Montag, 18. Oktober 2021

Der Mann von Misereor

 22 Jahre lang hat Dr. Martin Bröckelmann-Simon als Geschäftsführer die internationale Zusammenarbeit des bischöflichen Hilfswerks Misereor (Lateinisch: „Ich erbarme mich.“) verantwortet, Im Gespräch mit dem Neuen Ruhrwort zieht der katholische Entwicklungshelfer, der zu Beginn seines Berufslebens auch für evangelische Hilfswerke tätig war, eine  Bilanz.

Wie kamen Sie zur Entwicklungshilfe?

Bröckelmann-Simon: Brasilien war meine erste große Liebe. Das hatte auch biografische Gründe, da mein Onkel Johann 1922 nach Brasilien ausgewandert ist. Wir haben brieflich Kontakt zu ihm gehalten und von ihm viel über sein Leben in Brasilien erfahren. Das hat mich fasziniert und 1977 habe ich dann selbst in Brasilien gelebt und gearbeitet. Das war ein prägendes Erlebnis.

Was war Ihre erste Erfahrung in der Entwicklungshilfe?

Bröckelmann-Simon: Ich habe damals im Rahmen meines Soziologie-Studiums in Brasilien an einem Forschungsprojekt teilgenommen. Dabei ging es um die Analyse der sozialen und wirtschaftlichen Folgen eines von der Weltbank mitfinanzierten großen Staudamm-Projektes am Rio Sao Francisco im Nordosten Brasiliens. Ich habe damals dort mit der von Umsiedlung betroffenen Bevölkerung gelebt und vor Ort auch sehr viele engagierte Kirchenleute kennen gelernt, die sehr aktiv und konsequent an der Seite der armen und entrechteten Landbevölkerung standen. Das hat mich tief beeindruckt und meinen weiteren Berufsweg mitbestimmt.

Was hat Sie persönlich in der Entwicklungshilfe angetrieben?

Bröckelmann-Simon: Die Bereitschaft, aus Erfolg wie aus Scheitern zu lernen. Rückschläge gehören zum Leben. Davor ist auch die Entwicklungszusammenarbeit nicht gefeit. Ich tue mich schwer mit dem unbedingten Zwang zu schnellen Erfolgsmeldungen. Oftmals stellt sich erst langfristig heraus, , welche Wirkungen ein Projekt tatsächlich hatte. Ich habe immer wieder festgestellt, dass Zeit in der Entwicklungszusammenarbeit die wichtigste Ressource ist. Allerdings mussten wir alle doch auch eine Beschleunigung von globalen Veränderungsprozessen feststellen. Denken wir nur an die voranschreitende Klimakatastrophe, die jetzt schnelle Antworten erfordert und zugleich seit geraumer Zeit schon die Rahmenbedingungen für Entwicklungszusammenarbeit massiv bestimmt. Ich sehe darin ein großes Dilemma. Dennoch habe ich auf meinen Reisen und bei denen von mir betreuten Projekten immer wieder Hoffnung darin erfahren, dass selbst im scheinbar schwächsten und ärmsten Menschen eine enorme Veränderungskraft steckt, wenn verschüttete Fähigkeiten freigelegt und gefördert werden. Das zu erleben, war immer eine riesige Kraftquelle für mich, die mich mit positiver Energie aufgeladen hat. Das unschlagbare Konzept der kirchlichen Entwicklungsarbeit ist, dass sie immer beim einzelnen Menschen ansetzt und damit der Tatsache gerecht wird, dass wir in der weltkirchlichen Familie keine neue Infrastruktur erfinden müssen, sondern immer und überall schon geborene Partner haben, die mit den Menschen und Strukturen vor Ort vertraut sind.

Erinnern Sie sich an für Sie besonders prägende und sinnstiftende Erfolgserlebnisse?

Bröckelmann-Simon:  Bleiben wir bei Brasilien. Gerne erinnere ich mich an die landesweite Arbeit mit Straßenkindern, die eben auch von vielen kirchlichen Akteuren getragen wurde. Sie haben es, dank ihrer landesweiten Vernetzung, hinbekommen, eine nationale Bewegung für die Rechte aller Kinder, auch der Kinder auf der Straße, zu initiieren und damit zu erreichen, dass die Kinderrechte in der neuen Verfassung Brasiliens verankert wurden. Das war für mich ein Beispiel dafür, wie kleine lokale Initiativen, wenn man sie miteinander vernetzt, auch politische und gesetzgeberische Wirkung entfalten können. Gleiches galt auch für Bewohner der Elendsviertel z.B. in Argentinien und Mexiko, die sich zusammengeschlossen haben und gemeinsam in dem Sinne auf die kommunale Stadtplanung einwirken konnten, dass auch ihre Anliegen und Rechte in der weiteren Stadtentwicklung berücksichtigt wurden. Gerne denke ich auch daran, dass in Brasilien die Bewegung der landlosen Bäuerinnen und Bauern es geschafft hat, zusammen mit der kirchlichen Kommission für Landfragen auf die Agrarreform Einfluss zu nehmen. Und in Laos haben sich indigene Dorfbewohner zusammengeschlossen, um mit einem selbst erstellten Kataster ihre Landnutzung zu dokumentieren und damit der voranschreitenden illegalen Landnahme entgegenzuwirken. Diese Beispiele zeigen mir, dass auch ganz kleine Initiativen Großes erreichen können, wenn sie sich mit anderen  gleichgesinnten Gruppen auf regionaler, nationaler und bis zur internationalen Ebene zusammenschließen.

Wie hat sich die Arbeit von Misereor in der Zeit verändert, in der Sie das Hilfswerk aktiv mitgestaltet haben?

Bröckelmann-Simon: Ich bin stolz darauf, dass wir in all den Jahren eine dynamische, lernfähige und veränderungsbereite Organisation geblieben sind. Wir mussten allerdings auch lernen, dass sich in unserer Arbeit fortschreitend und immer wieder die politische Systemfrage stellt – alles hängt mit allem zusammen. Das bedeutet: Wir müssen die Armgemachten und Ausgegrenzten darin stärken, dass sie politische, soziale und wirtschaftliche Widerstandskraft entwickeln, um die eigenen Rechte politisch durchsetzen zu können. Die Herausforderungen, die wir als Menschheitsfamilie heute bewältigen müssen, sind global und komplexer Natur, weil sie vom Einzelnen wie vom System grundlegenden Wandel in Lebens- und Wirtschaftsweise erfordern. So haben wir es heute auf allen Ebenen unserer Arbeit mit den weltweiten Folgen des Klimawandels zu tun. Wir erleben auch bei den Fragen von Krieg und Frieden, dass die Zeiten relativer politischer Stabilität dahin sind und sich die Dinge heute sehr viel schneller und gravierender ändern können, als wir das früher erlebt haben. Ich denke dabei aktuell unter anderem an die enttäuschen Friedenshoffnungen in Afghanistan und die neuen Konflikte in Äthiopien und im Süd-Sudan.

Wie arbeitet Misereor vor Ort?

Bröckelmann-Simon: Wir haben zurzeit rd. 1.700 Partnerorganisationen in 85 Ländern der Erde. Dabei bewegen wir uns im Geflecht der weltkirchlichen Zusammenarbeit. Das heißt: Überall, wo es Pfarreien, Ordensgemeinschaften, Bistümer oder einzelne Gruppen gibt, die sich im Geist von Misereor engagieren, um die Lebensbedingungen der Menschen in ihren Ländern gerechter und besser zu gestalten, ist Misereor schon da.. Nicht alle sind amtskirchlich, sondern etwa ein Viertel unserer Partner sind zivilgesellschaftliche Organisationen. Misereor ist kein Werk der Kirche für die Kirche, sondern ein Werk der Kirche für die Armen, unabhängig von ihrer religiösen oder politischen Überzeugung und auch unabhängig von ihrer Herkunft. Misereor arbeitet nach dem Antragsprinzip. Das heißt: Wir haben keine eigenen Mitarbeiter vor Ort, sondern arbeiten stets mit einheimischen Gruppen und Menschen zusammen, die  mit den Verhältnissen und der Kultur ihres eigenen Landes bestens vertraut sind. Von ihnen kommen die Projektideen, nicht von uns. Meine letzte Dienstreise hat mich zum Beispiel nach Somalia, ein gescheiterter Staat und Kriegsgebiet, geführt. Dort finden sie heute zwar keine einzige Pfarrei. Aber es gibt dort mit uns verbundene Organisationen, die z.B. im Schulbereich oder in Krankenhäusern, in Somalia aktiv sind. Und es gibt ein Bistum Mogadishu-Somalia, das zurzeit von Dschibuti aus verwaltet wird. Sie sehen: Wir finden immer und überall Ansprechpartner und Anknüpfungspunkte vor Ort.

Wie hat Sie Ihre Arbeit für Misereor geprägt?

Bröckelmann-Simon: Ich habe gelernt, mit einem weiten, globalen Horizont zu leben und diese  Haltung auch an die Menschen um mich herum weiterzugeben. Das werde ich auch im Ruhestand so beibehalten. Wie könnte ich auch anders? Weil ich sehr unterschiedliche Lebenswelten kennenlernen durfte, weiß ich, wie relativ alles ist und wie sorgfältig wir mit unserem Planeten, seinen Menschen und unserer natürlichen Mitwelt umgehen müssen. Meine Arbeit hat mich demütig gemacht. Ich habe mich von allzu hochfliegenden Plänen und Ideen verabschiedet, aber meine Hoffnung nie verloren.

Wie hat die Corona-Pandemie Ihre Arbeit bei Misereor verändert?

Bröckelmann-Simon: Seit März 2020 ist bei Misereor niemand mehr ins Ausland gereist. Wir sind auf die virtuelle Kommunikation via Zoom-Konferenzen, E-Mail-Korrespondenz und Telefongespräche angewiesen. Aber das wird von den Mitarbeitenden engagiert mitgetragen und wir haben gemerkt, dass unsere weltweiten Beziehungsgeflechte stabil und belastbar genug sind, um auch diese Krise zu überstehen. Wir sind durch Corona ausgebremst worden und ich bedauere es sehr, dass ich aufgrund der Pandemie mich zum Ende meiner vielen Jahre nicht mehr von wichtigen Partnern Misereors vor Ort verabschieden konnte. Aber ich freue mich, dass wir unsere Kontakte erhalten und unsere Arbeit fortsetzen konnten. Alle haben sich einmal mehr als lern-, anpassungs- und wandlungsfähig erwiesen.

Was wünschen Sie Misereor für die Zukunft?

Bröckelmann-Simon: Misereor sollte den einzelnen Menschen im Mittelpunkt behalten und Projekte als Experimentierräume verstehen , in denen im Kleinen wie im Großen neue Ansätze im Sinne des nötigen sozial-ökologischen Wandels erprobt und gestaltet werden. Ich würde mir wünschen, dass Misereor in diesem Sinne wandlungs- und lernfähig bleibt und sich immer wieder von den Pionieren des Wandels inspirieren lässt, mit denen wir vor Ort zusammenarbeiten.  Das birgt ein ungeheures Potential für eine andere Welt. . Deshalb wünsche ich mir, dass auch die kommende Bundesregierung den großen Reichtum zu schätzen weiß, den sie in der Entwicklungszusammenarbeit mit den beiden großen Hilfswerken der Kirchen hat. Denn man darf auch nicht vergessen: Zu zwei Dritteln staatlicher Mittel kommt bei uns immer auch noch ein Drittel aus Spenden und Kirchensteuermitteln hinzu.

Zur Person:

Der Portugiesisch-  Spanisch-und Englischsprachige Martin Bröckelmann, der aus Westfalen stammt,  verbrachte seine ersten fünf Berufsjahre nach einem Studium der Entwicklungssoziologie (zu dem 1994 noch eine Promotion hinzu kam) beim Evangelischen Personaldienst “dienste in übersee“, beim Hilfswerk Brot für die Welt und bei der Katastrophenhilfe des Diakonischen Werks. 1985 wechselte er von Stuttgart nach Aachen und wurde bei Misereor Referent für Brasilien, Paraguay und Chile. 1995 übernahm er bei Misereor die Leitung der Lateinamerika-Abteilung, ehe er 1999 als Stellv. Hauptgeschäftsführer  in den Vorstand und die Geschäftsführung des katholischen Hilfswerks berufen wurde. Martin Bröckelmann-Simon ist verheiratet, hat drei erwachsene Söhne und drei Enkelkinder. Er ist begeisterter Langstreckenschwimmer, Radfahrer und Wanderer.

NRW, 08/2021

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