätiger Fluglehrer und Pilot interessiert sich Johann Toerner für die Geschichte des Flughafens Essen-Mülheim. Dazu recherchiert er nicht nur im Stadtarchiv, sondern auch in den Archiven des Bundes und des Westdeutschen Wetterdienstes.


Der Fluglehrer und Pilot 
möchte ein Buch zur Geschichte des Flughafens schreiben. Dafür hat er bereits 1600 Text- und Bilddokumente gesichtet und ausgewertet. „Derzeit konzentriere ich mich auf die Vorkriegsgeschichte des Flughafens. Mich begeistert, dass hier damals mit simplen technischen Mitteln viel erreicht wurde“, sagt Toerner, der in Bottrop lebt.„Die Leidenschaft für die Fliegerei habe ich von meinem Großvater geerbt. Er war Pilot bei der deutschen Luftwaffe im Zweiten Weltkrieg. Vom Krieg hat er wenig erzählt, aber viel von seiner Begeisterung für die Flugzeugtechnik. Das ist auf mich übergesprungen“, berichtet der 34-jährige Toerner.

Von Anfang an wurde übrigens kontrovers über die Wirtschaftlichkeit des Flughafens diskutiert. Die Anfänge waren bescheiden. Die ersten Flughafengebäude waren ein altes Schulhaus und aus Holz errichtete Abfertigungs- und Flugzeughallen. Zum ersten Geschäftsführer des Flughafens wurde Stadtoberbaurat Artur Brocke berufen. Ihn sollten die Nationalsozialisten 1933 mit falschen Korruptionsvorwürfen in den Selbstmord treiben.

Johann Toerner weiß, dass nicht nur Passagiere, sondern auch Pakete, Briefe und eilige Waren wie Tulpen aus Amsterdam über den Flughafen Essen-Mülheim ein- und ausgeflogen wurden. „Die Eröffnung des Flughafens,“ so Toerner, war erst am 31. August 1925 möglich, nachdem die französischen und belgischen Besatzungstruppen, die 1923 ins Ruhrgebiet einmarschiert waren, um Reparationen einzutreiben, wieder abgezogen waren. Eigentlich sollte der Flughafen Essen-Mülheim bereits im Frühjahr 1925 eröffnet werden.“

In seinen ersten Jahren machte der Flughafen in Raadt nicht nur positive Schlagzeilen. 1927 kam bei einem Flugtag ein Schüler ums Leben und viele weitere Menschen wurden verletzt, weil ein Kunstflieger, der Schokolade abwarf, die Kontrolle über seine Maschine verlor und in die Menschenmenge stürzte. Wie durch ein Wunder überlebten 1930 alle Piloten und Passagiere den Absturz einer schweizerischen Maschine. Sie hatte beim Anflug auf den Flughafen einen Werksschornstein gestreift.

Auch Nachtflüge waren ab 1929 möglich, weil der Flughafen mit einer Beleuchtung ausgestattet wurde. Ab 1938 verfügte der Flughafen Essen-Mülheim außerdem über ein Instrumentenlandesystem, das bei Nacht- und Schlechtwetterflügen zum Einsatz kam.

Tatsächlich hatte der von der betriebene Flughafen bis 1939 seine beste Zeit. Damals wurden von Essen-Mülheim aus die europäischen Hauptstädte Berlin, London, Amsterdam, Brüssel oder Paris angeflogen. In den frühen 1930er-Jahren starteten und landeten jährlich zwischen 5000 rund 15.000 Passagiere auf dem Flughafen.

Ab 1933 landeten hier auch viele Regierungsmaschinen, um etwa Adolf Hitler, Joseph Goebbels, Hermann Göring oder Heinrich Himmler zu Parteiveranstaltungen oder zu Besuchen bei ihren Förderern aus der Ruhrindustrie (Emil Kirdorf und Fritz Thyssen) zu bringen, die sie bereits vor.1933 unterstützt hatten.

„Mit dem Flugzeug zu reisen, war um 1930 purer Luxus, den sich nur reiche Menschen leisten konnten“, weiß Toerner. Der vierstündige Flug nach Berlin habe 85 Reichsmark und damit fünf Prozent eines durchschnittlichen Jahreseinkommens gekostet.

1933/34 sein heutiges Hauptgebäude erhielt, spiegeln sich die Wechselfälle der deutschen Geschichte. Mit Beginn des Zweiten Weltkrieges wurde aus dem zivilen Flughafen ein militärischer Fliegerhorst. Der geplante Ausbau des Flughafengebäudes wurde auf Eis gelegt.

Während des Zweiten Weltkriegs befand sich am Flughafen ein „Arbeits- und Erziehungslager“. Dessen Insassen mussten schwerste Zwangsarbeit leisten. 1944 und 1945 wurde der Militärflughafen mehrfach Ziel alliierter Luftangriffe, bei denen auch viele Zivilisten starben. Der Volltreffer, den die Tankstelle des Flughafens abbekam, hinterließ einen riesigen Kater auf dem Flughafenareal. Ab Sommer 1945 nutzte die britische Militärregierung das Flughafengelände: als Parkplatz für ihre Lkw-Flotte.


NRZ/WAZ 20/10/2021



Donnerstag, 21. Oktober 2021

Kinderarmut, leider zeitlos aktuell

Der Sonntag nach Weihnachten wird in der katholischen Kirche als Fest der heiligen Familie gefeiert. Ausgehend von der biblischen Geschichte des jungen Jesus, der seinen Eltern abhanden kommt und später von ihnen im Tempel wiederfeinden wird, wo er mit Schriftgelehrten diskutiert, beleuchtete der zum Seelsorgerteam von St. Mariae Geburt gehörende Alt-Weihbischof Franz Grave die heutige Situation der Familie, in der es "Licht und Schatten" gebe. In seiner Predigt nannte er die Familie eine für unsere Gesellschaft im Allgemeinen und für die religiöse Erziehung der Kinder im Besonderen unverzichtbare "Herberge der Menschlichkeit." Ihre Förderung, so Grave, dürfe sich nicht in Einzelmaßnahmen erschöpfen, sondern müsse als gesellschaftspolitische Querschnittsaufgabe angesehen und praktiziert werden. Auch die Stadt Mülheim hat sich die Kinder- und Familienfreundlichkeit auf die Fahnen geschrieben.

Die Betreuungsangebote für Kinder, etwa im Bereich der offenen Ganztagsgrundschulen, wurden ausgebaut. Außerdem gibt es in unserer Stadt inzwischen eine flächendeckende und aufsuchende Familienhilfe. Frischgebackene Eltern bekommen unaufgeforderten Besuch von Familienhelfern der Stadt oder anderen freien Sozialverbände, die sie über mögliche Angebote und Hilfestellungen aufklären. Auch wenn Kinder einen sozialen und emotionalen Reichtum darstellen, führt kein Weg daran vorbei, dass immer mehr Eltern auch durch ihre Kinder in materielle Not geraten, weil sie entweder arbeitslos sind oder einer Arbeit nachgehen müssen, von deren geringer Entlohnung sie ihre Familie kaum menschenwürdig ernähren können. Die aktuell rund 17.000 Arbeitslosengeld-II-Empfänger in Mülheim sind dafür nur eine soziale Kennziffer. Nicht nur finanziell, sondern auch zeittechnisch bleibt die so oft beschworene Vereinbarkeit von Familie und Beruf allzu oft nur ein frommer Wunsch. 

Deshalb gilt nach wie vor, was ich (bereits 2006) im nachfolgenden Beitrag über Kinderarmut in Mülheim geschrieben habe: Kinderarmut. Da mag mancher spontan an die Dritte Welt denken. Doch es gibt sie auch bei uns in Mülheim, arme Kinder, die von Anfang an in ihren Lebens- und Bildungschancen benachteiligt sind, weil ihren Eltern das nötige Geld und manchmal auch die Fähigkeit zu erziehen fehlt. Die NRZ fragte bei einigen leitenden Praktikern aus den Bereichen Sozialarbeit und Schule nach, wie Kinderarmut in Mülheim aussieht und welche Folgen sie für den betroffenen Nachwuchs haben kann. "Man ist arm in der Gesellschaft, in der man lebt", betont die ehrenamtliche Vorsitzende des Kinderschutzbundes, Ursula Faupel und macht damit deutlich, dass der Begriff arm nicht absolut ist, sondern sich immer aus dem Vergleich mit dem sozialen Umfeld der Betroffenen ableitet. Wenn Faupel und ihre Kinderschutz-Kolleginnen Monika Goltsche und Cornelia Völker, arme Familien zu Hause besuchen, um ihnen Hilfe anzubieten, treffen sie immer wieder auf Menschen, die nicht nur unter ihrer materiellen Armut, sondern noch mehr aus der daraus resultierenden sozialen Ausgrenzung leiden. Auch wenn sie aus ihrer Beratungspraxis wissen, "dass sich Armut versteckt", haben sich die Mülheimer Kinderschützerinnen einen Blick für die Armut erworben. Hinter den rund 200 Türen, an denen sie jährlich klingeln, treffen sie auf Kinder, die kein eigenes Zimmer haben, sondern am Couchtisch oder sogar auf dem Fußboden ihre Hausaufgaben machen, während das Fernsehen im Hintergrund unaufhörlich läuft. Auch in der ärztlichen Beratungsstelle, in der jedes Jahr 200 bis 300 Eltern mit ihren Kindern vorstellig werden, sehen sie Kinder, die oft durch Fast Food fehlernährt sind, eine mangelnde Zahnhygiene aufweisen oder verhaltensauffällig sind. Ähnliches berichten auch die Kollegen von Diakonie, Arbeiterwohlfahrt, Caritas und dem Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD) der Stadt, die in arme Familien hinein gehen, weil die betroffenen Eltern um Hilfe baten oder zum Beispiel Hinweise von Kinderärzten, Kindergärten oder Schulen kamen. "Die wirtschaftliche Not nimmt zu", weiß Martina Wilinski, Leiterin des ASD, dessen rund 50 Familienhelfer derzeit rund 35 Familien betreuen und bei ihren Hausbesuchen immer wieder auf desolate Wohnungsausstattungen treffen, bei denen es an allem fehlt, angefangen bei Möbeln, Spielzeug und der Babywäsche bis hin zum Kinderwagen, von Büchern ganz zu schweigen. "Es gibt oft wenig Wissen darüber, wie und wo man sich etwas kostenlos erschließen kann, etwa durch einen Besuch der Stadtbücherei. Viele Familien tauschen sich nicht aus. Aber nur, wer sich unterhält, kann vom anderen etwas erfahren", beschreibt die stellvertretende Caritas-Geschäftsführerin, Margret Zerres, ein Grundproblem der nicht nur materiellen Kinderarmut. Das solche sozialen Starthandicaps den Schulerfolg erschweren, liegt nicht nur für Sozialarbeiter, sondern auch für Pädagogen auf der Hand. "Kinderarmut ist ein gesellschaftliches Problem, das sich an allen Schulen zeigt", sagt Hauptschulrektor Niklas Rahn von der Bruchstraße. Nicht nur an seiner Schule, die ebenso wie die benachbarte Grundschule von der Mülheimer Tafel kostenlos mit Obst und Brötchen beliefert wird, gibt es viele Kinder, die ohne Frühstück zum Unterricht kommen und daheim auch keine regelmäßige warme Mahlzeit bekommen. Doch auch jenseits der Ernährung sieht Rahn die Folgen der Kinderarmut. "Sozial schwache Familien haben keine Möglichkeit, ihren Kindern Klavier- oder Musikschulunterricht zu finanzieren", betont er. In der Ganztagsschule, die jetzt auch an der Hauptschule Bruchstraße eingeführt wurde und in differenzierten Förderangeboten sieht er den Ansatz, die Chancenungleichheit armer Kinder auszugleichen. Seine Kollegen Christa van Behrend von der Gustav-Heinemann-Schule und Behrend Heeren von der Willy-Brandt-Schule bestätigen seine Beobachtungen und Einschätzungen. Heeren sieht Kinderarmut als einen "schleichenden Prozess", der sich nicht nur in ungesunder Ernährung, sondern auch darin zeigt, dass viele Eltern die Klassenfahrt ihrer Kinder nicht mehr bezahlen können. Auch seine Kollegin van Behrend registriert eine steigende Zahl von Unterstützungsanträgen an den Förderverein ihrer Schule, wenn es um die Bezahlung von Klassenfahrten oder Schulmaterialien geht. Vor diesem Hintergrund ist es für Sozialamtsleiter Klaus Konietzka ein Unding, dass das neue NRW-Schulgesetz die Lernmittelfreiheit für ALG-II-Empfänger aufgehoben hat. "Ein Drittel der Eltern brauchen den Schulbuchzuschuss der Stadt", weiß der Leiter der Grundschule im Dichterviertel, Manfred Bahr. Er schätzt, dass etwa ein Viertel der Kinder an seiner Schule in Familien groß werden, die von Arbeitslosengeld II leben müssen. Um zumindest eine gemeinsame Arbeitsgrundlage zu schaffen, unterstützt der Förderverein der Schule die Anschaffung von Lernmaterialien. Besonders dankbar ist Bahr auch für die ehrenamtlich engagierten Bürger, die sich im Rahmen der Ganztagsbetreuung um die zusätzliche Leseförderung bemühen. Birgit Hirsch-Palepu, die die Sozialen Dienste des Diakonischen Werkes leitet, sieht Mülheim bei der Offenen Ganztagsgrundschule gut aufgestellt. "Kinder bekommen hier eine Förderung, die sie sonst nicht bekommen könnten, weil ihre Eltern berufstätig oder aus sozialen Gründen nicht dazu in der Lage wären", unterstreicht sie. Zu dieser Förderung, an der sich die Diakonie und die anderen Sozialverbände aktiv beteiligen, gehört aus ihrer Sicht die für immer mehr Kinder nicht selbstverständliche Erfahrung eines gemeinsamen und gesunden Mittagessens. Die Sozialdienstleiterin der Diakonie, die derzeit rund 370 arme Familien durch den Alltag begleitet, weiß aus ihrer 19-jährigen Praxis: "Die Eltern sind bemüht, haben aber den Kopf angesichts ihrer Probleme von Arbeitslosigkeit bis zu Trennung und Scheidung, so voll, dass sie oft keine Energien mehr übrig haben." Nicht nur für die Leiterin des Styrumer Caritas-Sozialbüros, Gerda Timper und den Geschäftsführer der Arbeiterwohlfahrt, Lothar Fink steht fest, dass die Ganztagsschule dieser durch die sozialen Rahmenbedingungen geschaffenen Überforderung der Eltern nur dann vorbeugen und Kinder angemessen fördern kann, wenn sie flächendeckend, verpflichtend und vor allem kostenlos angeboten würde. "Wo Eltern entweder arbeitslos sind oder zwei bis drei Jobs brauchen, um zu überleben, bleiben Kinder sich selbst überlassen. Und wo Eltern ihre Kinder nicht fördern können, haben diese deshalb oft keinen Erfolg in der Schule", skizziert sie den sozialen Teufelskreislauf der Armut. Dennoch wollen weder die Leiterin des Caritas-Sozialbüros, das mit Hilfe der Lions 20 bedürftigen Kindern eine kostenlose Hausaufgabenbetreuung anbietet, noch Hauptschulleiter Rahn die Gleichung "Armes Kind = schlechter Schüler" gelten lassen. "Viele bekommen eine prima Schullaufbahn und einen guten Abschluss hin", weiß Rahn. AWO-Geschäftsführer Fink sieht beim Thema Kinderarmut eine bodenlose Doppelmoral: "Unsere Gesellschaft investiert nicht zureichend in ihre Kinder. Und wenn wir, wie politisch oft beschworen, nur halb soviel Kinder haben, wie gewünscht, müssten sie uns doch eigentlich doppelt soviel wert sein", meint er. In Kinderschützerin Ursula Faupel findet er eine Gleichgesinnte. Dass das Land bei der Kinder- und Jugendarbeit spart, empfindet sie als "kontraproduktiv" und die Tatsache, dass ein Fünftel der Jugendlichen die Schule ohne Abschluss und Berufsperspektive verlässt, als eine unverzeihliche Verschwendung von Talenten. "Wo der soziale Druck wächst, wächst auch die Gewalt. So wird es auf Dauer kein friedliches Zusammenleben geben", warnt sie. AWO-Mann Fink und Schulleiter Heeren sehen nicht zuletzt unter dem Eindruck der Pisa-Studie Skandinavien mit seiner flächendeckenden, auf kleine Lerngruppen und späte Differenzierung setzenden Ganztagsgesamtschule als sozial- und bildungspolitisches Vorbild, wenn es darum geht, Chancengleichheit zwischen Kindern aus armen und wohlhabenden Elternhäusern herzustellen. Für Sozialamtschef Konietzka sind bei der Bekämpfung der Kinderarmut "vernetzte Hilfe unter einem Dach" und das "Aufbrechen des Bereichsdenkens" das Gebot der Stunde. 

KINDERARMUT IN MÜLHEIM - ZAHLEN, DATEN, FAKTEN IM ÜBERBLICK

Zum Beginn des neuen Schuljahres schlugen die Sozialverbände in NRW Alarm. Landesweit lebe jeder fünfte Minderjährige, insgesamt rund 540 000 Kinder und Jugendliche, unter der Armutsgrenze. Bundesweit seien es 2,5 Millionen. Nur etwa vier Prozent der Kinder und Jugendlichen aus so genannten armen Familien schafften nach der Grundschule den Sprung aufs Gymnasium. Als arm gelten nach dem Armutsbericht der Bundesregierung Haushalte, deren monatliche Nettoeinkommen bei weniger als 60 Prozent des statistischen Durchschnittseinkommens liegt (2003: unter 938 Euro). In Mülheim lebten nach Angaben des Stabes für kommunale Entwicklung und Stadtforschung Ende 2004 2594 Kinder von Sozialhilfe. Damit war ihr Anteil unter den Sozialhilfeempfängern mit rund neun Prozent fast doppelt so hoch wie der Anteil der Bürger im erwerbsfähigen Alter (4,7 Prozent). Nach der Zusammenlegung von Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe zum Arbeitslosengeld (ALG) II hat sich die materielle Situation der Kinder offensichtlich dramatisch verschärft. Nach Angaben des Sozialamtes stieg die Zahl der sogenannten Bedarfsgemeinschaften (Haushalte), die ALG II beziehen vom 1. Januar 2005 (6626) bis zum 31. Juli 2006 um rund ein Drittel auf 8813. Gleichzeitig stieg die Zahl der Kinder, die von ALG II leben vom Januar 2005 (2680) auf 5302, im Januar 2006. Ende Juli lag die Zahl der Schüler aus ALG-II-Haushalten in Mülheim bei 3274. Nicht zuletzt unter dem Eindruck dieser Zahlen plant die Sozialverwaltung in Zusammenarbeit mit dem Zentrum für interdisziplinäre Ruhrgebietsforschung der Ruhruniversität Bochum noch 2006 die Installierung einer lokalen Familienberichterstattung. Erhellt wird das Problem der Kinderarmut in Mülheim auch durch Zahlen der örtlichen Schuldenberatungsstellen. Allein das Sozialbüro der Caritas in Styrum beriet 2005 rund 500 Familien und damit indirekt rund 1000 Kinder in sozialen und finanziellen Notlagen. Im ersten Halbjahr 2006 waren es bereits 350. Tendenz steigend. Die Schuldnerberatung der Arbeiterwohlfahrt half 2005 in 1429 Fällen, bei denen 1345 Kinder in Mitleidenschaft gezogen waren. Als Ausdruck der Kinderarmut kann auch der Umstand gewertet werden, dass täglich rund 480 Menschen, darunter etwa 140 Kinder, das kostenlose Lebensmittelangebot der Mülheimer Tafel in Anspruch nehmen. 

NRZ, 01.08.2006/31.12.2008

Mittwoch, 20. Oktober 2021

Unbedingter Lebenswille


Wer einen lebensbejahenden Menschen kennen lernen möchte, der sollte Walter Brückers besuchen. Sein offensichtlicher und ansteckender Lebensmut beeindruckt umso mehr, wenn man sieht, dass er bis heute unter seinen im Kriegsjahr 1944 erlittenen Verletzungen zu leiden hat und wenn man hört, dass der Kriegsversehrte nach seiner Rückkehr in die Heimat den Tod seiner Eltern und seiner beiden Schwestern bewältigen musste. „Mein unbedingter Lebenswille und das Gefühl: Ich schaffe es, haben mir geholfen“, sagt Brückers, der bis heute rege am Zeitgeschehen interessiert, sportlich aktiv und auf eine gesunde Ernährung bedacht ist. 1959 zog er mit seiner 1998 verstorbenen Ehefrau Lore in ein Haus am Damaschkeweg und hat es bis heute nicht bereut. „Ich fühle mich hier wohl, weil ich hier viele interessante und sympathische Menschen kennen gelernt habe, mit denen ich zum Teil bis heute verbunden bin,“ sagt Brückers.
Hier hat er mit seiner Frau drei Söhne groß gezogen. Hier freut er sich heute über den Besuch von acht Enkel- und sieben Urenkelkindern.

Viele Dümptener und Styrumer kennen den Sozialdemokraten noch aus seiner Zeit als Ratsmitglied, Bezirksbürgermeister und Schiedsmann in den 70er, 80er und 1990er Jahren. Damals brachte er Menschen nicht nur nach einem Nachbarschaftsstreit, sondern auch politisch zusammen, um zum Beispiel die Styrumer Bürgerbegegnungsstätte Feldmannstiftung ans Laufen zu bekommen oder an der Oberheidstraße einen neuen Friedhof und an den Denkhauser Höfen eine Grünfläche anlegen zu lassen. Hier wird der Dümptener Bürgerbaum aufgestellt. Im Vorstand des Dümptener Bürgervereins, der für dieses Stadtteilfest verantwortlich zeichnet, hat sich Brückers ebenso über viele Jahre engagiert, wie im Dümptener Seniorenclub und im Vorstand der Berufsbildungswerkstatt. Als hauptamtlicher Leiter eines Berufsförderzentrum der heutigen Agentur für Arbeit, die zu seiner Zeit noch Bundesanstalt für Arbeit hieß, lagen ihm die Berufschancen sozial benachteiligter Jugendlicher immer besonders am Herzen.

Auch mit Blick auf die aktuelle politische Diskussion sagt er mit der Gelassenheit von fast 90 Jahren: „Wir sollten keine Angst vor der Zuwanderung haben, auch wenn sie unsere Stadtgesellschaft verändert. Denn wir brauchen sie aus demografischen Gründen dringend und wir tun uns selbst einen Gefallen damit, wenn wir die Zuwanderer integrieren und beruflich qualifizieren. Das ist der einzig sinnvolle Weg in eine gute Zukunft.“ Und genauso nachdrücklich empfiehlt der Dümptener Nestor, der am 10. Mai im Kreise seiner Freunde und Familienangehörigen seinen 90. Geburtstag feiern wird, der jungen Generation, neben ihren Verpflichtungen in Familie und Beruf, „das ehrenamtliche Engagement in Vereinen, Verbänden, Gemeinden und Parteien nicht zu vergessen, weil die damit verbundene Gemeinschaft „der persönlichen Entwicklung und dem sozialen Zusammenhalt gut tut.“

NRZ/WAZ, 06.05.2016

Dienstag, 19. Oktober 2021

Was soll(te) aus dem Kind werden?

 Arbeitslosigkeit, Arbeitsverdichtung, Fachkräftemangel, Stellenabbau, Firmenpleiten, Rationalisierung, prekäre Arbeitsverhältnisse. Das Berufsleben ist nichts für Feiglinge - war es früher aber auch nicht. Das zeigte jetzt eine Zeitzeugen-Lesung im Mülheimer Medienhaus.

Horst Heckmann (Jahrgang 1928), Dieter Schilling (Jahrgang 1939) und die 1949 geborene Jutta Loose erinnerten sich an ihre Berufsfindung nach dem Zweiten Weltkrieg. Dazu eingeladen hatten die Mülheimer Zeitzeugenbörse und das Centrum für bürgerschaftliches Engagement (CBE).

Heckmann und Loose hatten vor ihrem Start ins Berufsleben die Volksschule besucht. Deren Name war damals Wirklichkeit. Denn zwischen 80 und 90 Prozent der Kinder und Jugendlichen besuchten in den 1950er und 1960er Jahren die achtjährige Volksschule und starteten dann mit 14 ins Berufsleben. Der in Halle an der Saale aufgewachsene Dieter Schilling hatte zunächst die Grund- und dann die Oberschule der DDR besucht, ehe er sich vom Maschinenschlosser zum Ingenieur hocharbeiten konnte.

Als Jutta Loose nach Volks- und Hauswirtschaftsschule „1966 nicht weiter zur Schule gehen, sondern endlich Geld verdienen wollte“, konnte sie von einem Tag auf den anderen bei einem Hausarzt und Internisten eine Ausbildung als Arzthelferin beginnen. Die Arbeitsmarktlage war Mitte der 1960er Jahre entspannt. Die Arbeitslosenquote lag damals knapp über einem Prozent.

Dennoch war der Start ins Berufsleben für die junge Frau aus Dümpten kein Zuckerschlecken. „Meine Arbeitstage in der Praxis begannen damals in der Regel um 7 Uhr und endeten um 22 Uhr“, erinnert sich Loose. Dennoch sagt sie auch: „Die Arbeit hat uns Spaß gemacht, und wir hatten immer eine Bombenstimmung. Unser Chef lud uns mittags zum Essen ein und belohnte unsere Leistung mit einem großzügigen Freitagsbonus.“

Ihre Berufswahl hat sie nie bereut, „auch wenn meine Mutter lieber gesehen hätte, dass ich Abitur gemacht und anschließend studiert hätte“. Ihrem ursprünglichen Traumberuf Ärztin kam Jutta Loose als Arzthelferin sehr nahe. „Mein Chef hat mir immer freie Hand gelassen, ich durfte regelmäßig Weiterbildungen besuchen und so mein medizinisches Tätigkeitsfeld erweitern. Auch von den Patienten habe ich viel Dankbarkeit und Anerkennung erfahren“, betont Loose.

„Das Wort Traum vor dem Wort Beruf konnte ich streichen. Ich war nach dem Krieg mehr mit der Essenssuche, als mit der Berufsfindung beschäftigt“, erinnert sich der Styrumer Horst Heckmann. „Eigentlich wollte ich zur christlichen Seefahrt. 1944 habe ich meine Ausbildung an der Seemannsschule in Hamburg begonnen“, sagt Heckmann. Doch dann kamen Reichsarbeitsdienst, Wehrmacht, Krieg, Gefangenschaft und eine ihn körperlich überfordernde Episode als Bergmann auf der Heißener Zeche Wiesche.

Das Schicksal kam dem jungen Mann zu Hilfe. Im Herbst 1945 wollten sein Vater und er die Mutter aus der Thüringer Landverschickung zurückholen. Seine Eltern kamen zurück nach Mülheim. Doch Heckmann blieb in Thüringen, weil er dort „als Seiteneinsteiger nach einem pädagogischen Schnellstudium Volksschullehrer werden konnte, da man in der DDR alle in der NS-Zeit aktiven Lehrer entlassen hatte“. Das Unterrichten machte ihm so lange Freude, „bis der politische Druck auf meine Lehrinhalte und die zunehmende Bespitzelung mir zeigten, dass die DDR nur noch dem Namen nach demokratisch und tatsächlich zu einer stalinistischen Diktatur geworden war“.

So kam Horst Heckmann im Sommer 1954 als Flüchtling in seine Heimatstadt zurück. Doch seine Lehrerausbildung wurde hier nicht anerkannt. Er musste als Kaufmannslehrling ganz neu anfangen. Aber Heckmann machte seinen Weg, erst bei einer Möbelfirma und später bei der Privatärztlichen Verrechnungsstelle. „Das Berufsleben geht Umwege. Aber man darf nie aufgeben“, sagt Heckmann rückblickend.

Umwege musste auch Dieter Schilling gehen, der als Ingenieur in der DDR ein vergleichsweise privilegiertes, aber auch politisch angepasstes Leben voller Bespitzelung, Misstrauen und ohne Freiheit führte. „1982 nutzten meine Frau und ich einen Jugoslawien-Urlaub zur Flucht in den Westen, weil wir merkten, das wird hier immer schlimmer und wird über kurz oder lang mit einem riesigen Knall auseinanderfliegen“, erinnert sich Schilling. Sein Glück: Als Ingenieur fand er bei einem Duisburger Industrieunternehmen, das er bereits als DDR-Reisekader kennengelernt hatte, einen neuen Arbeitsplatz im freien und kapitalistischen Westen Deutschlands.Neue Gesichter sind den Mülheimer Zeitzeugen immer willkommen. Sie treffen sich an jedem dritten Mittwoch im Monat von 10 bis 12.30 Uhr in der Seniorenresidenz Sommerhof am Tourainer Ring/Ecke Hingbergstraße.

Manfred Zabelberg, der die 2011 gegründete Mülheimer Zeitzeugenbörse zusammen mit Brigitte Reuß leitet, würde sich insbesondere über Zeitzeugen freuen, die aus ihrer Erinnerung die deutsch-deutsche Geschichte nach 1945 beleuchten können.

Kontaktaufnahme ist möglich per E-Mail an: zeitzeugenboerse@gmx.de oder über das CBE an der Wallstraße 7 unter 0208-9706813.

Weitere Informationen zu den Zeitzeugen, die live und online Auskunft geben, findet man im Internet unter: https://unser-quartier.de/zzb-muelhei Gesichter sind den Mülheimer Zeitzeugen immer willkommen. Sie treffen sich an jedem dritten Mittwoch im Monat von 10 bis 12.30 Uhr in der Seniorenresidenz Sommerhof am Tourainer Ring/Ecke Hingbergstraße.

Manfred Zabelberg, der die 2011 gegründete Mülheimer Zeitzeugenbörse zusammen mit Brigitte Reuß leitet, würde sich insbesondere über Zeitzeugen freuen, die aus ihrer Erinnerung die deutsch-deutsche Geschichte nach 1945 beleuchten können.

Kontaktaufnahme ist möglich per E-Mail an: zeitzeugenboerse@gmx.de oder über das CBE an der Wallstraße 7 unter 0208-9706813.

Weitere Informationen zu den Zeitzeugen, die live und online Auskunft geben, findet man im Internet unter: https://unser-quartier.de/zzb-muelheim

NRZ/WAZ, 10.10.2021

Montag, 18. Oktober 2021

Der Mann von Misereor

 22 Jahre lang hat Dr. Martin Bröckelmann-Simon als Geschäftsführer die internationale Zusammenarbeit des bischöflichen Hilfswerks Misereor (Lateinisch: „Ich erbarme mich.“) verantwortet, Im Gespräch mit dem Neuen Ruhrwort zieht der katholische Entwicklungshelfer, der zu Beginn seines Berufslebens auch für evangelische Hilfswerke tätig war, eine  Bilanz.

Wie kamen Sie zur Entwicklungshilfe?

Bröckelmann-Simon: Brasilien war meine erste große Liebe. Das hatte auch biografische Gründe, da mein Onkel Johann 1922 nach Brasilien ausgewandert ist. Wir haben brieflich Kontakt zu ihm gehalten und von ihm viel über sein Leben in Brasilien erfahren. Das hat mich fasziniert und 1977 habe ich dann selbst in Brasilien gelebt und gearbeitet. Das war ein prägendes Erlebnis.

Was war Ihre erste Erfahrung in der Entwicklungshilfe?

Bröckelmann-Simon: Ich habe damals im Rahmen meines Soziologie-Studiums in Brasilien an einem Forschungsprojekt teilgenommen. Dabei ging es um die Analyse der sozialen und wirtschaftlichen Folgen eines von der Weltbank mitfinanzierten großen Staudamm-Projektes am Rio Sao Francisco im Nordosten Brasiliens. Ich habe damals dort mit der von Umsiedlung betroffenen Bevölkerung gelebt und vor Ort auch sehr viele engagierte Kirchenleute kennen gelernt, die sehr aktiv und konsequent an der Seite der armen und entrechteten Landbevölkerung standen. Das hat mich tief beeindruckt und meinen weiteren Berufsweg mitbestimmt.

Was hat Sie persönlich in der Entwicklungshilfe angetrieben?

Bröckelmann-Simon: Die Bereitschaft, aus Erfolg wie aus Scheitern zu lernen. Rückschläge gehören zum Leben. Davor ist auch die Entwicklungszusammenarbeit nicht gefeit. Ich tue mich schwer mit dem unbedingten Zwang zu schnellen Erfolgsmeldungen. Oftmals stellt sich erst langfristig heraus, , welche Wirkungen ein Projekt tatsächlich hatte. Ich habe immer wieder festgestellt, dass Zeit in der Entwicklungszusammenarbeit die wichtigste Ressource ist. Allerdings mussten wir alle doch auch eine Beschleunigung von globalen Veränderungsprozessen feststellen. Denken wir nur an die voranschreitende Klimakatastrophe, die jetzt schnelle Antworten erfordert und zugleich seit geraumer Zeit schon die Rahmenbedingungen für Entwicklungszusammenarbeit massiv bestimmt. Ich sehe darin ein großes Dilemma. Dennoch habe ich auf meinen Reisen und bei denen von mir betreuten Projekten immer wieder Hoffnung darin erfahren, dass selbst im scheinbar schwächsten und ärmsten Menschen eine enorme Veränderungskraft steckt, wenn verschüttete Fähigkeiten freigelegt und gefördert werden. Das zu erleben, war immer eine riesige Kraftquelle für mich, die mich mit positiver Energie aufgeladen hat. Das unschlagbare Konzept der kirchlichen Entwicklungsarbeit ist, dass sie immer beim einzelnen Menschen ansetzt und damit der Tatsache gerecht wird, dass wir in der weltkirchlichen Familie keine neue Infrastruktur erfinden müssen, sondern immer und überall schon geborene Partner haben, die mit den Menschen und Strukturen vor Ort vertraut sind.

Erinnern Sie sich an für Sie besonders prägende und sinnstiftende Erfolgserlebnisse?

Bröckelmann-Simon:  Bleiben wir bei Brasilien. Gerne erinnere ich mich an die landesweite Arbeit mit Straßenkindern, die eben auch von vielen kirchlichen Akteuren getragen wurde. Sie haben es, dank ihrer landesweiten Vernetzung, hinbekommen, eine nationale Bewegung für die Rechte aller Kinder, auch der Kinder auf der Straße, zu initiieren und damit zu erreichen, dass die Kinderrechte in der neuen Verfassung Brasiliens verankert wurden. Das war für mich ein Beispiel dafür, wie kleine lokale Initiativen, wenn man sie miteinander vernetzt, auch politische und gesetzgeberische Wirkung entfalten können. Gleiches galt auch für Bewohner der Elendsviertel z.B. in Argentinien und Mexiko, die sich zusammengeschlossen haben und gemeinsam in dem Sinne auf die kommunale Stadtplanung einwirken konnten, dass auch ihre Anliegen und Rechte in der weiteren Stadtentwicklung berücksichtigt wurden. Gerne denke ich auch daran, dass in Brasilien die Bewegung der landlosen Bäuerinnen und Bauern es geschafft hat, zusammen mit der kirchlichen Kommission für Landfragen auf die Agrarreform Einfluss zu nehmen. Und in Laos haben sich indigene Dorfbewohner zusammengeschlossen, um mit einem selbst erstellten Kataster ihre Landnutzung zu dokumentieren und damit der voranschreitenden illegalen Landnahme entgegenzuwirken. Diese Beispiele zeigen mir, dass auch ganz kleine Initiativen Großes erreichen können, wenn sie sich mit anderen  gleichgesinnten Gruppen auf regionaler, nationaler und bis zur internationalen Ebene zusammenschließen.

Wie hat sich die Arbeit von Misereor in der Zeit verändert, in der Sie das Hilfswerk aktiv mitgestaltet haben?

Bröckelmann-Simon: Ich bin stolz darauf, dass wir in all den Jahren eine dynamische, lernfähige und veränderungsbereite Organisation geblieben sind. Wir mussten allerdings auch lernen, dass sich in unserer Arbeit fortschreitend und immer wieder die politische Systemfrage stellt – alles hängt mit allem zusammen. Das bedeutet: Wir müssen die Armgemachten und Ausgegrenzten darin stärken, dass sie politische, soziale und wirtschaftliche Widerstandskraft entwickeln, um die eigenen Rechte politisch durchsetzen zu können. Die Herausforderungen, die wir als Menschheitsfamilie heute bewältigen müssen, sind global und komplexer Natur, weil sie vom Einzelnen wie vom System grundlegenden Wandel in Lebens- und Wirtschaftsweise erfordern. So haben wir es heute auf allen Ebenen unserer Arbeit mit den weltweiten Folgen des Klimawandels zu tun. Wir erleben auch bei den Fragen von Krieg und Frieden, dass die Zeiten relativer politischer Stabilität dahin sind und sich die Dinge heute sehr viel schneller und gravierender ändern können, als wir das früher erlebt haben. Ich denke dabei aktuell unter anderem an die enttäuschen Friedenshoffnungen in Afghanistan und die neuen Konflikte in Äthiopien und im Süd-Sudan.

Wie arbeitet Misereor vor Ort?

Bröckelmann-Simon: Wir haben zurzeit rd. 1.700 Partnerorganisationen in 85 Ländern der Erde. Dabei bewegen wir uns im Geflecht der weltkirchlichen Zusammenarbeit. Das heißt: Überall, wo es Pfarreien, Ordensgemeinschaften, Bistümer oder einzelne Gruppen gibt, die sich im Geist von Misereor engagieren, um die Lebensbedingungen der Menschen in ihren Ländern gerechter und besser zu gestalten, ist Misereor schon da.. Nicht alle sind amtskirchlich, sondern etwa ein Viertel unserer Partner sind zivilgesellschaftliche Organisationen. Misereor ist kein Werk der Kirche für die Kirche, sondern ein Werk der Kirche für die Armen, unabhängig von ihrer religiösen oder politischen Überzeugung und auch unabhängig von ihrer Herkunft. Misereor arbeitet nach dem Antragsprinzip. Das heißt: Wir haben keine eigenen Mitarbeiter vor Ort, sondern arbeiten stets mit einheimischen Gruppen und Menschen zusammen, die  mit den Verhältnissen und der Kultur ihres eigenen Landes bestens vertraut sind. Von ihnen kommen die Projektideen, nicht von uns. Meine letzte Dienstreise hat mich zum Beispiel nach Somalia, ein gescheiterter Staat und Kriegsgebiet, geführt. Dort finden sie heute zwar keine einzige Pfarrei. Aber es gibt dort mit uns verbundene Organisationen, die z.B. im Schulbereich oder in Krankenhäusern, in Somalia aktiv sind. Und es gibt ein Bistum Mogadishu-Somalia, das zurzeit von Dschibuti aus verwaltet wird. Sie sehen: Wir finden immer und überall Ansprechpartner und Anknüpfungspunkte vor Ort.

Wie hat Sie Ihre Arbeit für Misereor geprägt?

Bröckelmann-Simon: Ich habe gelernt, mit einem weiten, globalen Horizont zu leben und diese  Haltung auch an die Menschen um mich herum weiterzugeben. Das werde ich auch im Ruhestand so beibehalten. Wie könnte ich auch anders? Weil ich sehr unterschiedliche Lebenswelten kennenlernen durfte, weiß ich, wie relativ alles ist und wie sorgfältig wir mit unserem Planeten, seinen Menschen und unserer natürlichen Mitwelt umgehen müssen. Meine Arbeit hat mich demütig gemacht. Ich habe mich von allzu hochfliegenden Plänen und Ideen verabschiedet, aber meine Hoffnung nie verloren.

Wie hat die Corona-Pandemie Ihre Arbeit bei Misereor verändert?

Bröckelmann-Simon: Seit März 2020 ist bei Misereor niemand mehr ins Ausland gereist. Wir sind auf die virtuelle Kommunikation via Zoom-Konferenzen, E-Mail-Korrespondenz und Telefongespräche angewiesen. Aber das wird von den Mitarbeitenden engagiert mitgetragen und wir haben gemerkt, dass unsere weltweiten Beziehungsgeflechte stabil und belastbar genug sind, um auch diese Krise zu überstehen. Wir sind durch Corona ausgebremst worden und ich bedauere es sehr, dass ich aufgrund der Pandemie mich zum Ende meiner vielen Jahre nicht mehr von wichtigen Partnern Misereors vor Ort verabschieden konnte. Aber ich freue mich, dass wir unsere Kontakte erhalten und unsere Arbeit fortsetzen konnten. Alle haben sich einmal mehr als lern-, anpassungs- und wandlungsfähig erwiesen.

Was wünschen Sie Misereor für die Zukunft?

Bröckelmann-Simon: Misereor sollte den einzelnen Menschen im Mittelpunkt behalten und Projekte als Experimentierräume verstehen , in denen im Kleinen wie im Großen neue Ansätze im Sinne des nötigen sozial-ökologischen Wandels erprobt und gestaltet werden. Ich würde mir wünschen, dass Misereor in diesem Sinne wandlungs- und lernfähig bleibt und sich immer wieder von den Pionieren des Wandels inspirieren lässt, mit denen wir vor Ort zusammenarbeiten.  Das birgt ein ungeheures Potential für eine andere Welt. . Deshalb wünsche ich mir, dass auch die kommende Bundesregierung den großen Reichtum zu schätzen weiß, den sie in der Entwicklungszusammenarbeit mit den beiden großen Hilfswerken der Kirchen hat. Denn man darf auch nicht vergessen: Zu zwei Dritteln staatlicher Mittel kommt bei uns immer auch noch ein Drittel aus Spenden und Kirchensteuermitteln hinzu.

Zur Person:

Der Portugiesisch-  Spanisch-und Englischsprachige Martin Bröckelmann, der aus Westfalen stammt,  verbrachte seine ersten fünf Berufsjahre nach einem Studium der Entwicklungssoziologie (zu dem 1994 noch eine Promotion hinzu kam) beim Evangelischen Personaldienst “dienste in übersee“, beim Hilfswerk Brot für die Welt und bei der Katastrophenhilfe des Diakonischen Werks. 1985 wechselte er von Stuttgart nach Aachen und wurde bei Misereor Referent für Brasilien, Paraguay und Chile. 1995 übernahm er bei Misereor die Leitung der Lateinamerika-Abteilung, ehe er 1999 als Stellv. Hauptgeschäftsführer  in den Vorstand und die Geschäftsführung des katholischen Hilfswerks berufen wurde. Martin Bröckelmann-Simon ist verheiratet, hat drei erwachsene Söhne und drei Enkelkinder. Er ist begeisterter Langstreckenschwimmer, Radfahrer und Wanderer.

NRW, 08/2021

Freitag, 15. Oktober 2021

Welche Stadt soll es sein?

 "Wir sind eine Bürgerbühne. Das bedeutet: Bei uns können Bürgerinnen und Bürger unter professionellen Rahmenbedingungen und zusammen mit Profi-Schauspielern Theater für ihre Mitbürgerinnen und Mitbürger machen." So charakterisiert Regisseur Jörg Fürst den Charakter der von ihm geleiteten Volxbühne, die am 21., 22. und 23. Oktober, jeweils um 19.30 Uhr in ihrem Studiotheater an der Adolfstraße 89a mit ihrer neuen Produktion "Polis - Stimmen der Stadt" aufspielt. 

Der Titel des 80-Minuten-Stücks ist Programm. Fürst möchte dem Publikum der Volxbühne einen Denkanstoß geben und die Frage aufwerfen: "Welche Art von Stadt wollen wir, will ich in Zukunft haben?" Das Thema Stadt im Wandel, siehe Innenstadt, könnte nicht aktueller sein. Wo ist die Stadt heute noch Polis, Stadt und Marktplatz, Ort der Begegnung und der Kommunikation, wenn immer mehr Ladenlokale in der City leer stehen und immer mehr Menschen nicht mehr im Geschäft oder auf dem Marktplatz, siehe Rathausmarkt, sondern auf den virtuellen Marktplätzen des Internets einkaufen und immer mehr Dinge ihres täglichen Bedarfs vor dem Computer im Homeoffice erledigen. Wird unsere urbane digitale Zukunft eine fröhliche Nichtbegegnung oder eine traurige Vereinsamung? 

In diesem Spannungsfeld führt uns das generationsüberspannende und multikulturelle Ensemble der Volxbühne spannende und bewegende Lebensgeschichten vor Augen. Wir erleben die Geschichte eines Bergmanns, der seinen Arbeitsplatz und damit auch sein soziales Milieu verloren hat, gespielt von einem syrischen Flüchtling, der auf ganz andere Weise die Entwurzelung einer radikalen Lebenswende erfahren musste und jetzt nach neuen Lebensperspektiven sucht. Wir begegnen einer Frau aus der Generation U 100, deren Jugend von einer Darstellerin aus der Generation U 20 verkörpert wird. Es ist eine spannende und vitale Frau, deren Lebenserfahrung von der Mitwirkung an den Olympischen Spielen im Berlin des Jahres 1936 bis zur Inhaberin einer Essener Kultkneipe in der jüngsten Vergangenheit. Wir lernen eine Straßenmusikerin kennen, die in ihrem Leben das Dur und das Moll in vollen Zügen erlebt und erlitten hat. Und wir schauen  mit den Augen eines Taxifahrers auf die Stadt, altgriechisches Wort zum Beispiel der Politik und der Polizei ihren Namen gegeben hat. Beide Institutionen sind eng mit dem Drama der Entwicklung unserer Städte verbunden.

Multimediale Performance

Am 21., 22. und 23. Oktober lohnt es sich aber schon vor der Zeit zur Volxbühne zu kommen, wenn dort an der Adolfstraße 89a um 18.30 Uhr die Abendkasse öffnet und Interessierte Theatergänger vor dem ersten Vorhang die Gelegenheit haben, mithilfe einer VR-Installation auch virtuell in die auf der Bühne dargestellten Lebensgeschichten einzutauchen. 

Aber nicht nur die Protagonisten und Schauspieler, sondern auch die musikalischen Begleiter der Volxbühne, Kyusang Jeong (Bassklarinette) und Peter Eisold (Percussion, Electronics & Objekte) lassen bei der Polis-Premiere und den nachfolgenden Polis-Aufführungen im Oktober und Januar von sich hören.

Eine Kartenvorbestellung ist möglich unter: der Rufnummer
0208 43 96 29 11 oder per E-Mail an: KARTEN@VOLXBUEHNE.DE Das Theaterticket kostet 12 Euro und ermäßigt 8 Euro. Wer mit der Bahn zur Volxbühne kommen will, erreicht sie mit der U18 (Haltestelle Von-Bock-Straße) oder mit der 112 (Haltestelle Weißenburger Straße)


MW/LK, 13.10.2021

Donnerstag, 14. Oktober 2021

Demokratischer Neuanfang

13. Oktober 1946: An diesem Tag sind 90.810  Mülheimerinnen und Mülheimer dazu aufgerufen unter der Aufsicht der britischen Militärregierung ein Stadtparlament zu wählen. Gewählt wird nach dem britischen Mehrheitswahlrecht in Wahlkreisen. 78,7 Prozent und damit fast 29  mehr als bei der Kommunalwahl 2020 machen damals von ihrem Wahlrecht Gebrauch. Die CDU wird zur stärksten Partei und stellt mit Wilhelm Diederichs den ersten gewählten Oberbürgermeister der Nachkriegszeit.

Die Kommunalwahl, die die britische Militärregierung im Mai 1946 angeordnet hat, ist Teil ihre Demokratisierungskampagne, die die 1934 von den Nationalsozialisten abgeschaffte kommunale Selbstverwaltung wieder einführen will. In einem Aufruf der Militärregierung an die Bürger heißt es damals: „Werde wieder Herr im eigenen Haus. Schließe dich einer Partei an. Informiere dich politisch. Arbeite mit. Hilf mit. Es gibt nur diesen einen Weg zur Freiheit.”


In der Lokalpresse werden die Themen angesprochen, die die Mülheimer 1946 bewegen: Hunger, Unterernährung, Schulspeisungen, die Integration von Flüchtlingen aus dem deutschen Osten, Not, Angst vor dem kalten Winter, Trümmerbeseitigung, Wiederaufbau von Wohnungen und Schulen, Wucherpreise auf dem Schwarzmarkt, Diebstähle von Kleidung und Lebensmitteln, gleicher Lohn für gleiche Arbeit. „Wir müssen verlangen, dass endlich mehr Bezugsmarken herausgegeben werden, denn Ware ist an verschiedenen Stellen noch gelagert.“, unterstreicht die Vorsitzende der Mülheimer AWO und SPD-Ratskandidatin Anne Fries in einem Interview mit der Lokalpresse.


Plakate und Parteiversammlungen, aber auch parteipolitisch gefärbte Presseberichte sind im Kommunalwahlkampf 1946 das Mittel der Wahl.. 14 Tage vor der Wahl erhält CDU-Wahlkampfunterstützung durch ihren Zonen-Vorsitzenden und späteren Bundeskanzler Konrad Adenauer. Der ehemalige Kölner Oberbürgermeister spricht im Tengelmann-Saal an der Wissollstraße. Auf einem Flugblatt der CDU heißt es damals: „Auch du musst endlich Partei ergreifen. Sonst hast du das Recht verloren dich darüber zu beklagen, dass dies und jenes so ganz anders verläuft, als du es dir gewünscht und gehofft hast. Wenn du politisch in Untätigkeit verharrst,  brauchst du dich nicht darüber zu wundern dass das neue Deutschland einmal ganz anders aussieht, als du es dir vorgestellt hast.“


Der Kaufmann und später Oberbürgermeister Wilhelm Diederichs und der Kreishandwerksmeister und spätere Bürgermeister Max Kölges sind die Spitzenkandidaten der CDU. Die SPD wird von dem NRZ-Redakteur Otto Striebeck und vom AOK-Leiter  Heinrich Thöne angeführt. An der Spitze der FDP steht der Betriebswirt, spätere Bürgermeister und Landtagsabgeordnete Wilhelm Dörnhaus.


Auch die 1945 wieder gegründete Kommunistische Partei KPD ist im industriell geprägten Mülheim mit seinen Stahlwerken und Zechen eine politische Größe. Für sie zieht vor 75 Jahren der Betriebswart Ernst Scheucken in den Stadtrat ein.

Da Mülheim im Herbst 1946 eine Trümmerstadt ist, können die Stadtverordneten nicht im (erst 1956 wiederhergestellten) Ratssaal tagen, sondern müssen mit ihrer konstituierenden Sitzung in die Aula des Staatlichen Gymnasiums an der Von Bock-Straße, das wir heute als Otto-Pankok-Schule kennen.


Mit der ersten freien Kommunalwahl nach dem Zweiten Weltkrieg etabliert die britische Militärregierung, deren Vertreter auch der konstituierenden Sitzung des Stadtrates (am 4. November 1946) beiwohnt, eine kommunale Doppelspitze aus einem vom Rat gewählten ehrenamtlichen Oberbürgermeister und dem hauptamtlichen, ebenfalls vom Rat gewählten, Oberstadtdirektor als Chef der Stadtverwaltung. So wird Wilhelm Diederichs vom Rat der Stadt zum Oberbürgermeister und Josef Poell zum Oberstadtdirektor gewählt.


In seiner Antrittsrede sagte der christdemokratische Oberbürgermeister Wilhelm Diederichs (1896-1974) am 4. November 1946: „Wir stehen vor einem sehr schweren Winter mit weittragenden Folgen für unsere Stadt. Tausende Frauen, Kinder und Männer besitzen noch nicht einmal das Notdürftigste für ein menschenwürdiges Dasein. Wir könnten mutlos werden angesichts dieser Not und der Verantwortung, die auf uns lastet, wenn wir nicht aus innerster Verpflichtung heraus handeln würden."


Und der spätere Oberbürgermeister Heinrich Thöne stellt als Fraktionschef der SPD fest: „Ernährung, Kleidung, Heizung, Wohnung und viele andere Probleme müssen angefasst werden. Seit 18 Monaten gilt der Krieg als beendet. Aber die Not wächst von Tag zu Tag. Es wird höchste Zeit, dass andere Formen der Wiederaufrichtung der deutschen Wirtschaft und des deutschen Volkes gefunden werden."


So wurde gewählt

 

Bei der Kommunalwahl am 13. Oktober 1946 geben rund 71.500 Wählerinnen und Wähler ihre Stimme ab. Wahlberechtigt ist man damals erst mit 21 Jahren. Die Auszählung der Stimmen dauert bis in den frühen Morgen des 14. Oktober 1946 an. Danach steht fest: Die CDU erringt 39,1 Prozent der Stimmen, die SPD, 37,2 Prozent, die FDP 12,8 Prozent und die KPD 10,1 Prozent. 0,8 Prozent der Stimmen entfielen auf parteiunabhängige Bewerber. 26.629 Mülheimer hatten die CDU, 25.335 die SPD, 8717 die FDP und 6678 die KPD gewählt. Aufgrund des damaligen Mehrheitswahlrechts kann die CDU 22 Wahlkreismandate gewinnen, die SPD 14, die FDP zwei und die KPD nur eines.


NRZ/WAZ, 13.10.2021

Schöne Straße?!

  Für die Mülheimer Presse und das neue Mülheimer Jahrbuch habe ich mich an 50 Jahre Schloßstraße erinnert. So alt bin ich also schon, dass ...