Die Betreuungsangebote für Kinder, etwa im Bereich der offenen Ganztagsgrundschulen, wurden ausgebaut. Außerdem gibt es in unserer Stadt inzwischen eine flächendeckende und aufsuchende Familienhilfe. Frischgebackene Eltern bekommen unaufgeforderten Besuch von Familienhelfern der Stadt oder anderen freien Sozialverbände, die sie über mögliche Angebote und Hilfestellungen aufklären. Auch wenn Kinder einen sozialen und emotionalen Reichtum darstellen, führt kein Weg daran vorbei, dass immer mehr Eltern auch durch ihre Kinder in materielle Not geraten, weil sie entweder arbeitslos sind oder einer Arbeit nachgehen müssen, von deren geringer Entlohnung sie ihre Familie kaum menschenwürdig ernähren können. Die aktuell rund 17.000 Arbeitslosengeld-II-Empfänger in Mülheim sind dafür nur eine soziale Kennziffer. Nicht nur finanziell, sondern auch zeittechnisch bleibt die so oft beschworene Vereinbarkeit von Familie und Beruf allzu oft nur ein frommer Wunsch.
Deshalb gilt nach wie vor, was ich (bereits 2006) im nachfolgenden Beitrag über Kinderarmut in Mülheim geschrieben habe:
Kinderarmut. Da mag mancher spontan an die Dritte Welt denken. Doch es gibt sie auch bei uns in Mülheim, arme Kinder, die von Anfang an in ihren Lebens- und Bildungschancen benachteiligt sind, weil ihren Eltern das nötige Geld und manchmal auch die Fähigkeit zu erziehen fehlt. Die NRZ fragte bei einigen leitenden Praktikern aus den Bereichen Sozialarbeit und Schule nach, wie Kinderarmut in Mülheim aussieht und welche Folgen sie für den betroffenen Nachwuchs haben kann. "Man ist arm in der Gesellschaft, in der man lebt", betont die ehrenamtliche Vorsitzende des Kinderschutzbundes, Ursula Faupel und macht damit deutlich, dass der Begriff arm nicht absolut ist, sondern sich immer aus dem Vergleich mit dem sozialen Umfeld der Betroffenen ableitet. Wenn Faupel und ihre Kinderschutz-Kolleginnen Monika Goltsche und Cornelia Völker, arme Familien zu Hause besuchen, um ihnen Hilfe anzubieten, treffen sie immer wieder auf Menschen, die nicht nur unter ihrer materiellen Armut, sondern noch mehr aus der daraus resultierenden sozialen Ausgrenzung leiden. Auch wenn sie aus ihrer Beratungspraxis wissen, "dass sich Armut versteckt", haben sich die Mülheimer Kinderschützerinnen einen Blick für die Armut erworben.
Hinter den rund 200 Türen, an denen sie jährlich klingeln, treffen sie auf Kinder, die kein eigenes Zimmer haben, sondern am Couchtisch oder sogar auf dem Fußboden ihre Hausaufgaben machen, während das Fernsehen im Hintergrund unaufhörlich läuft. Auch in der ärztlichen Beratungsstelle, in der jedes Jahr 200 bis 300 Eltern mit ihren Kindern vorstellig werden, sehen sie Kinder, die oft durch Fast Food fehlernährt sind, eine mangelnde Zahnhygiene aufweisen oder verhaltensauffällig sind. Ähnliches berichten auch die Kollegen von Diakonie, Arbeiterwohlfahrt, Caritas und dem Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD) der Stadt, die in arme Familien hinein gehen, weil die betroffenen Eltern um Hilfe baten oder zum Beispiel Hinweise von Kinderärzten, Kindergärten oder Schulen kamen. "Die wirtschaftliche Not nimmt zu", weiß Martina Wilinski, Leiterin des ASD, dessen rund 50 Familienhelfer derzeit rund 35 Familien betreuen und bei ihren Hausbesuchen immer wieder auf desolate Wohnungsausstattungen treffen, bei denen es an allem fehlt, angefangen bei Möbeln, Spielzeug und der Babywäsche bis hin zum Kinderwagen, von Büchern ganz zu schweigen. "Es gibt oft wenig Wissen darüber, wie und wo man sich etwas kostenlos erschließen kann, etwa durch einen Besuch der Stadtbücherei. Viele Familien tauschen sich nicht aus. Aber nur, wer sich unterhält, kann vom anderen etwas erfahren", beschreibt die stellvertretende Caritas-Geschäftsführerin, Margret Zerres, ein Grundproblem der nicht nur materiellen Kinderarmut. Das solche sozialen Starthandicaps den Schulerfolg erschweren, liegt nicht nur für Sozialarbeiter, sondern auch für Pädagogen auf der Hand. "Kinderarmut ist ein gesellschaftliches Problem, das sich an allen Schulen zeigt", sagt Hauptschulrektor Niklas Rahn von der Bruchstraße.
Nicht nur an seiner Schule, die ebenso wie die benachbarte Grundschule von der Mülheimer Tafel kostenlos mit Obst und Brötchen beliefert wird, gibt es viele Kinder, die ohne Frühstück zum Unterricht kommen und daheim auch keine regelmäßige warme Mahlzeit bekommen. Doch auch jenseits der Ernährung sieht Rahn die Folgen der Kinderarmut. "Sozial schwache Familien haben keine Möglichkeit, ihren Kindern Klavier- oder Musikschulunterricht zu finanzieren", betont er. In der Ganztagsschule, die jetzt auch an der Hauptschule Bruchstraße eingeführt wurde und in differenzierten Förderangeboten sieht er den Ansatz, die Chancenungleichheit armer Kinder auszugleichen. Seine Kollegen Christa van Behrend von der Gustav-Heinemann-Schule und Behrend Heeren von der Willy-Brandt-Schule bestätigen seine Beobachtungen und Einschätzungen. Heeren sieht Kinderarmut als einen "schleichenden Prozess", der sich nicht nur in ungesunder Ernährung, sondern auch darin zeigt, dass viele Eltern die Klassenfahrt ihrer Kinder nicht mehr bezahlen können. Auch seine Kollegin van Behrend registriert eine steigende Zahl von Unterstützungsanträgen an den Förderverein ihrer Schule, wenn es um die Bezahlung von Klassenfahrten oder Schulmaterialien geht.
Vor diesem Hintergrund ist es für Sozialamtsleiter Klaus Konietzka ein Unding, dass das neue NRW-Schulgesetz die Lernmittelfreiheit für ALG-II-Empfänger aufgehoben hat. "Ein Drittel der Eltern brauchen den Schulbuchzuschuss der Stadt", weiß der Leiter der Grundschule im Dichterviertel, Manfred Bahr. Er schätzt, dass etwa ein Viertel der Kinder an seiner Schule in Familien groß werden, die von Arbeitslosengeld II leben müssen. Um zumindest eine gemeinsame Arbeitsgrundlage zu schaffen, unterstützt der Förderverein der Schule die Anschaffung von Lernmaterialien. Besonders dankbar ist Bahr auch für die ehrenamtlich engagierten Bürger, die sich im Rahmen der Ganztagsbetreuung um die zusätzliche Leseförderung bemühen. Birgit Hirsch-Palepu, die die Sozialen Dienste des Diakonischen Werkes leitet, sieht Mülheim bei der Offenen Ganztagsgrundschule gut aufgestellt. "Kinder bekommen hier eine Förderung, die sie sonst nicht bekommen könnten, weil ihre Eltern berufstätig oder aus sozialen Gründen nicht dazu in der Lage wären", unterstreicht sie. Zu dieser Förderung, an der sich die Diakonie und die anderen Sozialverbände aktiv beteiligen, gehört aus ihrer Sicht die für immer mehr Kinder nicht selbstverständliche Erfahrung eines gemeinsamen und gesunden Mittagessens. Die Sozialdienstleiterin der Diakonie, die derzeit rund 370 arme Familien durch den Alltag begleitet, weiß aus ihrer 19-jährigen Praxis: "Die Eltern sind bemüht, haben aber den Kopf angesichts ihrer Probleme von Arbeitslosigkeit bis zu Trennung und Scheidung, so voll, dass sie oft keine Energien mehr übrig haben." Nicht nur für die Leiterin des Styrumer Caritas-Sozialbüros, Gerda Timper und den Geschäftsführer der Arbeiterwohlfahrt, Lothar Fink steht fest, dass die Ganztagsschule dieser durch die sozialen Rahmenbedingungen geschaffenen Überforderung der Eltern nur dann vorbeugen und Kinder angemessen fördern kann, wenn sie flächendeckend, verpflichtend und vor allem kostenlos angeboten würde. "Wo Eltern entweder arbeitslos sind oder zwei bis drei Jobs brauchen, um zu überleben, bleiben Kinder sich selbst überlassen. Und wo Eltern ihre Kinder nicht fördern können, haben diese deshalb oft keinen Erfolg in der Schule", skizziert sie den sozialen Teufelskreislauf der Armut. Dennoch wollen weder die Leiterin des Caritas-Sozialbüros, das mit Hilfe der Lions 20 bedürftigen Kindern eine kostenlose Hausaufgabenbetreuung anbietet, noch Hauptschulleiter Rahn die Gleichung "Armes Kind = schlechter Schüler" gelten lassen.
"Viele bekommen eine prima Schullaufbahn und einen guten Abschluss hin", weiß Rahn. AWO-Geschäftsführer Fink sieht beim Thema Kinderarmut eine bodenlose Doppelmoral: "Unsere Gesellschaft investiert nicht zureichend in ihre Kinder. Und wenn wir, wie politisch oft beschworen, nur halb soviel Kinder haben, wie gewünscht, müssten sie uns doch eigentlich doppelt soviel wert sein", meint er. In Kinderschützerin Ursula Faupel findet er eine Gleichgesinnte. Dass das Land bei der Kinder- und Jugendarbeit spart, empfindet sie als "kontraproduktiv" und die Tatsache, dass ein Fünftel der Jugendlichen die Schule ohne Abschluss und Berufsperspektive verlässt, als eine unverzeihliche Verschwendung von Talenten. "Wo der soziale Druck wächst, wächst auch die Gewalt. So wird es auf Dauer kein friedliches Zusammenleben geben", warnt sie. AWO-Mann Fink und Schulleiter Heeren sehen nicht zuletzt unter dem Eindruck der Pisa-Studie Skandinavien mit seiner flächendeckenden, auf kleine Lerngruppen und späte Differenzierung setzenden Ganztagsgesamtschule als sozial- und bildungspolitisches Vorbild, wenn es darum geht, Chancengleichheit zwischen Kindern aus armen und wohlhabenden Elternhäusern herzustellen. Für Sozialamtschef Konietzka sind bei der Bekämpfung der Kinderarmut "vernetzte Hilfe unter einem Dach" und das "Aufbrechen des Bereichsdenkens" das Gebot der Stunde.
KINDERARMUT IN MÜLHEIM - ZAHLEN, DATEN, FAKTEN IM ÜBERBLICK
Zum Beginn des neuen Schuljahres schlugen die Sozialverbände in NRW Alarm. Landesweit lebe jeder fünfte Minderjährige, insgesamt rund 540 000 Kinder und Jugendliche, unter der Armutsgrenze. Bundesweit seien es 2,5 Millionen. Nur etwa vier Prozent der Kinder und Jugendlichen aus so genannten armen Familien schafften nach der Grundschule den Sprung aufs Gymnasium. Als arm gelten nach dem Armutsbericht der Bundesregierung Haushalte, deren monatliche Nettoeinkommen bei weniger als 60 Prozent des statistischen Durchschnittseinkommens liegt (2003: unter 938 Euro). In Mülheim lebten nach Angaben des Stabes für kommunale Entwicklung und Stadtforschung Ende 2004 2594 Kinder von Sozialhilfe. Damit war ihr Anteil unter den Sozialhilfeempfängern mit rund neun Prozent fast doppelt so hoch wie der Anteil der Bürger im erwerbsfähigen Alter (4,7 Prozent). Nach der Zusammenlegung von Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe zum Arbeitslosengeld (ALG) II hat sich die materielle Situation der Kinder offensichtlich dramatisch verschärft. Nach Angaben des Sozialamtes stieg die Zahl der sogenannten Bedarfsgemeinschaften (Haushalte), die ALG II beziehen vom 1. Januar 2005 (6626) bis zum 31. Juli 2006 um rund ein Drittel auf 8813. Gleichzeitig stieg die Zahl der Kinder, die von ALG II leben vom Januar 2005 (2680) auf 5302, im Januar 2006.
Ende Juli lag die Zahl der Schüler aus ALG-II-Haushalten in Mülheim bei 3274. Nicht zuletzt unter dem Eindruck dieser Zahlen plant die Sozialverwaltung in Zusammenarbeit mit dem Zentrum für interdisziplinäre Ruhrgebietsforschung der Ruhruniversität Bochum noch 2006 die Installierung einer lokalen Familienberichterstattung. Erhellt wird das Problem der Kinderarmut in Mülheim auch durch Zahlen der örtlichen Schuldenberatungsstellen. Allein das Sozialbüro der Caritas in Styrum beriet 2005 rund 500 Familien und damit indirekt rund 1000 Kinder in sozialen und finanziellen Notlagen. Im ersten Halbjahr 2006 waren es bereits 350. Tendenz steigend. Die Schuldnerberatung der Arbeiterwohlfahrt half 2005 in 1429 Fällen, bei denen 1345 Kinder in Mitleidenschaft gezogen waren. Als Ausdruck der Kinderarmut kann auch der Umstand gewertet werden, dass täglich rund 480 Menschen, darunter etwa 140 Kinder, das kostenlose Lebensmittelangebot der Mülheimer Tafel in Anspruch nehmen.
NRZ, 01.08.2006/31.12.2008
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