Dienstag, 26. November 2024

Ein Mini-Malta an der Ruhr

Wo heute der Nachwuchs bei der Arbeiterwohlfahrt seine Freizeit verbringt, schoben im alten Wachhaus der Wraxham Baracks von 1945 bis 1994 Soldaten der Britischen Rheinarmee ihren Dienst. Zwischen 1964 bis 1970 waren in den Wraxham Barracks, die wir heute als Wohnpark Witthausbusch kennen, 450 Soldaten aus der britischen Kronkolonie Malta und ihre 50 Zivilangestellten stationiert. Als Transporteinheit versorgten die Malteser im Dienste der Krone ihre britischen Kameraden in Westdeutschland, Belgien, Holland und Frankreich. John Victor Urry war einer von ihnen. Er kam als 22-Jähriger im November 1964 nach Mülheim und blieb auch hier, als seine Dienstzeit zu Ende war.

Dafür sprachen nicht nur sein Job bei der Brotfabrik Oesterwind, sondern auch sein deutsches Fräulein Wunder. Das traf er, in Person von Marlies Wolfgarten, immer wieder sonntags, an der Ruhr. 1975 gab sich das Paar das Ja-Wort fürs Leben. Aus dem Ehepaar wurde ein Elternpaar, das der Tochter Alexandra und dem inzwischen verstorbenen Sohn Oliver das Leben schenkte. Für John Victor Urry, der auf Malta eine strenge katholische Erziehung und berufliche Perspektivlosigkeit erlebt hatte, war

Mülheim die große Freiheit. "Hier fühlte ich mich wie ein Vogel, dessen Käfigtür aufgemacht wird und der plötzlich frei herumfliegend kann", sagt und John Victory Urry und lächelt, mit sich und seinem Leben, offensichtlich zufrieden. 

Montag, 25. November 2024

Mensch im Mittelalter

 Die Interessengemeinschaft Hochgotik ließ die Besucherinnen und Besucher auf Schloss Broich ins 13. Und 14. Jahrhundert reisen und kam damit gut an.

Dass das Mittelalter keineswegs eine so finstere Epoche war, wie sie rückblickend im 19. und im 20. Jahrhundert beschrieben worden ist, zeigten die historisch gewandeten Darstellerinnen und Darsteller der Interessengemeinschaft Hochgotik auf Einladung des Geschichtsvereins. Den Kontakt zur IG Hochgotik hatte unsere Schriftführerin Beate Fischer hergestellt.

Mehr als 300 interessierte Besucherinnen und Besucher aus allen Generationen nutzten am 23. November den anschaulichen und informativen Auftritt der Interessengemeinschaft Hochgotik, bei denen nur einer von neun Darstellern, krankheitsbedingt, im Hochschloss Broich nicht mit von der Partie sein konnte.

Mario Georg und Benjamin Lammertz sind sich einig: „Das Mittelalter war eine sehr vielseitige Zeit, in der es immer wieder viel zu entdecken gibt und die weder so finster und rückständig noch so romantisch gewesen ist, wie sie heute oft dargestellt und wahrgenommen wird.“

Neben Lammertz und Georg, nutzten auch deren Ehefrauen Sabine Staske und Ulrike Berg sowie Carsten Giesen, Birgit Lichte-Steeger, Sonja Utzenrath und Tobias Gommes ihr achtstündiges Gastspiel in dem vom Geschichtsverein ehrenamtlich betreuten Historischen Museum auf dem Broicher Hochschloss, um kleinen und großen Zeitreisenden zu vermitteln, wie zwischen 1250 und 1350 in Klöstern gearbeitet, geschrieben, gelesen und gebetet wurde, was gegessen und getrunken und was als Kleidung aus Wolle und Leinen getragen wurde. So standen damals zum Beispiel noch keine Tomaten und Kartoffeln, dafür aber vor allem viel Roggen- und Dinkelgetreide auf dem Speiseplan unserer Vorfahren. Kartoffeln und Tomaten wurden erst nach der Entdeckung Amerikas, also ab 1492, in Europa aufgetischt. Auch interessant: Der Urin wurde auch in öffentlichen Fässern und Keramikschalen gesammelt, um aus dem darin enthalten Ammoniak die Essenz für Blaufärbungen zu gewinnen.

„Vieles von dem, was uns heute selbstverständlich erscheint, wurde erst im Hoch- und Spätmittelalter erfunden, zum Beispiel der Webstuhl, die Brille und der Buchdruck“, berichtet Ulrike Berg.


„Den heutigen Termindruck kannte man im Mittelalter noch nicht. Das Leben der Menschen war zwar oft hart, arbeitsreich und stressig, aber verlief doch wesentlich entschleunigter als heute“, erklärt Mario Georg. Dennoch möchte er, der, wie seine mittelalterbegeisterten Mitspieler aus dem Rhein-Ruhr-Gebiet kommt, angesichts der heutigen ärztlichen und medizinischen Versorgung keinesfalls im Mittelalter gelebt haben.

Mehr über die Interessengemeinschaft Hochgotik findet man im Internet unter: www.hochgotik.wordpress.com

Sonntag, 24. November 2024

Menschen bewegen Menschen

 Beim Thema Seelsorge denkt man nicht ans Radfahren. Und "Radfahrern", die nach unten treten, aber nach oben buckeln, ist alles zuzutrauen, aber keine Seelsorge.

Doch im Auftrag der Münsteraner Bistumszeitung Kirche und Leben hatte ich jetzt Gelegenheit Menschen aus einer Caritas-Gruppe in Kamp Lintfort kennenzulernen, die als ehrenamtliche Riksha-Chauffeure genau das sind, Seelsorger, die sich für ihre immobilen, alten, kranken und behinderten Mitmenschen immer wieder gerne abstrampeln. Zwischen Mai und Oktober radeln die 51 Riksha-Piloten insgesamt rund 4000 Kilometer, um ihre Fahrgäste durch das schöne Kamp Lintfort und seine Umgebung zu kutschieren. Natürlich bleibt bei ihren unentgeltlichen undunbezahlbaren Stadtrundfahrten mit den inzwischen sieben gestifteten und gesponserten E-Bike-Riksha viel Zeit, um sich Geschichten aus dem Leben und aus der eigenen Stadt zu erzählen, nicht nur beim Fahren und Gefahren werden, sondern auch während der immer eingelegten Kaffee- Kuchen und Eispause.

"Wir bewegen Menschen und werden so von ihnen selbst bewegt!" So bringen die Gründer und Organisatoren des ganz besonderen Fahr- Pfarr- und Seelsorgedienstes rund um den Kirchturm von St. Josef, Maria Dalsing, Hans-Peter Niedwiedz und Chirstioph Kämmerling die 2023 gestartete Erfolgsgeschichte ihrer rollenden Seelsorge auf den Punkt.

Bemerkenswert ist, dass die unter dem Banner der Caritas fahrenden Riksha-Chauffeure und Chauffeurinnen inzwischen nicht nur interkonfessionell, sondern sogar interreligiös unterwegs sind, weil sie, wie sie im Gespräch immer wieder betonen, glücklichere Menschen geworden sind, in dem sie Mitmenschen mit etwas Zeit und Einfühlungsvermögen, eine Freude bereiten und ihnen so ein Lächeln ins Gesicht zaubern können. Wer schon mal beim monatlichen Bikertreff der radelnden Caritas-Seelsorger dabei gewesen ist, kann bestätigen. Soziale Gruppendynamik, Lebensfreude und positive Energie, die wir nicht nur in der Kirche, sondern in unserer gesamten Gesellschaft oft schmerzlich vermissen, sind hier mit Händen zu greifen und mit allen Sinnen zu spüren. 

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Donnerstag, 21. November 2024

Trüber November

 Für den Evangelischen Kirchenkreis an der Ruhr und seine sechs Gemeinden ist der November nicht nur klimatisch trübe. Superintendent Michael Manz musste den Synodalen im Altenhof mit seinem Rechenschaftsbericht ein Haushaltsloch von 850.000 Euro präsentieren. Die berechtigte Frage: "Wie konnte das passieren!" beantworteten Manz, seine Stellvertreterin Gundula Zühlke und der Geschäftsführer des Kirchenkreises, Christoph Niklasch, nach bestem Wissen und Gewissen, aber deshalb nicht weniger ernüchternd, frei nach Martin Luther: "Hier stehe ich. Ich kann nicht anders." 

Den Kern des Problems bilden die 4000 Menschen, die seit 2019 als Mitglieder der Evangelichen Kirche verstorben oder aus ihr ausgetreten sind. Auch Taufen und Neuaufnahmen können den Mitglieder- und damit auch den Kirchensteuerschwund der Evangelischen Stadtkirche nicht annähernd auffangen. Zum Vergleich: Vor 50 Jahren gab es 105.000 evangelische Kirchenmitglieder in Mülheim, 1998 waren es noch 64.000, 2019 noch 42.000 und jetzt (2024) eben besagte 38.000. Noch stehen der Evangelischen Stadtkirche damit Kirchensteuereinnahmen von mehr als acht Millionen Euro zur Verfügung. Doch der weitere Abwärtstrend, der gleichermaßen demografisch und gesellschaftlich begründet ist, ist absehbar. 

"Wir müssen über die Aufgabe ganzer Arbeitsbereiche nachdenken", brachte ein Kirchmeister die traurige Wahrheit auf den Punkt. Dieser schwierigen Aufgabe müssen sich jetzt sieben Mitglieder einer Kommission stellen, die die Kreissynode einstimmig eingerichtet hat. Nicht ganz einstimmig konnten sich die Synodalen darauf einigen, die Umlage der sechs Mülheimer Kirchengemeinden um satte 400.000 Euro anzuheben, um den Kirchenkreis bis zur Frühjahrssynode 2026 handlungsfähig zu halten. Denn dann soll die jetzt eingesetzte Kommission, mithilfe externer Begleiter, konkrete Struktur- und Sparbeschlüsse auf den Tisch der 50 Kirchenparlamentarier legen, von denen bei der Herbstsynode 38 anwesend waren.  

Eine Synodalin geht davon aus, dass es künftig nur noch eine Evangelische Kirchengemeinde in Mülheim geben und diese mit dem benachbarten Kirchenkreis Oberhausen (45,000 Kirchenmitglieder) fusionieren wird. Mit dem Hinweis auf die Freiburger Kirchenstudie weist Superintendent, Michael Manz, darauf hin. dass die Evangelische Kirche in Deutschland bereits 2045 nur noch halb so viele Mitglieder haben wird, wie heute. Weil auch die katholische Kirche keinen anderen Megatrend aufzuweisen hat, als ihre Schwesterkirche, bekommt die Ökumene künftig noch eine viel größere Bedeutung, als dies heute schon der Fall ist, da die beiden Stadtkirchen zu einem Ökumenischen Neujahrsempfang in den Altenhof einladen, der 1930 als Haus der Evangelischen Kirche eröffnet worden ist. Doch auch eine Ökumenische Kirche in Deutschland wird angesichts der zunehmenden Individualisierung und Entsolidarisierung Austrittswellen, wie wir sie derzeit erleben, weder finanziell noch inhaltlich und strukturell verkraften, ohne erheblich an ihrer gesellschaftlichen Relevanz und Prägekraft zu verlieren. Ob das im Sinne der Kirchenflüchtlinge ist und ob sie wissen, welcher Gesellschaft sie mit ihrem Kirchenaustritt den Weg ebenen, kann getrost bezweifelt werden. Es spricht in diesem Zusammenhang für sich, dass auch die Evangelische Kirche, die nicht mit einem Pflichtzölibat beladen ist, nicht nur bei der Bindung und Gewinnung neuer Mitglieder. sondern auch bei der theologischen Nachwuchsgewinnung massive Probleme hat. 

Letzteres kann nicht verwundern, wenn man an das klassische Verständnis vom Pfarramt die neuen Maßstäbe der Work-Life-Balance anlegt. Doch darüber hinaus ist es eben der Abbruch christlicher Sozialisationsstränge, die mit den aktuellen Austrittswellen noch verschärft werden, die unser klassisches Bild von der Gemeinde mit der Kirche im Dorf und einer omnipräsenten Pfarrperson, zunehmend zur Illusion werden lässt, die platzt, wie eine Seifenblase. 

Vielleicht machen die christlichen Kirchen, die schon jetzt keine Volkskirchen mehr sind, ja aus der Not eine Tugend und werden kleiner, aktiver, demokratischer, ökumenischer, persönlicher, glaubwürdiger und damit auch wieder attraktiver, glaubwürdiger und anziehender, wenn sie es wieder schafft, die Frohe Botschaft Jesu, nicht nur zur predigen, sondern auch im Alltag zu leben. Das ist zweifellos eine Aufgabe, die alle Christenmenschen fordert, ob sie nun geweihte Theologen sind oder nicht.  


Kirchenkreis An der Ruhr

Freitag, 15. November 2024

Närrischer November

 Mittwoch, 6. November, Am Morgen wird klar: Donald Trump bekommt eine zweite Chance als US-Präsident. Und abends platzt die Ampel-Koalition. Da mag so mancher sich, wie im Narrenhaus gefühlt haben. Wie gut, dass es auch noch Narren gibt, über die man sich nicht ärgern muss, sondern über die man sich freuen kann, weil sie ausgerechnet im tristen November, am 11.11., um genau zu sein, ihr närrisches Treiben mit Musik, Tanz und humoristischen  Reden Spaß an der Freude sorgen.

Wie gut, dass es auch im Mülheimer Karneval noch jene Karnevalisten und Karnevalistinnen, die zum Sessionsauftakt in die Bütt steigen, um auch den politisch Mächtigen, die ja manchmal auch nur ohnmächtig sind, den Spiegel vorzuhalten. Wäre es nicht so und verkäme die Fünfte Jahreszeit zum reinen Partykarneval, wäre es ja auch zum närrisch werden.

Aber warum starten die Jecken ausgerechnet am 11.11. in ihre Session? Die Elf ist eben eine närrische Zahl. Als der rheinische Karneval vor 200 Jahren gesellschaftsfähig wurde, galt die ELF als Chiffre für die französische Revolutionslosung: Égalité, Liberté, Fraternité" "Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit." Der Karneval war im damaligen Deutschen Bund absolutistisch regierter Monarchien, ein Akt des zivilen Ungehorsams. Daran änderte auch die Tatsache nichts, dass das liberale Bürgertum. das nur zu gerne den Karneval feierte, weil dieser schon damals die Umsätze der Gastronomie ankurbelte, alles wollte, nur keine blutige Revolution a la Francaisé.

Deshalb machten die bürgerlichen Narren und Närrinen aus dem Karneval die Fastnacht, also die opulente, freizügige und fröhliche Zeit, in der man vor dem Beginn der vorösterlichen Fastenzeit am Aschermittwoch, wenn karnevalistisch alles vorbei ist, noch mal alle Fünfe gerade sein lassen, bzw. auf die närrische 11 zwischen den 10 Geboten des Alten und den 12 Aposteln des Neuen Testamentes setzen konnte, um gemeinsam Spiel, Spaß, Gemeinschaft und gute Laune zu erleben. Dabei wurde der bürgerliche Karneval anfangs ausschließlich in Gaststätten mit einem Festmahl und einer Spottrede gefeiert, für die der Hoppeditz oder der Hans Wurst anschließend mit einer Mettwurst belohnt wurde.

Zum Mülheimer Karneval

Samstag, 9. November 2024

Der denkwürdige 9. November

 Endlich mal ein Tag zum Feiern. Das war der 9. November 1989, als Günter Schabowskis "Versprecher" bei einer Pressekonferenz des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei die Mauer zum Einsturz brachte, ohne sich dafür einen Gewaltakt anzutun.

Natürlich wissen wir heute, das Schabowskis Versprecher nur der Tropfen war, der das politische Fass der SED-Diktatur überlaufen ließ.

Ohne die vielen mutigen Freiheitsdemonstranten auf den Leipziger Straßen den 9. Oktober 1989, ohne die Einsicht Gorbatschows in die Notwendigkeit systemimanenter Reformen im realexistierenden kommunistischen Ostblock, der im Herbst 1989 an allen Ecken und Enden zerbröselte, hätte es keinen 9. November 1989 und keinen 3. Oktober 1990 geben können. Daran ändern auch die unbestreitbaren Verdienste des damaligen wesetdeutschen Bundeskanzler Kohl und seines Außenministers Hans-Dietrich Genscher nichts. Hinzu kam zwischen dem 9. November 1989 und dem 3. Oktober 1990, dass der damalige amerikanische US-Präsident George Bush senior, ebenso wie sein sowjetischer Amtskollege erkannte, was die historische Stunde geschlagen hatte und danach handelte.

Den Frankreichs damaliger Staatspräsident Mitterand und die britische Premierministerin Thatcher, hätten  ohne die Achse Gorbatschow-Bush, auch nach dem 9. November 1989 nach der Devise gehandelt: "Wir lieben Deutschland so sehr, dass wir froh darüber sind, das es gleich zwei davon gibt. Dazu passte Mitterands Staatsbesuch in der nach dem Mauerfall politisch faktisch toten DDR.

Auch wenn Kohls Einheits-Euphorie der "blühenden Landschaften", in denen es niemanden schlechter, aber allen besser gehen werde, und die Transformation, ohne Steuererhöhungen, aus der bundesdeutschen Portokasse bezahlt werden könnten, die Vollendung der Deutschen Einheit ebenso bis heute belasten, wie die von der Treuhand, ohne Rücksicht auf Verluste durchgepeitschte Abwicklung der Volkseigenen Betriebe und Produktionsgenossenschaften in der nach dem 3. Oktober 1990 ehemaligen DDR. 

Auch bei der Währungsumstellung auf der Basis 1:1 wurden die sozialen und wirtschaftlichen Folgekosten der deutschen Wiedervereinigung nach mehr als 40 Jahren Teilung in Festtagsreden weggeredet.

Zugute halten muss man Kohl und Genscher, dass sie 1989/90 die Gunst der historischen Stunde, zum Beispiel in Form von Kohls Zehn-Punkte-Plan vom November 1989 erkannten und sofort nutzten, weil sie zurecht ahnten, dass sich das Zeitfenster für eine friedliche Wiedervereinigung schnell wieder schließen könnte. Das Gorbatschow schon im Jahr nach der Wiedervereinigung defacto weggeputscht wurde, bestätigte ihr Kalkül.

Zumindest zwischen dem November 1989 und dem Oktober 1990 blieb keine Zeit, alle Bedenkenträger zu überzeugen und in einer langwierigen Wiedervereinigungs- und Verfassungsdiskussion mitzunehmen.

Auch wenn die DDR am 9. November politisch, wirtschaftlich und moralisch bankrott war, wurden die sozialen Kompetenzen und ihre Erfahrungen einer friedlichen und von Zivilcourage getragenen Revolution nach dem 9. November 1989 zu wenig gewürdigt, ernstgenommen und im neuen gemeinsamen Deutschland sträflich vernachlässigt, ja ignoriert.

Auch wenn sich die staatlich gelenkte Planwirtschaft der DDR als nicht funktional erwiesen hat, hätten die DDR-Erfahrungen mit Krippen, Polykliniken, und genossenschaftlichen Betriebs- und Produktionsformen durch aus in der sozialen Marktwirtschaft liberaler und demokratischer Prägung, etwa im Sinne einer christlichen und humanistischen Sozialethik, gemeinwohlorientiert weiterentwickelt werden können.

35 Jahre danach leben wir in einer multipolaren und unübersichtlichen Welt, so dass man sich fast nach der eindeutigen Konflikt- und Friedensordnung des Kalten Krieges zurücksehnen könnte.

Wir müssen als Deutsche in Europa, siehe Trump und Co, erkennen, dass es Amerika heute nicht mehr besser hat und wir uns aif seinen transatlantischen Schutzschirm in internationalen Konfliktfällen nicht mehr verlassen können.

Allen anderslautenden Durchhalteparolen, ist die Europäische Union und die europäischen Nato-Staaten auf diese nicht ganz neue Realität und Einsicht nicht vorbereitet.

Kann man den 9. November 1989 als Glücksmoment der deutschen Geschichte und den 9. November 1918 als einen schmerzvollen, aber unvermeidlichen Transformationsprozess begreifen, so bleiben der 9. November 1923, als Hitler versuchte die Weimarer Republik wegzuputschen und der 9. November 1938, an dem die Judenverfolgung im nationalsozialistischen Deutschland einen ersten Höhepunkt erreichte, der die Tür zum Völkermord des Holocaust öffnete, unauslöschliche Tiefpunkte und Schandmale der deutschen Geschichte.

Doch wir haben, wenn auch spät, als Deutsche aus der Not eine Tugend gemacht und unsere Geschichte selbstkritischer aufgearbeitet und reflektiert, als manche andere Nationen.

Dabei konnten wir an das Erbe anknüpfen, das uns die Blutzeugen im deutschen Widerstand gegen Hitler hinterlassen haben. Staufenberg und Scholl sind nur zwei von vielen Namen, die in diesem Kontext uns bis heute als geistiger und moralischer Kompass dienen können.

Deshalb brauchen wird auch, anders, als von einigen Exponenten des politisch rechten Randes, keine Geschichtswende um 180 Grad. Die unvergleichlichen Menschheitsverbrechen, die zwischen 1933 und 1945 im deutschen Namen begangen worden sind, sind kein Vogelschiss der deutschen Geschichte, den mal wegwischen könnte. Sophie Scholl hat zurecht gemahnt: "Die Verbrechen, die heute im deutschen Namen begangen werden, werden uns noch in 1000 Jahren anhängen." Doch wenn wir auch aus den deunkelsten Kapiteln unserer Geschichte heute und für morgen lernen, dann kann uns die Geschichte zur Quelle der Stärke und der Erkenntnis werden und uns so davonabhalten, den Fehler unserer Vorfahren zu wiederholen und den scheinbar so einfachen Heilsversprechen politischer Extremisten mit absolutem Macht- und Wahrheitsanspruch zu folgen. Denn nicht nur im privaten, sondern auch im politischen Raum bleibt Erich Kästners Erkenntnis zeitlos aktuell: "Es geschieht nichts gutes, außer man tut es!"


Erinnern für heute und morgen

Schöne Straße?!

  Für die Mülheimer Presse und das neue Mülheimer Jahrbuch habe ich mich an 50 Jahre Schloßstraße erinnert. So alt bin ich also schon, dass ...